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Bundesregierung beschließt größten Militäreinsatz seit dem Zweiten Weltkrieg

Von Peter Schwarz
10. November 2001

Mit dem Beschluss, 3.900 Bundeswehrsoldaten für den militärischen Kampf "gegen den internationalen Terrorismus" bereitzustellen, führt die rot-grüne Bundesregierung Deutschland in einen Krieg, dessen Ausmaße, Dauer und Folgen völlig unabsehbar sind.

Die Kabinettsbeschluss, dem der Bundestag nächste Woche zustimmen soll, ermächtigt die Regierung für die Dauer eines Jahres militärische Einsätze durchzuführen, ohne den Zeitpunkt, die Gegner, das Einsatzgebiet, die Zahl der jeweils eingesetzten Soldaten und die Operationen, an denen sie teilhaben sollen, konkret festzulegen. Die Regierung erhält eine Blankovollmacht, das Parlament entmündigt sich selbst.

Der Beschluss ist beispiellos in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Galten bis zur Wiedervereinigung alle Militäreinsätze, die nicht der territorialen Verteidigung Deutschlands oder des Nato-Bündnisses gegen einen äußeren Angreifer dienten, als verfassungswidrig, so ebnete das Bundesverfassungsgericht 1994 in einem aufsehenerregenden Urteil den Weg für Kampfeinsätze auch außerhalb des Bündnisgebietes. Doch selbst in diesem Urteil wurde festgelegt, dass jeder Einsatz der Zustimmung des Bundestags bedarf - eine Bestimmung, die jetzt ebenso ausgehebelt wird, wie die bisherige Beschränkung bewaffneter Einsätze auf Gebiete in unmittelbarer Nachbarschaft zur Nato, wie den Balkan.

Das im Beschluss der Bundesregierung genannte Einsatzgebiet umfasst den halben Globus. Neben dem Territorium sämtlicher Nato-Mitglieder einschließlich der USA und der Türkei werden namentlich genannt "die arabische Halbinsel, Mittel- und Zentralasien und Nord-Ost-Afrika sowie die angrenzenden Seegebiete".

Das größte Kontingent - ca. 1.800 Mann Seestreitkräfte einschließlich Seeluftstreitkräfte - soll laut Bundeskanzler Schröder am Horn von Afrika zum Einsatz kommen, vor der Küste Somalias also, das in jüngster Zeit immer häufiger als nächstes Angriffsziel im "Krieg gegen den Terror" genannt wird. Schon hier zeichnet sich ab, dass die deutschen Truppen schneller als erwartet in aktive Kampfhandlungen verwickelt werden könnten.

Weiter werden 800 Mann ABC-Abwehrkräfte bereitgestellt, über deren Einsatz bisher keine Angaben vorliegen, sowie 250 Sanitätssoldaten, 500 Soldaten der Lufttransportkräfte, 450 Mann Unterstützungskräfte und 100 Mann Spezialkräfte. Letztere - es soll sich teilweise um Mitglieder der Eliteeinheit KSK handeln - dürften am ehesten bei direkten Kampfeinsätzen zum Einsatz kommen.

Falsche Begründung

Dieser beispiellose Kriegseinsatz wird von der Bundesregierung als Beitrag zum "Kampf gegen den Terrorismus" und als "Solidarität mit Amerika" begründet. Beide Begründungen halten einer Überprüfung nicht stand.

Ginge es wirklich darum, den Terrorismus zu bekämpfen, dann würde die US-Regierung nicht eines der ärmsten Länder der Welt in Schutt und Asche legen und Millionen Zivilisten in die Flucht treiben. Sie würde sich nicht mit Machthabern verbünden, die seit Jahren die eigene Bevölkerung terrorisieren - wie dem pakistanischen Putschgeneral Muscharaff, der Feudaldiktatur der Saudis oder der Regierung Sharon in Israel, die die gezielte Ermordung der palästinensischen Führung zur offiziellen Politik erhoben hat. Beides kann nur dazu beitragen, das weitverbreitete Gefühl der Demütigung, der Ohnmacht und der unbändigen Wut auf den Westen zu stärken, auf das sich die Täter vom 11. September stützen konnten.

Für die US-Regierung boten die blindwütigen Anschläge von New York und Washington einen willkommenen Vorwand, um gegen Regierungen loszuschlagen, die ihr seit langem ein Dorn im Auge waren - "ending states", wie der stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitz es nannte. Es geht um die Neuaufteilung der Welt nach dem Ende des Kalten Kriegs mit seinen starren Fronten, um politischen Einfluss, strategische Positionen, Handelswege, Pipelinerouten, Rohstoffe und Öl - kurz, um eine Rückkehr zur klassischen Politik des Kolonialismus. Die strategische Bedeutung Zentralasiens wurde von politischen Think Tanks und Geostrategen schon lange diskutiert, bevor jemand etwas von den Taliban und Osama bin Laden hörte.

Die deutsche Beteiligung am Krieg entspringt nicht der Solidarität mit der USA und schon gar nicht mit der amerikanischen Bevölkerung. Sie ist im Gegenteil Ausdruck der Rivalität zwischen den beiden stärksten Wirtschaftsmächten dies- und jenseits des Atlantiks. Man muss die Dinge beim Namen nennen. Die deutsche Beteiligung am Krieg erfolgt - trotz der gegenteiligen Beteuerungen des Kanzlers - ausschließlich aus eigenem Interesse.

Das wird schon daran deutlich, dass der Kanzler die Öffentlichkeit regelrecht belog, als er behauptete, die Bereitstellung von 3.900 Soldaten erfolge auf Verlangen der USA. US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld stellte kurz darauf in einer Pressekonferenz klar, dass es kein konkretes Gesuch der US-Regierung gegeben habe. Man habe sich lediglich ganz allgemein erkundigt, ob in fünf Fähigkeitsbereichen eine deutsche Unterstützung möglich wäre. Schröder hat daraufhin sein eigenes Angebot prompt in eine amerikanische Anforderung verwandelt.

Schröders Vorpreschen sollte vor allem die eigene Partei und den grünen Koalitionspartner überrumpeln. Bei beiden wächst mit der Dauer des Krieges auch der Widerstand dagegen. "Das Prinzip der Gefolgschaft löst sich langsam auf in eine kritische Diskussion darüber, was das richtige Vorgehen ist," stellte der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion Gernot Erler kürzlich fest. Indem er die Parlamentsfraktionen jetzt zur Entscheidung über den Kriegseintritt zwingt, will Schröder diese Diskussion unterbinden. Der Kanzler habe "die Initiative ergriffen", weil er "Ruhe auf dem Schiff" wolle, heißt es aus Regierungskreisen.

Schröder und sein Außenminister Fischer bestehen auf einer deutschen Beteiligung am Krieg, weil sie fürchten, sonst bei der Neuaufteilung der Welt zu kurz zu kommen. Ihr strategisches Kalkül ist einfach: Nur wer militärisch mithält, kann hinterher auch politisch mitreden und bleibt wirtschaftlich im Geschäft. Deshalb drängen sie der USA einen deutschen Militärbeitrag regelrecht auf.

Karsten Voigt, in der Bundesregierung für die deutsch-amerikanischen Beziehungen zuständig, hat dies in einem Interview mit der Berliner Zeitung unumwunden zugegeben. "In Amerika spielt nur derjenige eine Rolle, der als Partner von Relevanz ist," sagte er. "Auf dem Balkan haben wir bei der Friedenslösung deshalb ein so gewichtiges Wort gehabt, weil wir uns auch militärisch beteiligt haben.... Natürlich kann nur derjenige später auf die politische Gestaltung Einfluss nehmen, der sich jetzt als militärisch relevanter Partner erweist."

Dieser Kurs ist allerdings umstritten. Vor allem in der Presse, aber auch innerhalb der Regierungsfraktionen häufen sich Stimmen, die vor "Nibelungentreue" und "Vasallentum" gegenüber der USA warnen. "Biedern sich Kanzler Schröder und sein Scharping weiter derart in Washington an, dürfen sie sich nicht wundern, wenn sie in den Sog des weltweiten Zorns geraten," warnt etwa Rudolf Augstein im Spiegel.

Diese Meinungsverschiedenheiten sind taktischer Natur. Sie drehen sich um die Frage, wie Deutschland seine Interessen am besten geltend machen kann und nehmen zukünftige Konflikte mit der USA vorweg, die sich unvermeidlich entwickeln werden.

Angriff auf demokratische Rechte

Krieg verträgt sich nicht mit Demokratie.

Schon der Eintritt Deutschlands in den Ersten Weltkrieg ging mit der politischen Entmündigung der Bevölkerung einher. Die politischen Parteien, einschließlich der SPD, schlossen einen Burgfrieden und verpflichteten sich, ihre Meinungsverschiedenheiten nicht mehr in die Öffentlichkeit zu tragen - was Kaiser Wilhelm II. zu den berühmten Worten veranlasste: "Ich kenne keine Parteien mehr, kenne nur noch Deutsche." Der Reichstag verzichtete auf sein Mitgestaltungsrecht, verabschiedete ein Ermächtigungsgesetz und vertagte sich bis Kriegsende. Die Militärbefehlshaber übernahmen die Verantwortung für Innere Sicherheit und Pressezensur.

Auch der jetzige Beschluss zum Kriegseintritt geht mit einem massiven Angriff auf demokratische Rechte einher.

Das beginnt mit der praktischen Entmündigung des Bundestags, der mit der Zustimmung zum Kabinettsbeschluss für zwölf Monate jede Einflussmöglichkeit auf die weitere Eskalation des Krieges aus der Hand gibt. Die Zustimmung gilt als sicher, da sowohl die Union als auch die FDP ihr grundsätzliches Einverständnis signalisiert haben. Kanzler Schröder, der sein Amt 1998 einem eindeutigen Wählervotum gegen die schwarz-gelbe Koalition verdankte, stützt sich nun auf diese beiden Parteien, um abweichende Stimmen in den eigenen Reihen zum Schweigen zu bringen. Kritiker werden massiv unter Druck gesetzt und eingeschüchtert.

Er nimmt, unterstützt vom grünen Vizekanzler Joschka Fischer, sogar das Ende der rot-grünen Koalition in Kauf, um die deutsche Kriegsbeteiligung durchzusetzen - möglicherweise schon in den kommenden Tagen oder Wochen, sonst spätestens bei der nächsten Bundestagswahl in einem Jahr. "Wenn wir gegen den Kriegseinsatz stimmen, fliegen wir aus der Koalition, und die Partei zerbricht. Stimmen wir dafür, zieht niemand an der Basis mehr für uns in den Wahlkampf, und wir fliegen aus dem Parlament," schildert ein Grüner das Dilemma der Partei. Fischer selbst hat mit seinem Rücktritt gedroht, falls sich die Bundestagsfraktion der Partei gegen den Krieg wenden sollte.

Die Grünen haben sich diese Lage zwar weitgehend selbst zuzuschreiben. Selten zuvor hat eine Partei ihre Wahlversprechen und selbsterklärten Prinzipien derart schnell und gründlich über Bord geworfen, wie die Grünen seit ihrem Regierungseintritt. Beginnend mit dem Kosovo-Krieg haben die ehemaligen Pazifisten jedem Bundeswehreinsatz zugestimmt und werden dies wohl auch jetzt wieder tun. Aber unter Bedingungen, wo die Initiative zum Regierungswechsel von oben kommt, stärkt sie in erster Linie die Rechten. Schröder und Fischer bahnen FDP und Union den Weg zurück an die Macht, ohne dass die Wähler darauf Einfluss nehmen könnten. Obwohl in der Bevölkerung eine weitverbreitete Stimmung gegen den Krieg herrscht, gibt es darüber kaum eine ernsthafte öffentliche Debatte, geschweige denn die Möglichkeit, die Ablehnung politisch zur Geltung zu bringen.

Hinzu kommen die beiden Sicherheitspakete von Innenminister Schily, die Polizei und Geheimdienste mit weitgehenden Vollmachten versehen, um jeden, der eine abweichende politische Auffassung ertritt, zu überwachen, einzuschüchtern und zu unterdrücken.

Zusammengenommen stellen diese Angriffe auf demokratische Rechte und die Beteiligung am Afghanistan-Krieg eine viel größere Bedrohung für die Existenz, die sozialen und politischen Rechte der Bevölkerung dar, als der Terrorismus, dessen Bekämpfung sie angeblich dienen sollen. SPD und Grüne haben nicht nur ihre vollständige Unfähigkeit bewiesen, dieser Bedrohung entgegenzutreten, sie waren bei ihrer Umsetzung sogar wesentlich effektiver als die Konservativen, die unweigerlich auf massiven Widerstand gestoßen wären.

Die Verteidigung demokratischer Rechte und der Kampf gegen Krieg erfordern den Aufbau einer neuen Partei, die die arbeitende Bevölkerung auf der Grundlage eines internationalen, sozialistischen Programms als unabhängige Kraft organisiert.

Siehe auch:
Schröder fordert größere militärische Rolle für Deutschland
(3. November 2001)
Otto Schilys Anschlag auf demokratische Grundrechte
( 1. November 2001)
Weshalb wir gegen den Krieg in Afghanistan sind
( 10. Oktober 2001)
(Dieser Artikel ist auch in der gleichheit - November 2001 enthalten.)