Der Krieg in Afghanistan wurde lange vor dem 11. September geplant
Von Patrick Martin
22. November 2001
aus dem Englischen (20. November 2001)
Aus Insiderberichten, die in britischen, französischen und indischen Medien erschienen, geht hervor, dass Vertreter der amerikanischen Regierung Afghanistan bereits im Sommer dieses Jahres einen Krieg angedroht haben. In diesem Rahmen, so die Berichte, sei bereits im Juli angekündigt worden, dass "die Militäraktion gegebenenfalls vor dem ersten Schnee in Afghanistan, spätestens Mitte Oktober stattfinden werde". Tatsächlich begann die Bush-Regierung am 7. Oktober mit der Bombardierung des bedauernswerten verarmten Landes. Die Bodenangriffe der Sondereinsatztruppen der USA begannen am 19. Oktober.
Es ist kein Zufall, dass diese Enthüllungen nicht in den USA veröffentlicht wurden, denn die herrschenden Klassen der anderen Länder verfolgen eigene wirtschaftliche und politische Interessen. Diese decken sich nicht mit dem Bestreben der amerikanischen herrschenden Elite, das ölreiche Gebiet in Zentralasien unter ihre Kontrolle zu bringen, und stehen ihm bisweilen sogar direkt entgegen.
Die amerikanischen Medien haben die eigentlichen wirtschaftlichen und strategischen Interessen hinter dem Krieg gegen Afghanistan gezielt verschleiert, um den Anschein zu wahren, als ob der ganze Krieg quasi über Nacht als Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September entstanden sei.
Die Kommentatoren der amerikanischen Fernsehsender und großen Tageszeitungen feiern den schnellen militärischen Sieg über das Talibanregime als unerwarteten Glücksfall. Sie lenken die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von der offenkundigen Schlussfolgerung ab, die jeder ernsthafte Beobachter aus den Ereignissen der vergangenen zwei Wochen ziehen muss: Der rasche Sieg der von den USA unterstützten Verbände lässt auf eine sorgfältige Planung und Vorbereitung von Seiten des amerikanischen Militärs schließen, die bereits lange vor den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon eingesetzt haben muss.
Der offizielle amerikanische Mythos besagt, dass nach der Entführung von vier Passagierflugzeugen und der Ermordung von nahezu 5000 Menschen "nichts mehr wie vorher" gewesen sei. Die militärische Intervention der USA in Afghanistan wurde nach dieser Lesart in weniger als einem Monat hastig improvisiert. Der stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitz behauptete in einem Fernsehinterview vom 18. November sogar, dass die Planung des Militärangriffs nur drei Wochen beansprucht habe.
Dies ist nur eine der zahllosen Lügen des Pentagon und des Weißen Hauses über den Krieg gegen Afghanistan. In Wirklichkeit war die US-Intervention lange vor den Terroranschlägen, die den Vorwand zu ihrer praktischen Umsetzung lieferten, in allen Einzelheiten geplant und vorbereitet worden. Wenn die Geschichte den 11. September übersprungen hätte und es nie zu den Ereignissen jenes Tages gekommen wäre, dann hätten die USA aller Wahrscheinlichkeit nach trotzdem in Afghanistan einen Krieg begonnen, und zwar weitgehend nach demselben Zeitplan.
Afghanistan und die Jagd nach Öl
Die herrschende Elite in den USA hat seit mindestens zehn Jahren einen Krieg in Zentralasien in Erwägung gezogen. Bereits im Jahr 1991, nach der Niederlage des Irak im Golfkrieg, veröffentlichte das amerikanische Nachrichtenmagazin "Newsweek" einen Artikel unter der Überschrift: "Operation Steppenschild?" Darin wurde berichtet, dass das amerikanische Militär eine Unternehmung in Kasachstan vorbereite, die sich am Modell der "Operation Wüstenschild" in Saudi Arabien, Kuwait und Irak orientiere.
Die Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 eröffnete die Möglichkeit zur Ausdehnung des amerikanischen Einflusses nach Zentralasien, die Entdeckung riesiger Öl- und Gasreserven lieferte den Anreiz dazu. Zwar war die aserbaidschanische Küste des Kaspischen Meeres (Baku) bereits seit hundert Jahren ein Zentrum der Ölförderung gewesen, doch die riesigen neuen Reserven im Nordwesten (Kasachstan) und im Umfeld des Südwestens (Turkmenistan) des Kaspischen Beckens wurden erst während der vergangenen zehn Jahre entdeckt.
Die amerikanischen Ölgesellschaften haben sich die Rechte an nicht weniger als 75 Prozent der zu erwartenden Förderung aus diesen neuen Feldern gesichert, und US-Regierungsbeamte verweisen hoffnungsvoll auf das Kaspische Becken und Zentralasien als mögliche Alternative zur Abhängigkeit von den Ölvorkommen in der instabilen Region am Persischen Golf. Den Verträgen über Förderrechte folgte amerikanisches Militär. Im Jahr 1997 nahmen Sondereinsatztruppen der USA gemeinsame Manöver mit der Armee Kasachstans auf. Entsprechende Manöver mit Usbekistan begannen ein Jahr später. Trainiert wurden insbesondere Interventionen im gebirgigen Süden, wo sich Kirgisien, Tadschikistan und der Norden Afghanistans befinden.
Das Hauptproblem bei der Ausbeutung der Energieressourcen Zentralasiens besteht darin, das Öl und Gas aus dieser Region, die über keinen Zugang zu den Weltmeeren verfügt, auf den Weltmarkt zu bringen. Die amerikanische Regierung wollte dazu weder das russische Pipelinenetz benutzen noch den einfachsten Landweg, der quer durch den Iran zum Persischen Golf führen würde. Stattdessen erkundeten die Ölkonzerne und die Regierung der USA im Verlauf der letzten zehn Jahre eine Reihe alternativer Pipelinerouten - in westlicher Richtung durch Aserbaidschan, Georgien und die Türkei ans Mittelmeer, in östlicher Richtung durch Kasachstan und China zum Pazifik und, was hinsichtlich der gegenwärtigen Krise besonders bedeutsam ist, in südlicher Richtung durch Turkmenistan, Westafghanistan und Pakistan zum Indischen Ozean.
Der in den USA ansässige Ölkonzern Unocal setzte sich für einen Pipelineverlauf durch Afghanistan ein und führte intensive Verhandlungen mit dem Talibanregime. Als sich infolge der Bombenanschläge auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania, für die Osama bin Laden verantwortlich gemacht wurde, die Beziehungen zwischen den USA und Afghanistan verschlechterten, wurden diese Gespräche jedoch ergebnislos abgebrochen. Im August 1998 griff die Clinton-Regierung angebliche Ausbildungslager bin Ladens im Osten Afghanistans mit Marschflugkörpern an. Die US-Regierung forderte von den Taliban die Auslieferung bin Ladens und verhängte Wirtschaftssanktionen gegen das Land. Die Verhandlungen über Pipelines schleppten sich hin.
Versuche, die Taliban zu stürzen
Im Verlauf des Jahres 1999 erhöhten die USA kontinuierlich den Druck auf Afghanistan. Am 3. Februar jenes Jahres trafen sich der stellvertretende Außenminister, Karl E. Inderfurth, und der Leiter der Abteilung Terrorismusbekämpfung im Außenministerium, Michael Sheehan, in der pakistanische Hauptstadt Islamabad mit dem stellvertretenden Außenminister der Taliban, Abdul Jalil. Sie warnten ihn, dass die USA die Regierung Afghanistans für jegliche weitere Terroranschläge bin Ladens zur Rechenschaft ziehen würden.
Aus einem Bericht der "Washington Post" (3. Oktober 2001) geht hervor, dass die Clinton-Regierung und Nawaz Sharin, der damalige Präsident Pakistans, im Jahr 1999 eine gemeinsame Geheimoperation vereinbarten, um Osama bin Laden zu töten. Die USA sollten per Satellit gewonnene geheimdienstliche Erkenntnisse, Luftunterstützung und Geld beisteuern, während Pakistan der paschtunischen Sprache mächtige Agenten zur Verfügung stellen sollte, die in Südpakistan einsickern und den Mord ausführen würden.
Im Oktober 1999 war das pakistanische Kommando einsatzbereit, so die "Washington Post". Ein ehemaliger Regierungsbeamter hatte ihr gegenüber erklärt: "Das Unternehmen lief." Clintons Mitarbeiter berauschten sich an der Aussicht auf einen erfolgversprechenden Mordanschlag. "Es war wie Weihnachten", sagte einer.
Doch am 12. Oktober 1999 wurde Sharif durch einen Militärputsch von General Pervez Musharraf gestürzt. Die neue Regierung blies die geplante Geheimoperation ab. Die Clinton-Regierung musste sich mit einer Resolution des UN-Sicherheitsrates begnügen, die lediglich die Überstellung bin Ladens an "die zuständigen Behörden", nicht aber seine Auslieferung an die Vereinigten Staaten verlangte.
McFarlane und Abdul Haq
Im Jahr 2000 setzten die USA ihre gegen die Taliban gerichteten Umsturzversuche fort. Dies geht aus einem Bericht hervor, den die große amerikanische Tageszeitung "Wall Street Journal" am 2. November veröffentlichte. Er stammt von Robert McFarlane, dem ehemaligen nationalen Sicherheitsberater der Reagan-Regierung. Zwei reiche Spekulanten aus Chicago, Joseph und James Ritchie, hatten McFarlane angeheuert; er sollte ihnen helfen, unter den afghanischen Flüchtlingen in Pakistan Guerillakämpfer gegen die Taliban anzuwerben und zu organisieren. Ihr wichtigster afghanischer Verbindungsmann war Abdul Haq, der ehemalige Führer der Mudschaheddin, der im vergangenen Monat von den Taliban hingerichtet wurde, nachdem er erfolglos versucht hatte, in seiner Heimatprovinz einen Aufstand auszulösen.
McFarlane traf sich im Herbst und Winter des Jahres 2000 mehrmals mit Abdul Haq und anderen ehemaligen Mudschaheddin. Nach dem Amtsantritt der Bush-Regierung veranlasste McFarlane die Mitglieder der Republikanischen Partei, zu denen er Beziehungen pflegte, zu einer Reihe von Zusammenkünften mit Beamten des Außenministeriums, des Pentagons und sogar des Weißen Hauses. Alle unterstützten sie die Vorbereitung einer Militäraktion gegen die Taliban.
Während des Sommers, lange vor den Luftschlägen der USA, reiste James Ritchie mit Abdul Haq und Peter Tomsen nach Tadschikistan. Tomsen war während der Regierungszeit von Bush senior amerikanischer Sondergesandter für die afghanische Opposition gewesen. In Tadschikistan traf sich die Gruppe mit Ahmed Schah Massud, dem Führer der Nordallianz. Da letztere als einzige militärische Kraft den Taliban nach wie vor Widerstand leistete, sollten die kommenden, von Pakistan aus erfolgenden Angriffe mit ihr abstimmt werden.
Schließlich, so McFarlanes Darstellung, beschloss Abdul Haq "Mitte August, mit den Operationen in Afghanistan zu beginnen. Er kehrte in die pakistanische Stadt Peschawar zurück, um letzte Vorbereitungen zu treffen." Mit anderen Worten, diese Phase des Kriegs gegen Afghanistan war lange vor dem 11. September bereits in vollem Gange.
Die amerikanischen Medien stellen es so dar, als ob die Ritchies auf eigene Faust handelten, weil sie sich emotional mit Afghanistan verbunden fühlten. In den fünfziger Jahren hatten sie, weil ihr Vater als Bauingenieur dort tätig war, für kurze Zeit in Afghanistan gelebt. Zumindest ein Artikel vermutete allerdings doch einen Zusammenhang zwischen ihrem Engagement und den Gesprächen über Ölpipelines, die damals mit den Taliban geführt wurden. Im Jahr 1998 reiste James Ritchie nach Afghanistan, um mit den Taliban über die Förderung dort angesiedelter Kleinunternehmen zu verhandeln. In seiner Begleitung befand sich ein offizieller Vertreter des saudi-arabischen Ölkonzerns Delta Oil, der gemeinsam mit einer argentinischen Firma eine Gasleitung durch Afghanistan legen wollte.
Ein geheimer Krieg der CIA
McFarlane enthüllt diese Zusammenhänge im Rahmen heftiger Vorwürfe an die Adresse des amerikanischen Auslandsgeheimdienstes CIA. Dieser habe Abdul Haq "verraten", weil er seine Operationen in Afghanistan nicht unterstützte und ihn den Taliban in die Hände fallen ließ, die ihn umbrachten. Offenbar hielt die CIA sowohl McFarlane als auch Abdul Haq für äußerst unzuverlässig und führte unabhängig von diesen einen eigenen geheimen Krieg in der Südhälfte Afghanistans, wo die Mehrheit der Bevölkerung die paschtunische Sprache spricht.
Die "Washington Post" berichtete am 18. November auf ihrer Titelseite, dass die CIA bereits seit 1997 paramilitärische Operationen im Süden Afghanistans durchführe. Als Verfasser zeichnet Bob Woodward, ein durch die Watergate-Affäre berühmt gewordener Journalist der "Post", der häufig Informationen veröffentlicht, die aus den Führungsspitzen von Militär und Geheimdiensten durchgesickert sind.
Woodward nennt Einzelheiten über die Rolle der CIA in der gegenwärtigen militärischen Auseinandersetzung, in der auch eine paramilitärische Geheimabteilung, die Special Activities Division, eingesetzt wurde. Die Kampfhandlungen ihrer Einheiten begannen am 27. September. Sowohl Bodentruppen als auch mit Raketen bestückte ferngesteuerte Überwachungsflugzeuge kamen zum Einsatz.
Die Special Activities Division, berichtet Woodward, "ist aus Teams zusammengesetzt, die jeweils etwa ein halbes Dutzend Männer umfassen. Sie tragen keine Militäruniform. Die Abteilung verfügt über rund 150 Kämpfer, Piloten und Spezialisten. Sie besteht aus bewährten pensionierten Veteranen des US-Militärs.
Seit 18 Monaten arbeitet die CIA mit Stammensführern und Warlords im südlichen Afghanistan zusammen. Die Einheiten der Special Activities Division beteiligten sich am Aufbau eines umfassenden neuen Netzwerks in dieser Region, die das wichtigste Einflussgebiet der Taliban darstellt."
Die Spionageagentur der USA führte also seit dem Frühjahr 2000 Angriffe auf das afghanische Regime - ein Verhalten, das die amerikanische Regierung unter anderen Voraussetzungen als Terrorismus bezeichnen würde. Diese Angriffe gingen den Anschlägen, die das World Trade Center zum Einsturz brachten und das Pentagon beschädigten, demnach um mehr als ein Jahr voraus.
Die Kriegspläne nehmen Gestalt an
Nach der Amtseinführung von George Bush im Weißen Haus verlagerte sich der Schwerpunkt der amerikanischen Politik in Afghanistan. Es ging nicht länger um einen beschränkten Eingriff, mit dem bin Laden getötet oder gefangen genommen werden sollte, sondern um die Vorbereitung einer handfesten Militärintervention gegen das Talibanregime als Ganzes.
Die in Großbritannien erscheinende militärstrategische Fachzeitschrift "Jane's International Security" berichtete am 15. März 2001, dass die neue amerikanische Regierung gemeinsam mit Indien, Iran und Russland "eine gemeinsame Front gegen das Talibanregime in Afghanistan" aufbaue. Indien stelle der Nordallianz militärisches Gerät, Berater und Hubschraubertechniker zur Verfügung, und sowohl Indien als auch Russland benutzten Stützpunkte in Tadschikistan und Usbekistan für ihre Operationen.
Die Zeitschrift ergänzte: "Mehrere Sitzungen der gemeinsamen Arbeitsgruppen zu Fragen des Terrorismus, die zwischen Indien und den USA sowie zwischen Indien und Russland gebildet wurden, gingen dieser taktischen und logistischen Gegenoffensive gegen die Taliban voraus. Aus Geheimdienstkreisen in Delhi verlautet, dass Indien, Russland und der Iran den Kampf gegen die Taliban am Boden führen, während Washington der Nordallianz Informationen und logistische Unterstützung zur Verfügung stellt."
Am 23. Mai gab das Weiße Haus bekannt, dass Zalmay Khalilzad zum Nationalen Sicherheitsberater ernannt worden sei. Er solle dem Präsidenten als besonderer Berater und verantwortlicher Leiter für die Themenbereiche Persischer Golf, Südwestasien und sonstige regionale Fragen dienen. Khalilzad hatte bereits unter den Präsidenten Reagan und Bush senior Regierungsfunktionen bekleidet. Nach seinem Ausscheiden aus diesen Ämtern hatte er eine Stellung bei Unocal angetreten.
Am 26. Juni dieses Jahres brachte die Zeitschrift "IndiaReacts" weitere Einzelheiten über das gemeinsame Vorgehen der USA, Indiens, Russlands und des Iran gegen das Talibanregime. "Indien und Iran werden den USA und Russland bei einem beschränkten Militärschlag' gegen die Taliban beistehen', wenn die angestrebten harten neuen Wirtschaftssanktionen das fundamentalistische Regime in Afghanistan nicht in die Knie zwingen", schrieb sie.
In diesem Stadium der militärischen Planungen war vorgesehen, dass die USA und Russland der Nordallianz über Usbekistan und Tadschikistan direkte militärische Unterstützung leisten würden, um die Talibanfront in Richtung der Stadt Mazar-e-Sharif zurückzudrängen. Dieses Szenario erinnert natürlich auffallend an die Ereignisse der vergangenen zwei Wochen. Ein ungenanntes drittes Land belieferte die Nordallianz mit Panzerabwehrraketen, die bereits Anfang Juni gegen die Taliban eingesetzt wurden.
"Aussagen von Diplomaten zufolge erfolgte das Vorgehen gegen die Taliban nach einer Zusammenkunft des amerikanischen Außenministers Colin Powell mit dem russischen Außenminister Igor Iwanow sowie nach einem späteren Treffen Powells mit dem indischen Außenminister Jaswant Sing in Washington", ergänzte die Zeitschrift. "Auch Russland, Iran und Indien haben eine Reihe von Gesprächen geführt, und man rechnet mit weiteren diplomatischen Aktivitäten."
Im Gegensatz zu dem heutigen militärischen Vorgehen sollten dem ursprünglichen Plan zufolge Truppen aus Usbekistan und Tadschikistan sowie aus Russland selbst eingesetzt werden. Laut den Berichten von "IndiaReacts" erklärte der russische Präsident Wladimir Putin Anfang Juni auf einer Versammlung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, der viele der ehemaligen Sowjetrepubliken angehören, dass ein Militärschlag gegen die Taliban bevorstehe. Die Ereignisse vom 11. September schufen die Voraussetzungen für eine unabhängige Intervention der Vereinigten Staaten selbst, an der sich die Truppen der Nachfolgestaaten der Sowjetunion nicht direkt beteiligten. Infolgedessen kann nun Amerika unangefochten Anspruch darauf erheben, die künftige Ordnung Afghanistans zu diktieren.
Die USA drohen mit Krieg - vor dem 11. September
Unmittelbar nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon erschienen in den britischen Medien zwei Berichte, aus denen hervorging, dass die amerikanische Regierung schon mehrere Monate vor dem 11. September militärische Maßnahmen gegen Afghanistan angedroht hatte.
Der BBC-Reporter George Arney berichtete am 18. September, dass amerikanische Regierungsbeamte den ehemaligen pakistanischen Außenminister Niaz Naik Mitte Juli über Pläne für einen Militärschlag gegen das Talibanregime unterrichtet hätten:
"Mr. Naik zufolge unterrichteten ihn US-Beamte über den Plan einer internationalen Kontaktgruppe, die sich unter der Schirmherrschaft der UN in Berlin getroffen hatte.
Wie Mr. Naik gegenüber der BBC berichtete, kündigten ihm die Vertreter der USA auf diesem Treffen an, dass Amerika militärische Mittel einsetzen würde, um sowohl bin Laden als auch den Talibanführer Mullah Omar zu töten oder gefangen zu nehmen, falls bin Laden nicht kurzfristig ausgeliefert würde.
Ihr Gesamtziel bestand nach Angaben von Mr. Naik darin, das Talibanregime zu stürzen und durch eine gemäßigte Übergangsregierung zu ersetzen, die eventuell von dem ehemaligen König Zahir Schah geführt werden könnte.
Man setzte Mr. Naik davon in Kenntnis, dass Washington seine Operationen von Stützpunkten in Tadschikistan aus unternehmen werde. Amerikanische Berater seien bereits vor Ort.
Man sagte ihm, dass auch Usbekistan an der Operation teilnehmen werde und dass 17.000 russische Soldaten einsatzbereit seien.
Weiter erfuhr Mr. Naik, dass die Militäraktion gegebenenfalls vor dem ersten Schnee in Afghanistan, spätestens Mitte Oktober stattfinden werde."
Vier Tage später, am 22. September, bestätigte die große britische Zeitung "Guardian" diese Darstellung. Die Warnungen an Afghanistan erfolgten Mitte Juli im Rahmen einer viertägigen Zusammenkunft hochrangiger Vertreter der amerikanischen, russischen, iranischen und pakistanischen Regierung in einem Berliner Hotel. Es war das dritte Treffen im Rahmen einer Reihe inoffizieller Konferenzen, die unter der Bezeichnung "Brainstorming über Afghanistan" liefen.
Die Teilnehmer waren Naik nebst drei pakistanischen Generälen, der ehemalige iranische Botschafter bei den Vereinten Nationen Sayid Rajai Khorassani, der Außenminister der Nordallianz Abdullah Abdullah, der ehemalige russische Sondergesandte für Afghanistan Nikolai Kosyrew und mehrere weitere Vertreter Russlands, sowie drei Amerikaner: der ehemalige US-Botschafter in Pakistan Tom Simons, der ehemalige stellvertretende Außenminister für südasiatische Angelegenheiten Karl Inderfurth und Lee Coldren, der bis 1997 die für Pakistan, Afghanistan und Bangladesch zuständige Abteilung des Außenministeriums geleitet hatte.
Francesc Vendrell, der damalige und heutige UN-Beauftragte für Afghanistan, hatte das Treffen einberufen. Offiziell sollte die Konferenz über mögliche Formen einer politischen Lösung für Afghanistan verhandeln, doch die Taliban weigerten sich daran teilzunehmen. Die Amerikaner erläuterten, wie sich ihre Afghanistan-Politik mit dem Wechsel von Clinton zu Bush verändern werde, und ließen unmissverständlich durchblicken, dass auch ein militärisches Vorgehen erwogen werde.
Die drei ehemaligen Angehörigen der amerikanischen Regierung bestritten zwar ausnahmslos, dass sie irgendwelche erkennbaren Drohungen geäußert hätten, doch Coldren erklärte gegenüber dem "Guardian": "Man sprach darüber, dass der Unmut der Vereinigten Staaten über Afghanistan so groß war, dass sie ein militärisches Vorgehen in Erwägung ziehen könnten." Naik führte seinerseits die Aussage eines Amerikaners an, wonach ein Vorgehen gegen bin Laden unmittelbar bevorstehe: "Diesmal waren sie ganz sicher. Sie verfügten über zahlreiche geheimdienstliche Erkenntnisse und waren sicher, dass sie ihn nicht verfehlen würden. Es sollte eine Aktion aus der Luft geben, vielleicht mit Kampfhubschraubern. Sie sollte nicht nur offen, sondern auch aus nächster Nähe zu Afghanistan erfolgen."
Der "Guardian" fasste zusammen: "Die Kriegsdrohungen für den Fall, dass die Taliban Osama bin Laden nicht auslieferten, wurden dem Regime in Afghanistan durch die pakistanische Regierung übermittelt, wie gestern aus hochrangigen diplomatischen Quellen zu erfahren war. Die Taliban weigerten sich, der Aufforderung nachzukommen, doch die Schärfe der Äußerungen, die ihnen übermittelt wurden, lässt es möglich erscheinen, dass bin Laden die Angriffe auf das World Trade Center in New York und auf das Pentagon vor zehn Tagen durchaus nicht aus heiterem Himmel heraus unternahm, sondern als Präventivschlag auf vermeintliche Drohungen der USA hin."
Bush, das Öl und die Taliban
Ein Buch mit dem Titel "Bin Laden, die verbotene Wahrheit", das am 15. November in Frankreich erschien, enthält weitere Informationen über geheime Kontakte zwischen der Bush-Regierung und dem Talibanregime. Die Autoren sind Jean-Charles Brisard und Guillaume Dasquie. Brisard ist ein ehemaliger französischer Geheimagent, der bereits früher einen Bericht über bin Ladens Al-Qaida-Netzwerk verfasst hat, und ehemaliger Leiter der Strategieabteilung des französischen Konzerns Vivendi. Dasquie ist ein Journalist, der sich auf Enthüllungen spezialisiert hat.
Diese beiden Autoren schreiben, dass die Bush-Regierung ungeachtet ihrer Vorwürfe an die Taliban, sie unterstützten den Terrorismus, bereit gewesen sei, sich mit ihrem Regime abzufinden, falls es im Hinblick auf die Ausbeutung der Ölvorkommen in Zentralasien kooperationsbereit sei.
Bis zum August betrachtete die US-Regierung nach Einschätzung von Brisard und Dasquie die Taliban "als Garanten der Stabilität in Zentralasien" und ging davon aus, dass sie "den Bau einer Ölpipeline durch Zentralasien ermöglichen würden". Erst als die Taliban nicht auf die Bedingungen der USA eingingen, sei "das Motiv der sicheren Energieversorgung in ein Motiv für Militäraktionen umgeschlagen".
Nebenbei soll vermerkt werden, dass weder die Clinton- noch die Bush-Regierung Afghanistan jemals auf die offizielle Liste derjenigen Staaten setzten, denen Unterstützung des Terrorismus zur Last gelegt wird, obwohl das Talibanregime zugab, dass sich bin Laden als Gast in seinem Land aufhielt. Aber eine solche Klassifizierung hätte es den amerikanischen Öl- und Baufirmen von vornherein unmöglich gemacht, mit Kabul ein Abkommen über eine Pipeline zu den zentralasiatischen Öl- und Gasfeldern zu unterzeichnen.
Die Gespräche zwischen der Bush-Regierung und den Taliban begannen im Februar 2001, kurz nach Bushs Amtseinführung. Im März traf ein Gesandter der Taliban in Washington ein und überreichte dem neuen Chef Geschenke, zum Beispiel einen wertvollen afghanischen Teppich. Doch die Gespräche waren alles andere als herzlich. Brisard sagte: "Einmal erklärten die Vertreter der USA den Taliban während der Verhandlungen: Entweder ihr nehmt unser Angebot an, dann rollen wir Euch einen goldenen Teppich aus, oder aber wir begraben Euch unter einem Bombenteppich."
So lange eine Einigung über eine Pipeline nicht ausgeschlossen schien, stellte das Weiße Haus weitere Ermittlungen über die Aktivitäten Osama bin Ladens zurück, schreiben Brisard und Dasquie. Sie berichten weiter, dass John O'Neill, der stellvertretende Direktor des FBI, im Juli aus Protest gegen diese Behinderung seiner Tätigkeit zurücktrat. O'Neill äußerte den Autoren gegenüber in einem Interview: "Das größte Hindernis für die Ermittlungen gegen den islamischen Terrorismus waren die Interessen der amerikanischen Ölkonzerne und die Rolle Saudi Arabiens in diesem Zusammenhang." Ein seltsamer Zufall wollte es, dass O'Neill nach seinem Ausscheiden aus der CIA die Stellung des Sicherheitschefs für das World Trade Center annahm und am 11. September ums Leben kam.
Die beiden französischen Autoren bestätigen Niaz Naiks Darstellung des Geheimtreffens in Berlin und ergänzen, es sei offen besprochen worden, dass die Taliban den Bau einer Pipeline aus Kasachstan erleichtern müssten, um als Gegenleistung von den USA und auf internationaler Ebene anerkannt zu werden. Die Atmosphäre der Gespräche zwischen den USA und den Taliban verschlechterte sich zusehends, bis sie am 2. August nach einem letzten Treffen der US-Abgesandten Christina Rocca mit einem Vertreter der Taliban in Islamabad schließlich eingestellt wurden. Zwei Monate später fielen die ersten amerikanischen Bomben auf Kabul.
Die Politik der Provokation
Die bisherige Zusammenfassung der Kriegsvorbereitungen gegen Afghanistan bringt uns nun zum 11. September. Die Terroranschläge, die das World Trade Center zum Einsturz brachten und das Pentagon beschädigten, waren ein wichtiges Glied in der Kausalkette, die zum Angriff der USA auf Afghanistan führte. Die amerikanische Regierung hatte den Krieg von langer Hand vorbereitet, doch erst der Schock des 11. September ermöglichte seine politische Umsetzung, indem er die öffentliche Meinung im eigenen Land betäubte und Washington ein wichtiges Druckmittel gegen zögernde Bündnispartner im Ausland an die Hand gab.
Sowohl die Öffentlichkeit innerhalb von Amerika als auch Dutzende Regierungen im Ausland wurden ultimativ aufgefordert, im Namen des Kampfs gegen den Terrorismus den Militärangriff auf Afghanistan zu unterstützen. Die Bush-Regierung nahm Kabul ins Visier, ohne den geringsten Beweis dafür vorzulegen, dass bin Laden oder die Taliban tatsächlich für den schrecklichen Anschlag auf das World Trade Center verantwortlich waren. Sie stürzte sich regelrecht auf die Ereignisse des 11. September, um lang gehegte amerikanische Machtambitionen in Zentralasien zu stillen.
Es besteht kein Grund zu der Annahme, dass die Ereignisse des 11. September einfach nur von ungefähr kamen. Sämtliche übrigen Einzelheiten des Kriegs in Afghanistan sind minutiös geplant worden. Es ist unwahrscheinlich, dass die amerikanische Regierung das Problem eines geeigneten Vorwands für militärische Aktionen dem Zufall überließ.
Unmittelbar nach dem 11. September berichteten - insbesondere außerhalb der USA - verschiedene Zeitungen darüber, dass die Geheimdienste der USA präzise Warnungen vor groß angelegten Terroranschlägen erhalten hätten. In diesem Zusammenhang sei auch vom Einsatz entführter Flugzeuge die Rede gewesen. Es ist durchaus möglich, dass in der amerikanischen Regierung auf höchster Ebene beschlossen wurde, einen solchen Angriff nicht zu verhindern, weil er als notwendiger Anlass für den Krieg gegen Afghanistan dienen könnte. Dabei waren sich die Verantwortlichen möglicherweise über das Ausmaß des bevorstehenden Schadens nicht im Klaren.
Wie anders soll man die unbestrittene Tatsache erklären, dass die Führungskräfte des FBI Ermittlungen gegen Zaccarias Massaoui verhinderten, obwohl der französisch-marokkanische Einwanderer unter Verdacht geriet, weil er bei einer Flugschule in den USA lediglich darin ausgebildet werden wollte, wie man ein Passagierflugzeug lenkt, ohne sich für Start oder Landung zu interessieren?
Die Außenstelle des FBI in Minneapolis hatte Massaoui Ende August verhaftet und das FBI-Hauptquartier um die Genehmigung weiterer Ermittlungen ersucht, beispielsweise sollte die Festplatte seines Computers durchsucht werden. Die Führungsspitze des FBI lehnte diesen Antrag mit der Begründung ab, dass nicht genügend Hinweise auf kriminelle Absichten Massaouis vorlägen - eine erstaunliche Entscheidung, wenn man bedenkt, dass diese Agentur mit den Bürgerrechten ansonsten nicht gerade zimperlich umgeht.
Damit soll nicht behauptet werden, dass die amerikanische Regierung die Terroranschläge im Einzelnen bewusst geplant oder im Voraus gewusst habe, dass nahezu 5000 Menschen getötet werden würden. Im höchsten Maße unglaubwürdig ist allerdings die offizielle Erklärung für den 11. September, die da lautet: Ein Dutzend islamische Fundamentalisten, deren Verbindungen zu bin Laden größtenteils bekannt waren, konnten von drei Kontinenten aus eine umfassende Verschwörung bilden und das bekannteste Machtsymbol Amerikas ins Visier nehmen, ohne dass irgendein amerikanischer Geheimdienst irgendetwas merkte.