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Die New York Times und das schmutzige Geheimnis der amerikanisch-saudischen Beziehungen

Von David Walsh
2. November 2001
aus dem englischen (29. Oktober 2001)

Ein Leitartikel in der New York Times vom 14. Oktober ("Saudi-Arabien neu einschätzen") lüftet den Schleier von einem der schmutzigsten Geheimnisse der amerikanischen Außenpolitik: der mehr als fünfundzwanzigjährigen ekligen Beziehung Washingtons mit dem halbfeudalen saudi-arabischen Regime.

Die Herausgeber der Times, wie auch einige andere amerikanische Leitartikler und Politiker, haben sich in den letzten Tagen mit dem Problem der amerikanisch-saudischen Beziehungen beschäftigt, weil die Interessen der USA und der Saudis in der gegenwärtigen Krise in Konflikt geraten sind. Die Regierung in Riad hat das amerikanische Ersuchen abgelehnt, das Vermögen Osama bin Ladens und seiner Partner einzufrieren, und den USA verweigert, saudische Luftwaffenstützpunkte für Schläge gegen Afghanistan zu nutzen.

Es ist bekannt, dass Elemente im saudischen Establishment Verbindungen zu fundamentalistischen islamischen Gruppen haben, gegen die die US-Regierung Krieg führt.

Einem Artikel von Seymour Hersh in dem Magazin New Yorker zu Folge "hat amerikanische Geheimdienstoffiziere vor allem die Weigerung der Saudis geärgert, dem FBI und der CIA bei der Verfolgung von 'Spuren' - d.h. dem Abgleich von Namen und anderen Hintergrundinformationen - bezüglich der neunzehn Männer zu helfen, die an den Angriffen auf das World Trade Center und das Pentagon beteiligt waren; mehr als die Hälfte von ihnen soll aus Saudi-Arabien stammen."

Solche - völlig opportunistische - politische Überlegungen bestimmen den Zeitpunkt, zu dem sich die Times " etwas von der Seele schreibt". Die Leitartikler der Zeitung argumentieren für eine Neubewertung der Beziehungen Washingtons zu Saudi-Arabien und schreiben: "Jahrzehnte lang haben die Vereinigten Staaten und Saudi-Arabien von dem kaltblütigen Handel profitiert, der den Kern ihrer Beziehungen ausmachte. Amerika erhielt das Öl, das es brauchte, um seine Wirtschaft am Laufen zu halten, und Saudi-Arabien erhielt den Schutz der amerikanischen Militärmacht gegen seine gewalttätigen Nachbarn wie den Irak und den Iran."

Sie fahren fort: "Washingtons Unterstützung für die saudische Königsfamilie geht bis auf die Ära Franklin Roosevelts zurück. Es ging immer in erster Linie ums Öl, aber auch andere Faktoren haben eine Rolle gespielt: saudische Investitionen in amerikanische Schatzanleihen und der Kauf teurer amerikanischer Waffensysteme.... Bis jetzt hat der Strom von saudischem Öl und Geld ernsthafte Kritik an der alles durchdringenden Korruption der königlichen Familie, ihrer Verachtung für Demokratie und den schlimmen Menschenrechtsverletzungen, die in ihrem Namen begangen werden, in den USA fast nicht aufkommen lassen."

Das ist ein bemerkenswertes und vernichtendes Eingeständnis der reaktionären und destruktiven Rolle der USA im Nahen Osten. Die Herausgeber der Times erkennen an, dass die Politik der USA im Nahen Osten erstens von der rücksichtslosen Entschlossenheit bestimmt ist, die Ölvorräte der Region zu kontrollieren - und nicht von heuchlerischem Gerede über Frieden und Demokratie, das der Öffentlichkeit präsentiert werden.

Sie geben weiter zu, dass seine Versorgung mit Öl aus dem Nahen und Mittleren Osten auf eine Weise gesichert wurde, die katastrophale Folgen für das saudische Volk und die Völker der Region hat. Außerdem läuft die Erklärung der Times auf das Eingeständnis hinaus, dass der Golfkrieg 1991 geführt wurde, um das Regime in Riad (und den Ölfluss in die USA) vor Kräften zu schützen, die nationalistischer gesinnt sind.

Bewusst oder unbewusst beichtet die Times auch ihre eigene Komplizenschaft, weil sich aus dem Leitartikel vom 14. Oktober die offensichtliche Schlussfolgerung ergibt, dass sich die Zeitung völlig im klaren über das war, was sie jetzt als Amerikas "äußerst zynisches Verhältnis" zu Saudi-Arabien bezeichnet.

Spätestens seit dem Sturz der Diktatur des Schahs von Persien war die US-Politik im Nahen Osten von zwei grundlegenden Prinzipien bestimmt: Unterstützung für Israel bei der Unterdrückung der palästinensischen Massen und als Brückenkopf für seine imperialistischen Interessen, und Unterstützung der saudischen Monarchie.

Die letztere ist eine der übelsten Regierungen auf der Erde. Amnesty International schreibt über sie: "Geheimhaltung und Furcht durchdringen jeden Aspekt der staatlichen Struktur Saudi-Arabiens. Es gibt keine politischen Parteien, keine Wahlen, kein unabhängiges Parlament, keine Gewerkschaften, keinen Anwaltsverein, keine unabhängige Justiz und keine unabhängigen Menschenrechtsorganisationen. Jeder, der in Saudi-Arabien lebt und das System kritisiert, wird hart bestraft. Politische und religiöse Gegner der Regierung werden nach der Verhaftung für unbegrenzte Zeit ohne Prozess festgehalten oder nach völlig unfairen Prozessen eingesperrt. Folter ist allgegenwärtig. Fremdarbeiter sind ständig bedroht."

Saudi-Arabiens mittelalterliche Gesellschaftspolitik, die von einer religiösen Polizei durchgesetzt wird, unterscheidet sich nicht wesentlich von der, die die Taliban dem afghanischen Volk aufzwingen.

In einem Hintergrundbericht musste das US-Außenministerium 1998 selbst feststellen: "Trotz enger Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen sind die Vereinigten Staaten weiterhin besorgt über die Menschenrechtssituation in Saudi-Arabien. Grundlegende Menschenrechtsprobleme bestehen in folgenden Bereichen: Misshandlung von Gefangenen und Isolationshaft; Verbote oder strenge Restriktionen bei Meinungs- und Pressefreiheit, friedlicher Versammlung und Koalitions- und Religionsfreiheit; dem Volk wird das Recht verweigert, sich eine andere Regierung zu wählen; systematische Diskriminierung von Frauen, ethnischen und religiösen Minderheiten; und die Unterdrückung von Arbeiterrechten."

Amnesty International meldet für das Jahr 2000 über 123 Hinrichtungen in Saudi-Arabien, einige wegen Sodomie und Hexerei. 34 Amputationen wurden für das letzte Jahr gemeldet, davon waren sieben Überkreuzamputationen (der rechten Hand und des linken Fußes). Einem ägyptischen Staatsbürger wurde aufgrund einer Verurteilung durch ein Gericht in Medina das linke Auge operativ entfernt. Die Prügelstrafe wird noch häufig verhängt. Zwei Lehrer, die nach einer Demonstration in Najran verhaftet worden waren, wurden jeder zu 1.500 Peitschenhieben verurteilt; das Urteil wurde vor den Augen ihrer Familien, Schüler und anderer Lehrer vollstreckt. Folterung von Gefangenen, auch mit Elektroschocks, ist weit verbreitet.

Die Beziehungen zwischen der amerikanischen Regierung und der saudischen Königsfamilie gehen, wie die Times anmerkt, auf die Roosevelt-Ära zurück. Bilaterale Beziehungen zwischen den beiden Ländern wurden formell 1942 hergestellt. Die erste saudi-arabische Gesandtschaft in den USA wurde 1944 eröffnet, dem gleichen Jahr, in dem die Arabian American Oil Company (Aramco) gegründet wurde.

Ein Jahr später traf König Abdul Asis Al-Saud (bekannt als Ibn Saud) Franklin Roosevelt an Bord eines amerikanischen Kreuzers im Suezkanal. Die Saudis wurden von allen amerikanischen Regierungen hofiert. König Saud und Präsident Eisenhower trafen sich 1957 im Weißen Haus, und 1962 kam der König erneut in die USA, um mit John F. Kennedy zu konferieren. Saudische Monarchen führten Verhandlungen mit Lyndon B. Johnson, Richard Nixon und Jimmy Carter.

Dem Artikel von Seymour Hersh im New Yorker zu Folge war das saudische Regime eine "starke finanzielle Stütze der anti-kommunistischen Kampagne" der Reagan-Regierung in Lateinamerika und bei ihrer Destabilisierung der Sowjetunion durch die Unterstützung der islamischen Fundamentalisten in Afghanistan. Nicht umsonst bezeichnete Reagan 1985 bei einem Besuch von König Fahd (der, obwohl völlig regierungsunfähig, offiziell immer noch der Monarch ist) "die Freundschaft und Kooperation zwischen unseren Regierungen als wertvolle Juwelen, deren Wert wir niemals unterschätzen sollten."

Seit den 40er Jahren sind diese "wertvollen Juwelen" durch viele Millionen Barrel Petroleum geschmiert worden. Von 1945 bis 1974 stieg die Rohölförderung Saudi-Arabiens im Durchschnitt jährlich um 19 Prozent und erreichte 1974 acht Millionen Barrel pro Tag. Aramco schätzt, dass die saudi-arabischen Ölreserven 25 Prozent der weltweit bekannten Reserven ausmachen, eine Schätzung, die andere noch für konservativ halten.

1999 beliefert Saudi-Arabien, der weltweit führende Ölproduzent und -exporteur, die USA mit täglich 1,4 Millionen Barrel Öl, oder fast 16 Prozent der gesamten Rohölimporte der USA. Beziehungen zwischen der saudischen Elite und Figuren in der Regierung von George W. Bush (und der seines Vaters) sind gut dokumentiert. Hersh merkt an, dass Haliburton, der von Vizepräsident Dick Cheney geleitete Zulieferer der Ölindustrie, Ende letzten Jahres "mehrere Tochterfirmen in Saudi-Arabien betrieb".

Der Wert des amerikanisch-saudischen Handels ist enorm. Die Exporte der Saudis in die USA wurden 1999 auf 7,9 Mrd. Dollar geschätzt, und die Importe aus den USA auf 7,6 Mrd. Dollar. Diese Zahlen repräsentieren einen wechselseitigen Handel, bei dem Öl in die USA und Waffen zurück nach Saudi-Arabien fließen. Der Gesamtwert der US-Waffenlieferungen von 1950 bis 1997 betrug 94 Mrd. Dollar, die Lieferungen von 1991 bis 1997 alleine fast 23 Mrd. Dollar. Eine Mitteilung des Forschungsdienstes des Kongresses bezifferte das in Saudi-Arabien beschäftigte US-Personal (Militärpersonal und Bauunternehmen, die für das örtliche Militär arbeiten) auf 35.000 bis 40.000 Personen.

Die Waffen- und Militärhilfe der USA diente vor allem dem Schutz der korrupten königlichen Familie (die aus etwa 7000 Mitgliedern besteht und sich bis zu 40 Prozent der Öleinnahmen des Landes aneignet) vor inländischen und ausländischen Feinden.

So wie die Befreiung Kuwaits vor zehn Jahren der Vorwand für den Golfkrieg war, so sind die Verfolgung bin Ladens und die Auslöschung des "fundamentalistisch-islamischen Terrorismus" der Vorwand für den jetzigen Krieg. Die Argumente der Times -Herausgeber und der anderen Befürworter der Kriegspolitik der Bush-Regierung sind heuchlerisch und vordergründig. Warum sollte man der Times - oder irgendeinem anderen Teil der amerikanischen Medien - angesichts des Eingeständnisses, dass die Politik der USA gegenüber Saudi-Arabien immer zynisch und von der Gier nach Öl getrieben war, glauben, wenn sie den aktuellen Konflikt in Afghanistan aus den selbstlosesten Motiven heraus erklären? In Wirklichkeit dreht sich dieser Krieg um die Neuorganisation des Nahen und Mittleren Ostens und Zentralasiens - dem zweitwichtigsten Reservoir von Öl und Gas - im Interesse des amerikanischen Imperialismus.

Der Terroranschlag vom 11. September kann nicht einfach als das Werk von Bösewichten und Verrückten erklärt werden. Es war die zutiefst reaktionäre Antwort schwacher und politisch desorientierter nationalistischer Elemente auf die scheinbar übermächtige Stärke des Imperialismus, dessen mächtigster und aggressivster Vertreter die Vereinigten Staaten sind.

Die Krise der Arbeiterbewegung, das Vakuum bei ihrer revolutionären Führung, das in erster Linie die Folge der kriminellen Politik des Stalinismus ist (und nicht zuletzt seiner reaktionären Invasion in Afghanistan), haben zum Aufstieg des Fundamentalismus beigetragen. Während die Oktoberrevolution von 1917 eine belebende Wirkung auf die Region hatte, hat die sowjetische stalinistische Bürokratie das politische Kapital, das die Bolschewiki angehäuft hatten, in den folgenden Jahrzehnten durch ihre Praxis wieder vergeudet und eine sozialistische Alternative zu den halbfeudalen und bürgerlichen Ausbeutern sowie zu kolonialer und neokolonialer Beherrschung in Misskredit gebracht. Das hat sich der islamische Fundamentalismus vorüberhegend zu Nutze gemacht.

Vom Standpunkt der sozialen Physiognomie Saudi-Arabiens ist das Auftreten bin Ladens und von al Qaeda ein Anzeichen für tiefe Spaltungen in der Gesellschaft und besonders für den Unmut, den Teile der saudischen Bourgeoisie über ihren Kompradorenstatus gegenüber den USA empfinden. Al Quaeda drückt die Ansichten eines Teiles der herrschenden arabischen Elite aus. Sie verfügt über eine gewisse Unterstützung in den Mittelschichten und, in so weit die unterdrückten Massen keine sozialistische Alternative sehen, auch in der Arbeiterklasse und den am meisten verelendeten Schichten der Bevölkerung.

Der Leitartikel der Times bestätigt die grundlegende Tatsache, die das World Socialist Web Site immer wieder betont hat, dass in einem tieferen Sinn die Verantwortung für die Angriffe vom 11. September bei aufeinanderfolgenden US-Regierungen liegt, die gegenüber den Völkern der Region (Irakern, Palästinensern, Somaliern und anderen) eine brutale und aggressive Politik verfolgt haben, den islamischen Fundamentalismus angestachelt haben, wenn es ihnen nützlich erschien, und mit den korruptesten Elementen im Nahen Osten gute Beziehungen unterhielten.

Von einem grundlegenderen historischen Standpunkt aus ist die gegenwärtige Krise ein Erzeugnis des gesamten imperialistischen Systems, das auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln und dem Zwang zur Profitmaximierung, sowie auf der Verteidigung des Nationalstaatensystems beruht, in dessen Rahmen sich der Weltkapitalismus entwickelt hat. Dieses System mit seinen innewohnenden Ungerechtigkeiten, seiner Irrationalität und seinen explosiven Widersprüchen führt unvermeidlich zum Krieg.

Die Times sagt, die amerikanischen Beziehungen zu Saudi-Arabien müssten neu ausgerichtet werden. Das ist reine Sophisterei. Was die gegenwärtige Krise vielmehr auf die Tagesordnung bringt, ist die Überwindung des Imperialismus selbst. Diese Aufgabe kann nur erfüllt werden, wenn sich die Arbeiterklasse aller Länder vereint und für das Programm des internationalen Sozialismus kämpft.

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