Weshalb die USA den TV-Sender al-Jazeera in Kabul bombardierten
Von Steve James
28. November 2001
aus dem Englischen (21. November 2001)
Kurz vor dem Einmarsch der Nordallianz in Kabul am Montag, den 12. November, warfen amerikanische Flugzeuge eine 500-Pfund-Bombe auf die Studios des beliebten arabischen Satelliten-Fernsehsenders al-Jazeera (die Halbinsel). Niemand wurde verletzt: keiner der zehn dort stationierten Journalisten und Techniker von al-Jazeera befand sich zur Zeit im Gebäude, weil bereits entschieden war, das Gebäude noch vor Ankunft der Nordallianz in Kabul zu evakuieren. Durch den gleichen Bombenangriff wurden auch die benachbarten Büros von BBC und Associated Press beschädigt.
Unmittelbar nach diesem Angriff erklärte der Londoner Bürochef des Senders, Muftah Al Suwaidan, der Zeitung The Guardian: "Das Büro von al-Jazeera befindet sich im Herzen von Kabul. Das Gebäude wurde als einziges getroffen, das Ganze sieht nach Absicht aus." Der Direktor des Senders, Mohammed Jassim al-Ali, erklärte, dass die USA vorher darüber informiert worden seien, wo al-Jazeera liegt.
Der Sender al-Jazeera hat sich durch seine kritische Berichterstattung über den US-Krieg in Afghanistan die Feindschaft Washingtons zugezogen, und ganz besonders durch die Veröffentlichung von Interviews mit Osama bin Laden und anderen al-Quaida Führern. Weil dies auf die öffentliche Meinung in muslimischen Ländern starken Eindruck machte, hatten westliche Medien und Politiker bereits gewarnt, dass die USA ihren Propagandakrieg verlieren könnten. Es scheint, dass die USA zum Schluss gekommen sind, der beste Weg, diese Schlacht um die Herzen und Hirne zu gewinnen, sei die Eliminierung ihrer Kritiker.
Die Zerstörung der al-Jazeera Studios noch vor Einmarsch der Nordallianz in Kabul sollte verhindern, dass Berichte über mögliche Massaker und Repressionen nach außen dringen. Nach dem Bombenangriff wurde Tasir Alouni, der Korrespondent des Senders in Kabul, der durch seine Berichte über die Auswirkungen der amerikanischen Bombenangriffe weltweit bekannt wurde, von den eindringenden Nordallianztruppen aufgegriffen und misshandelt. Erst nach einer Intervention von paschtunischen Gruppen wurde er wieder entlassen. Alouni war durch diese Erfahrung so traumatisiert, dass er später sagte, er habe "Szenen erlebt, die ich, so leid es mir tut, keinem beschreiben könnte". Später schilderte er aus Ostafghanistan über Rundfunk sein Erlebnis als "einen tiefen psychologischen Schock".
Die Bombardierung des Büros in Kabul ist nicht der einzige Versuch, den Washington unternahm, um al-Jazeeras Nachrichtensendungen und Reportagen zu unterbinden.
Am 14. November wurde der Washingtoner Korrespondent des Senders, Mohammad al-Alami, am Flughafen Waco verhaftet, als er versuchte, über das Gipfeltreffen von George W. Bush mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zu berichten. Al-Amani beschrieb, wie die Daten seiner Kreditkarte, die er für sein Ticket nach Waco angeben musste, dazu benutzt wurden, um Zahlungen in Afghanistan aufzuspüren. Als Al-Alami versuchte, den Flughafen von Waco zu verlassen, wurde er von mit M-16-Gewehren bewaffneten Polizisten verhaftet und erst später wieder freigelassen.
Die USA haben widersprüchliche Erklärungen über die Bombardierung des Senders al-Jazeera abgegeben. Auf einer Pressekonferenz des Verteidigungsministeriums am 14. November erklärte Konteradmiral Craig R. Quigley einem Journalisten von al-Jazeera, die Bombardierung sei ein "Versehen" gewesen, eine Waffe sei quer geschossen. Auf die Frage, ob die USA nicht wisse, wo in Kabul die Räumlichkeiten von al-Jazeera, BBC und Associated Press gelegen seien, antwortete Quigley ausweichend: "Ich wüsste nicht, dass wir das wissen." Oberst Rick Thomas, der für das US-Zentralkommando mit CBS sprach, behauptete, dieses Gebäude sei "ein bekannter Al Quaida Stützpunkt in Kabul" gewesen. "Wir hatten keine Informationen darüber, dass al-Jazeera diese oder andere Anlagen in der Nähe benutzte. Wir hatten zwei Gebäude in Kabul identifiziert, wo Leute von al-Jazeera arbeiteten, aber dieses Haus war nicht dabei."
Am 17. November beschuldigte der Leiter der arabischen Ausgabe von al-Jazeera, Ibrahim Hilal, die USA ein weiteres Mal der absichtlichen Zerstörung des Kabuler Büros des Senders. Hilal sagte, dass die Sendestation die ganze Zeit seit Beginn der Angriffe auf einer Liste für mögliche US-Ziele gestanden habe, und dass die Übermittlungen zwischen Kabul und der Hauptzentrale des Senders im Emirat Katar regelmäßig vom US-Geheimdienst aufgezeichnet würden.
Die Möglichkeit, dass es Bestandteil der US-Kriegspolitik sein könnte, Nachrichtenquellen absichtlich zu zerstören, kam auch auf der Newsworld-Konferenz zur Sprache, zu der sich kürzlich Leiter von Medienunternehmen in Barcelona versammelt haben. Der Korrespondent von BBC World, Nik Gowing, drückte die verbreitete Sorge vieler Journalisten aus, als er der Konferenz sagte: "Es scheint mir einiges dafür zu sprechen, dass das Pentagon bewusst auf Medien zielt.... Es scheint legitim zu sein, Leute aufs Korn zu nehmen, die journalistisches Material [über Satellit] übermitteln." "Al-Jazeera hat Material veröffentlicht, das äußerst unbequem war," ergänzte Gowing und verglich den Angriff auf al-Jazeera mit der Bombardierung des Serbischen Fernsehens in Belgrad durch die USA im Jahr 1999.
Colonel Hoey, der in Barcelona für das US-Militär sprach, vertrat die Linie von Konteradmiral Quigley, dass dem US-Militär die Koordinaten des al-Jazeera Gebäudes nicht bekannt gewesen seien. Auf jeden Fall "will die US-Armee nicht auf Medien zielen und wird das auch nicht tun," fügte er hinzu. "Es ist nicht unsere Politik, auf Medienorganisationen zu zielen - das wäre auch im Ansatz nicht sinnvoll."
Aber wie Gowing's Bemerkungen deutlich machten, hat die USA mit al-Jazeera nicht zum ersten Mal eine Fernseh-Station bombardiert, die Berichte veröffentlichte, die der offiziellen Pentagon-Propaganda über "gezielte Schläge" und "begrenzte Kollateralschäden" zuwiderliefen.
Am 23. April 1999 zerstörten amerikanische Cruise Missiles auf dem Höhepunkt der NATO-Bombardierung von Belgrad die Zentrale der Serbischen Radio-Television (RTS). Dreizehn Journalisten und andere Beschäftigte wurden getötet und viele weitere verletzt. RTS war mit 7.000 Beschäftigten der größte TV-Sender auf dem Balkan, und hatte internationalen Nachrichtenagenturen Filmmaterial und Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt, um sicherzustellen, dass die Weltbevölkerung wenigstens etwas davon mitbekommt, was der serbischen Bevölkerung angetan wird. Dem Angriff war die wochenlange Zerstörung sämtlicher Sendeanlagen und privater TV-Stationen in Serbien vorausgegangen, und ein Ultimatum des NATO-Luftkommandanten David Wilby, der Sendezeiten forderte, um den Zuschauern von RTS die Version der NATO zu präsentieren. Anscheinend hatten RTS und die Belgrader Regierung von Slobodan Milosevic zugestimmt, sechs Stunden NATO-Propaganda zu senden, wenn im Gegenzug sechs Minuten jugoslawische Nachrichten über die europäischen und amerikanischen Sender laufen konnten. Trotzdem bombardierte die NATO darauf die RTS, wobei sich US-General Wesley Clarke über die Einwände anderer NATO-Regierungen hinwegsetzte.
Al-Jazeera spielt seit Jahren eine Rolle in den Plänen Washingtons für den Nahen Osten und geriet ins Fadenkreuz der USA, weil er mit seinen unabhängigen und umfassenden Berichterstattung über die Nahostpolitik den Zorn Amerikas erregte. Seit seiner Gründung 1996 hat al-Jazeera ein wachsendes Publikum in Nordafrika und dem Nahen Osten gewonnen und den Unmut politischer Führer von Algerien bis Saudi-Arabien auf sich gezogen.
Der Sender vertritt im allgemeinen eine pan-arabisch nationalistische Linie und wird von der Regierung von Katar gelegentlich als politisches Sprachrohr benutzt. Dennoch gibt der Sender an, dass seine Beschäftigten aus einem weiten politischen Spektrum stammen, und seine beliebtesten Sendungen sind politische Debatten und Talk-Shows, die die verschiedensten Fragen der Nahostpolitik abdecken - und offene Diskussionen zwischen islamischen Fundamentalisten, Liberalen, sowie Unterstützern und Gegnern des Nahost-Friedensprozess zulassen.
Die Jerusalem Post geht davon aus, dass im Gazastreifen vierzig Prozent der Einwohner al-Jazeera schauen, weil der Sender regelmäßig Menschenrechtsverletzungen anprangert, Live-Berichte über Unruhen bringt, das Thema Frauenrechte unter dem Islam anschneidet und die Regierungsparteien in einer Region kritisiert, wo die meisten Medien unter direkter staatlicher Kontrolle stehen.
Letztes Jahr stellte das Washingtoner Institut für Nahostpolitik den wachsenden Einfluss des Satellitenfernsehens in der Region fest: "Vom Atlantik bis zum Indischen Ozean sorgen sich arabische Regierungen über ihren Verlust an Kontrolle über die Informationen, die sie in der Vergangenheit als eins der wichtigsten Mittel benutzt haben, um sich an der Macht zu halten. Diplomaten der Region haben das Phänomen den al-Jazeera-Effekt genannt."
Anfang Oktober verlangte US-Außenminister Colin Powell vom Emir von Katar, der den Sender teilweise finanziert, dessen redaktionelle Linie besser im Zaum zu halten. Al-Jazeera reagierte darauf mit der Veröffentlichung dieser Forderung.