Fest auf Rechtskurs
Zum Parteitag von Bündnis90/Die Grünen in Stuttgart
Von Dietmar Henning
17. März 2001
Auffallend an dem Parteitag der Grünen am vergangenen Wochenende in Stuttgart war, dass so gut wie überhaupt keine Diskussion stattfand. Alle Widersprüche und Konflikte waren im Vorfeld bereits bereinigt worden. Übrig blieben leere, nichtssagende Phrasen. Nachdem diese Partei unzählige politische Wendungen vollzogen hat, ist sie ein Meister im Drechseln von inhaltslosen Worthülsen und Formelkompromissen. Was als "Geschlossenheit" verkauft wurde, war die Abwesenheit jeder politischen Debatte.
Früher wurde auf grünen Parteitagen oft heftig und leidenschaftlich gestritten, wenn auch meist auf sehr niedrigem Niveau. Auf dem vorletzten Parteitag in Bielefeld mussten sich die Delegierten noch mit starken Sicherheitskräften vor Pazifisten und Kriegsgegnern schützen, die lautstark gegen die Unterstützung des Kosovokriegs protestierten. Gegen den grünen Außenminister Fischer wurde sogar ein Farbbeutel geschleudert.
Ganz anders in Stuttgart. Dort präsentierten sich die Grünen als staatstragende Partei, die sich stromlinienförmig in den Berliner Politikbetrieb einpasst und angesichts sinkender Mitgliederzahlen und deutlicher Stimmenverluste bei den letzten Landtagswahlen vor allem auf den eigenen Machterhalt konzentriert ist.
Die Zustimmung zum Kosovokrieg - dem ersten Kriegseinsatz der deutschen Armee seit der Niederlage von Hitlers Wehrmacht - hat jedem kritischen Kopf in den Reihen der Grünen, der über seinen eigenen unmittelbaren Vorteil hinausdachte und nach einer fortschrittlichen Lösung der großen gesellschaftlichen Probleme Ausschau hielt, das Genick gebrochen.
Stuttgart war der Parteitag der gewendeten Grünen, die mit den selben Medienmätzchen und Show-Einlagen wie die anderen Parteien versuchen eine Politik an den Mann zu bringen, die immer stärkere Sozialkürzungen und immer dreistere Angriffe auf demokratische Rechte beinhaltet. So glich die Konferenz der Grünen den Parteitagen jeder anderen x-beliebigen Bundestagspartei wie ein Ei dem anderen. Das bekannte politische Einerlei - diesmal in grün.
In den vergangenen gut zwei Jahren, in denen Bündnis90/Die Grünen gemeinsam mit der SPD Deutschland regieren, hat sich ihre politische Häutung noch weiter beschleunigt. Schlag auf Schlag haben sie sich von allen Programmpunkten und Positionen, mit denen sie seit über zwanzig Jahren geworben hatten, verabschiedet. Ob "soziale Gerechtigkeit", "Ausstieg aus der Atomenergie" oder "Friedenssicherung", die Grünen haben nicht nur all ihre Positionen bereitwillig geräumt, sondern geradezu ins Gegenteil verkehrt.
In Stuttgart hoben sie vor allem ihre Rolle als Stabilitätsfaktor hervor. In einem auf dem Parteitag diskutierten Thesenpapier ihrer Grundwertekommission heißt es: "Als erfolgreiche ModernisiererInnen haben wir die Grundlage geschaffen für breite gesellschaftliche Reformbündnisse. Wir finden heute Partnerinnen und Partner auch dort, wo vor Jahrzehnten nur Gegner waren". Zum Balkankrieg ist dort zu lesen: "Nach unseren Erfahrungen mit der Bosnien-Intervention, dem Kosovo-Krieg und vielen anderen Konflikten seit dem Ende des Kalten Kriegs bilanzieren wir: Das Ziel der Gewaltfreiheit geben wir nicht auf."
Es ist diese Politik, die auch eine Zusammenarbeit mit den Unionsparteien einschließt, und der damit verbundene Zynismus, der von der alten grünen Basis nur noch wenig übrig gelassen hat. Seit ihrer Regierungsbeteiligung mussten die Grünen bei allen Landtags- und Kommunalwahlen herbe Stimmenverlust hinnehmen. Auch die Mitgliedszahlen gehen deutlich zurück, teilweise um ein Fünftel. Einige Berichte aus den Ortsverbänden sprechen gar von einer Auswechselung der Mitgliedschaft; die älteren Mitglieder gehen, neue, andere Schichten, Karrieristen, Besserverdienende kommen.
Die weitverbreitete politische Entfremdung der Parteien gegenüber der Bevölkerung ist bei den Grünen deutlich sichtbar. Angesichts bevorstehender Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg versuchte daher die Stuttgarter Parteitagsregie an "alte Visionen" zu erinnern, um die traditionelle Klientel bei der Stange zu halten.
Dazu dienten einige Beschlüsse, die reine Alibi-Funktion hatten und von niemandem ernstgenommen werden, am allerwenigsten von den Grünen selbst. Zu dieser Kategorie gehört der Beschluss zur Rücknahme des 1993 zustande gekommenen Asylkompromisses, durch den zwar noch nicht rechtlich, aber faktisch das Recht auf Asyl in Deutschland abschafft wurde. Damals wurde mit den Stimmen der SPD festgelegt, dass alle Flüchtlinge, die aus "sicheren Drittländern" nach Deutschland kommen, direkt an der Grenze wieder abgewiesen werden können, was seitdem massenhaft praktiziert wird, weil alle an Deutschland grenzenden Länder zu solch "sicheren Drittländern" erklärt wurden.
Nur mit einer Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag kann dieser Beschluss gekippt werden, und das ist zumindest in der näheren Zukunft der deutschen Politik mehr als unwahrscheinlich. Bezeichnend ist, dass trotz der offensichtlichen Alibi-Funktion der grüne Rücknahmebeschluss nur sehr knapp angenommen wurde, nämlich mit 188 zu 170 Stimmen.
Eine ähnliche Funktion hatte die Entscheidung der Delegierten für die Trennung von (Minister-)Amt und (Bundestags-)Mandat. Warum es undemokratisch sein soll, wenn ein Minister auch über ein Abgeordnetenmandat verfügt, bleibt völlig unklar. In anderen Ländern, zum Beispiel in Großbritannien, ist ein Sitz im Parlament Bedingung für einen Ministerposten. Zumindest können dann Quereinsteiger, wie Wirtschaftsminister Werner Müller (parteilos), der sich noch nie einer Wahl unterziehen musste, nicht so einfach vom Chefsessel eines Großbetriebes direkt auf den Ministersessel wechseln.
Bereits früher hatten die Grünen sich heftig über die Trennung von Amt und Mandat gestritten. Damals ging es aber um die Trennung von Parteiamt und öffentlichem Mandat. Es war der Versuch durch administrative Maßnahmen, wie diverse Rotationsverfahren, Ämterhäufung und die Herausbildung einer Kaste von abgehobenen Berufspolitikern zu verhindern. Das Ergebnis ist bekannt. In kaum einer anderen Partei hat die Basis - soweit sie überhaupt noch existiert - derart geringen Einfluss auf die politischen Entscheidungen der Parteispitze, wie in der Partei, die ihre "basisdemokratischen Grundsätze" immer sehr betonte.
Grund dafür ist die Tatsache, dass letztendlich in jeder Partei das innere Regime und die Organisationsstruktur durch das politische Programm geprägt wird. Ein Programm, das darauf ausgerichtet ist, die bestehende gesellschaftliche Ordnung zu festigen, wird immer dazu führen, dass die Inhaber von herausragenden Regierungsposten auch die Parteilinie bestimmen. So ist die lakonische Antwort von Außenminister Fischer zu verstehen, als er von Journalisten auf die beschlossene Amts- und Mandatstrennung angesprochen wurde: "Die Zeit wird's richten."
Oder dient die Trennung von (Minister-)Amt und (Bundestags-)Mandat dazu, dass dann, wenn der Minister sein Bundestagsmandat abgeben muss, ein anderer grüner Karrierist samt Anhang einige hochdotierte Posten einnehmen kann und die grüne Versorgungskarawane eine Etappe weiter zieht?
In Presseberichten wurde darauf aufmerksam gemacht, dass Joschka Fischer auf dem Parteitag nur eine Hintergrundrolle gespielt habe. Psychologische Interpretationen über die Lösung der Grünen aus dem "Schatten des Übervaters" gehen aber am Wesen der Sache vorbei. Erstens sind die heutigen Grünen ein Ergebnis der Tatsache, dass sich der Fischerflügel in vollem Umfang durchgesetzt hat. Die Grünen sind die Fischerpartei. Gerade weil dieser Prozess abgeschlossen ist, kann Fischer sich darauf beschränken, seine Fäden im Hintergrund zu ziehen, und wird in wachsendem Maße entbehrlich.
Zweitens reagieren die Grünen damit auf die aggressive Kampagne der Rechten gegen Fischer. Sie sind in der selben Art eingeschüchtert und verängstigt wie er selbst und sehen ihre Aufgabe vor allem darin, ihre uneingeschränkte Staatstreue zu betonen und sich immer und immer wieder von "Jugendsünden" zu distanzieren. Es gab nicht einen einzigen Delegierten, der es gewagt hätte, die Attacken der Rechten ernsthaft zurückzuschlagen.
Dahinter verbirgt sich nicht nur Feigheit. Vielmehr empfinden die Grünen sehr deutlich, dass die rechten Angriffe nur vordergründig gegen Fischer & Co gerichtet sind, in Wirklichkeit aber auf grundlegende demokratische Rechte der Bevölkerung abzielen. Angesichts zunehmender wirtschaftlicher Schwierigkeiten und wachsender sozialer Spannungen sehen sie die demokratischen Rechte mit gemischten Gefühlen. Je mehr sich der Widerstand von unten entwickelt, rufen die Grünen nach dem starken Staat und beteiligen sich noch stärker am Abbau demokratischer Rechte als bisher. Ungeachtet der rechten Attacken sehen sie die Union als potentiellen Bündnispartner.
Um diese ständige Rechtsentwicklung zu kaschieren, wählten die Delegierten mit großer Mehrheit eine neue Bundesvorsitzende, die sich in der Vergangenheit immer als, "dem linken Flügel zugehörig" bezeichnete. Claudia Roth, einstige Managerin der Rockband "Ton, Steine, Scherben" (Keine Macht für Niemand, 1972), erzielte mit 92,5 Prozent der Stimmen, ein für grüne Parteitage außergewöhnliches Abstimmungsergebnis. Als Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im Bundestag hatte sie in der Öffentlichkeit nicht selten die inhumane Ausländer- und Flüchtlingspolitik in Europa und auch in Deutschland, also auch die der rot-grünen Regierung kritisiert. Doch seit ihrer Nominierung zur zweiten Vorstandssprecherin neben Fritz Kuhn hat sie ihre politische Biegsamkeit bereits unter Beweis gestellt.
Wochenlang verhandelte sie mit grünen Ortverbänden in Niedersachsen, die sich gegen den grünen Umweltminister Jürgen Trittin stellten und die von ihm genehmigten Castortransporte ablehnten. Obwohl sich an der Gefährlichkeit der Transporte von hochradioaktiven Brennstäben durch dichtbesiedeltes Gebiet nichts geändert hat, fand auf dem Parteitag keinerlei Diskussion dazu mehr statt. Zwar dürfe "natürlich demonstriert" werden, aber nicht gegen die Regierung, sonder für sie, weil sie eben den Atomausstieg wolle. In Wirklichkeit ist die Wiederaufnahme der Transporte, die von Trittins Vorgängerin Angela Merkel (CDU) gestoppt worden waren, Teil des im vergangenen Sommer ausgehandelten "Atomkonsenses", der vor allem die Interessen der Kernkraftwerksbetreiber beinhaltet und für einen Großteil der Kernkraftwerke eine Bestandsgarantie für die nächsten dreißig Jahre bedeutet.
Der als "salomonisch" bezeichnete Formelkompromiss war in einer Parteitagsresolution unter der Überschrift "Den Atomausstieg umsetzen" zusammengefasst. Darin findet sich folgende Formulierung: Wir "folgen [...] einem einfachen Leitsatz: Wir werden nicht zu Aktionen, Demonstrationen oder Blockaden aufrufen, die sich gegen den Atomkonsens [der Bundesregierung] wenden. Allerdings werden sich Grüne auch im Umfeld der Transporte an Demonstrationen beteiligen, die auf der Basis des Atomkonsenses für einen schnellstmöglichen Atomausstieg eintreten."
Neben Claudia Roth war Renate Künast, die erst vor wenigen Wochen Bundesministerin wurde und die Leitung des Berliner Landwirtschaftsministeriums übernahm, der große Medienstar des Parteitags. Ihre zupackende Art, ein Auftritt mit Mistgabel in der Hand und ihre Forderung nach einer "totalen Umkehr" in der Agrarpolitik sorgten angesichts der Verunsicherung der Bevölkerung durch die anhaltenden Fleischskandale - BSE, Antibiotika-Schweinemast und jetzt die Maul- und Klauen-Seuche - für Aufsehen.
Es ist jetzt völlig klar, dass die Entscheidung, die Bundeskanzler Schröder Anfang des Jahres traf, die Leitung des Landwirtschaftsministeriums den Grünen zu übertragen und es in ein Verbraucherschutzministerium umzutaufen, vor allem darauf ausgerichtet war, den grünen Koalitionspartner zu stabilisieren.
Während Renate Künast ihr neues Amt nutzt, um sich und die Grüne Partei als Vorkämpfer in Sachen Öko-Landbau sowie Tier- und Verbraucherschutz darzustellen, wird immer deutlicher, dass sich hinter den großen Phrasen über die Agrar-Wende etwas ganz anderes verbirgt.
Zum einen nutzt die rot-grüne Regierung die BSE-Krise, um starke Subventionskürzungen in der Landwirtschaft durchzusetzen und damit den Anforderungen des globalisierten Agrarmarktes gerecht zu werden und sich auf die EU-Osterweiterung vorzubereiten. Zum anderen wird eine drastische Erhöhung der Lebensmittelpreise vorbereitet. Wer sich in Zukunft einigermaßen gesund ernähren will, wird zur Kasse gebeten. Schon jetzt betont Künast bei jeder Gelegenheit: "Gute landwirtschaftliche Produkte haben eben ihren Preis".
Nach der Steuerreform im Interesse der Reichen, einer Rentenreform, die viele alte Menschen in Not bringt und nach der Vorbereitung einer Gesundheitsreform, die die Zweiklassenmedizin einführt, kommt jetzt mit der Öko-Wende die Ernährungsreform. Gutes und gesundes Essen wird zu einem Privileg für Besserverdienende, während der große Rest mit Junk-Food abgespeist wird.