Die Grünen und die Atomindustrie
Von Dietmar Henning
9. Juni 2001
Deutschland erlebt derzeit die Unterstützung der Atomindustrie gerade durch diejenigen, die noch vor rund 20 Jahren angetreten sind, die Atomkraft zu verhindern - die Grünen. Die Bundesregierung aus SPD und Grünen hat den Energiekonzernen schriftlich versichert, dass sie ihre Atomkraftwerke und Atommüll-Transporte nahezu uneingeschränkt weiterführen können. Die derzeit sich in Betrieb befindlichen Kraftwerke können teilweise noch auf Jahrzehnte hinaus weiter genutzt werden und allein in diesem Jahr werden noch weitere 24 Atommülltransporte folgen. Dabei stellen Gutachten fest, dass sowohl die Atomkraftnutzung als auch die Atommülltransporte in den Castorbehältern weiterhin sehr hohe Gefahren für die Bevölkerung nicht nur in Deutschland darstellen.
Die Nutzung der Kernenergie ist in ihrem momentanen Zustand nicht mit den Bedürfnissen, vor allem den Sicherheitsbedürfnissen, der Bevölkerung in Einklang zu bringen. Die bis heute ungelösten Sicherheits- und Entsorgungsprobleme verbieten den Weiterbetrieb, bevor nicht neue wissenschaftliche Fortschritte Lösungen ermöglichen.
Noch bis vor wenigen Jahren hatten die Grünen die Proteste gegen diese zweifelsfrei erwiesenen Gefahren, insbesondere gegen die Atommülltransporte organisiert; heute treten sie vehement - mit aller Härte des Gesetzes und der Polizei - dagegen auf. Die Grünen, die den Schutz der Umwelt, die Ökologie, seit ihrer Gründung als zentralen Punkt ihrer Politik proklamieren, haben sich von Kritikern zu Handlangern der Energiekonzerne gewandelt.
Die Proteste gegen die gesundheitsgefährdenden Castortransporte und maroden Atomkraftwerke sind vollauf berechtigt. Doch die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass ausgerechnet die Grünen die Interessen der Nuklearkonzerne gegen die Bevölkerung durchsetzen, steht nach wie vor unbeantwortet im Raum. Es heißt daher Bilanz zu ziehen.
Selbstverständlich steckt ein wahrer Kern in dem empörten Ausruf vieler Atomkraftgegner, die Grünen und ihre Führungspersonen hätten eine 180-Grad-Wendung vollzogen. Doch es wäre zu kurz gegriffen, dies darauf beruhen zu lassen. Man würde so den Grünen, wie sie vor über 20 Jahren entstanden sind, viel mehr an- und zuerkennen, als sie es verdient haben. In Wirklichkeit war die Evolution der Grünen nicht völlig unvorhersehbar. Ihre jetzige Haltung entspringt den politischen Positionen ihrer Gründungsphase.
Der forcierte Ausbau der Atomindustrie in den siebziger Jahren war eine Reaktion auf die sogenannte "Ölkrise" von 1973 und verbunden mit dem aggressiven Bemühen, eine nationale Energieversorgung aufzubauen. Sicherheitsbedenken wurden dabei von den damaligen SPD-Bundesregierungen unter Willy Brandt und später Helmut Schmidt beiseite gewischt. Massive Proteste begannen in Wyhl und Brokdorf 1973/74 gegen den dortigen geplanten Bau von Atomkraftwerken. Als im Februar 1977 der niedersächsische Ministerpräsident Hans Albrecht (CDU) verkündete, der Salzstock in Gorleben solle zu einem Atommülllager ausgebaut werden, begannen die Proteste der dortigen Bevölkerung und der Atomkraftgegner, die bis heute nicht abgeebbt sind. An der ersten Großkundgebung in Gorleben am 12. März 1977 nahmen ca. 20.000 Menschen teil.
Betroffene Bewohner kamen zur Anti-AKW-Bewegung, wie es Annemarie Sacher aus Breissach bei Wyhl schildert: "Bis dahin (als bekannt wurde, dass ein Atomkraftwerk errichtet werden sollte) waren wir eine mit der Welt zufriedene Winzerfamilie. Mit der Information, dass in Breissach ein Atomkraftwerk gebaut werden sollte, kam unsere,Heilige Welt ins Wanken... Die Vorstellung, gigantische Kühltürme buchstäblich vor der Haustüre zu haben, erschreckte unsere Bevölkerung... Die Informationen über die Gefahren der Radioaktivität, die uns unabhängige Wissenschaftler vermittelten, lösten bei mir und meiner Familie größte Betroffenheit aus:,Wie konnte unsere Regierung, die wir doch bis jetzt so brav gewählt hatten, uns so etwas antun? Damals begann sich unser politisches Bewusstsein völlig zu ändern. Wir wurden wach. Wir begriffen, dass wir etwas tun mussten."
Diese weitverbreitete Stimmung unter den betroffenen Anwohnern gegen die Politik der damaligen SPD-Regierung kam mit der Enttäuschung über die SPD seitens der kleinbürgerlich-radikalen Strömungen der Außerparlamentarischen Opposition (APO) der 60er Jahre zusammen.
Die APO war als Reaktion auf den Eintritt der SPD in die Große Koalition mit der CDU 1966 und die Verabschiedung der Notstandsgesetze 1968 entstanden. Ideologisch beeinflusst von der Frankfurter Schule und deren Vertretern Horkheimer, Adorno, Marcuse und Habermas, machte sie weitgehende Anleihen bei der marxistischen Kapitalismuskritik, wies aber deren Kern, die materialistische Geschichtsauffassung zurück. Nicht der Klassenkampf, sondern das kritische Denken sei die Triebkraft der Geschichte. Revolutionäres Subjekt sei daher nicht die Arbeiterklasse, sondern das aufgeklärte Individuum, kritisch denkend.
Daneben entstand eine Vielzahl von stalinistischen und maoistischen Parteien und Gruppen (K-Gruppen), die sich trotz aller gegenseitigen Kritik einig waren in ihrer Ausrichtung auf die Arbeiterbürokratien. Sie orientierten sich an stalinistischen Regimes oder an der SPD und den Gewerkschaften. Eine unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse lehnten sie ungeachtet ihrer pseudomarxistischen Rhetorik ab. Auf dieser Grundlage schaffte es Willy Brandt (SPD), als er 1969 zum Kanzler gewählt worden war, die Protestbewegung wieder in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren, und zwar mit relativ weitreichenden Reformprogrammen, insbesondere im Bildungsbereich.
Die Bindung der 68er-Generation an die SPD gelang jedoch nicht auf Dauer. Mit dem Wechsel von Willy Brandt zu Helmut Schmidt zum Bundeskanzler 1974 war das Ende der Reformen eingeläutet. Enttäuscht von der SPD wandten sich die kleinbürgerlichen Radikalen wieder ab und sahen in der aufkommenden Bewegung gegen die Atomkraft ihr neues Betätigungsfeld. Hier kamen sie mit vielfältigen Strömungen zusammen - von rechten CDU-Mitgliedern wie Herbert Gruhl, enttäuschten Sozialdemokraten, über Hippies, Esoterikern und Gottesgläubigen, bis hin zu Öko-Bauern.
Der US-amerikanische Wissenschaftler Andrei S. Markovits fasst in seinem Buch "Grün schlägt Rot - Die deutsche Linke nach 1945" die zweite Hälfte der siebziger Jahre im Wesentlichen als Zeit der Herausbildung einer "Öko-Ideologie" zusammen. Endlich hätten auch die K-Gruppen begonnen, "die begrenzte Sichtweise und die positive Einstellung des marxistischen Sozialismus zu Wachstum, Technik und Ausbeutung der Natur kritisch zu hinterfragen". Markovits weiter: "Das Ökologie-Konzept hielt die verschiedenen Kräfte der Linken in den späten siebziger Jahren zusammen. Ein weit gefasster Ökologie-Begriff diente als Kristallisationspunkt diffuser Interessen und Engagements für die natürlichen und sozialen Strukturen der physischen und kulturellen Reproduktion."
Das erste Bundesprogramm der Grünen von 1980 beginnt dementsprechend mit den Sätzen: "Wir sind die Alternative zu den herkömmlichen Parteien. Hervorgegangen sind wir aus einem Zusammenschluss von grünen, bunten und alternativen Listen und Parteien. Wir fühlen uns verbunden mit all denen, die in der neuen demokratischen Bewegung mitarbeiten: den Lebens-, Natur- und Umweltschutzverbänden, den Bürgerinitiativen, der Arbeiterbewegung, christlichen Initiativen, der Friedens- und Menschenrechts-, der Frauen- und 3.-Welt-Bewegung."
Die Verteidigung der Ökologie wurde zur politischen Achse, mit der die kleinbürgerlichen Radikalen auf das Ende der SPD-Reform-Politik reagierten. Ihre Perspektive in Bezug auf die Atomkraft war, wie schon ihre politische Perspektive zur Zeit der 68er Bewegung, derjenigen der Arbeiterklasse entgegengesetzt. Während die sozialistische Bewegung den neuen und fortschrittlichen Technologien und der Technik größte Aufmerksamkeit schenkt und ihre Perspektive auf den demokratisch kontrollierten und geleiteten Einsatz neuester wissenschaftlicher Errungenschaften basiert, ist und war die Perspektive der Grünen rückwärtsgewandt.
In der Frage der Atomkraft heißt dies, dass die sozialistische Bewegung in der Atomkraft zunächst eine vielversprechende und revolutionäre Technik sieht. Sich die gewaltige Energie nutzbar zu machen, die bei der Spaltung von Atomkernen entsteht, birgt ein faszinierendes Potenzial. Das Problem - und es handelt sich dabei um ein gesellschaftliches Problem - ist derzeit jedoch, dass die Atomkraft nicht nach den Interessen der Bevölkerung, sondern nach den Interessen der Betreiberkonzerne eingesetzt wird, so dass die verantwortungsvolle Lösung der ernsten Sicherheitsprobleme deren Profit- und Gewinnstreben untergeordnet wird.
Alle sozialen und politischen Strömungen, die später zu den Grünen verschmolzen, lehnten einen solchen Ansatz ausdrücklich ab. Für sie war die Technik an sich das Problem, nicht deren gesellschaftlicher Einsatz und Kontrolle. Konsequent verfolgt, führt diese Haltung tatsächlich "zurück zum Mittelalter". Dies zeigt ein Blick auf einzelne Figuren bei den Grünen, die diese Perspektive ausdrückten.
Herbert Gruhl stellte zwar eine Randfigur bei den Grünen dar, aber demonstriert vortrefflich den Klassencharakter der Anti-AKW-Bewegung der 70er Jahre. Gruhl kam von der CDU, war kurze Zeit Mitglied bei den Grünen und verließ die Partei wieder, um seine eigene rechte Öko-Partei zu gründen, deren langjähriger Vorsitzender er war, die Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP). Er trat schon 1975 dafür ein, dass der materielle Verzicht an der Spitze aller ökologischen Werte stehen müsse. Durchsetzen und "erzwingen" müsse dies ein starker Staat. Der Staat müsse dabei "viele Freiheiten entschlossen aufheben, um das Chaos zu vermeiden".
Auch andere Strömungen griffen diese rückschrittliche Auffassung auf. Manon Maren-Grisebach, in der ersten Hälfte der 80er Jahre eine der drei Bundessprecher der Grünen, stellte in ihrem Buch "Philosophie der Grünen" eine weltlich abgehobene, esoterische, frömmelnde Weltsicht als die Grundlage der Grünen dar. Die "Lebensgefühle" der Grünen, das "Erleben", die Intuition, also das Irrationale seien der Ausgangspunkt all ihren Handelns.
In ihrem Büchlein erklärt sie, dass die Grünen niemals von den Werten der Demokratie und des Friedens abrücken würden: "Sie halten sich ans Überzeugen, ans Gespräch und ans eigene praktische Tun, das vorbildhaft zu wirken imstande ist: Fahrradfahren statt Auto, biologischen Anbau von Gemüse oder doch dessen Kauf, Schreiben auf Umweltschutzpapier, Eigenbau von Sonnenkollektoren, Alltagsdinge, die höchstens andere anregen, aber niemals zwingen. Eine solche Haltung wird sich auch in mögliche,Regierungs-ämter fortsetzen, zu grundlegend ist sie verwurzelt."
Diese Überzeugung verbindet sie mit einer immer wiederholten Zivilisationskritik: "Keine Atomkraftwerke, keine neuen Medien, d. h. keine vermehrten Telekommunikationsformen, keine Gentechnologie im Humanbereich, keine zusätzlichen Straßen, Flughäfen, Deich- und Kanalbauten, keine Großindustrien, keine Tierfabriken."
Offensichtlich hat Maren-Grisebach die Wirkung des sozialen Status arg unterschätzt. Die Grünen des Jahres 2001 fahren Fahrrad nur vor laufenden Kameras, ansonsten setzt z. B. der Bundestagsfraktionschef Rezzo Schlauch auf die Verlässlichkeit seines Porsche. Was den Eigenbau von Sonnenkollektoren und den Anbau von biologischen Gemüse angeht: das haben die Grünen anders gelöst. Sie gehören inzwischen allesamt der Gruppe der Besserverdienenden an und können sich den Luxus gesund zu essen und zu leben einfach kaufen.
Auch die von der SPD kommende Petra Kelly, in den 80er Jahren eine der führenden Figuren bei den Grünen, lenkte ihre teilweise christlich beeinflusste Politik in eine rückschrittliche Richtung. Die Technik, die "Technologiegläubigkeit" waren die Ursache aller Probleme. "Die Atomkraft bedingt den Polizeistaat".
Diese Mischung aus geballter Konfusion und Rückständigkeit innerhalb der Grünen machte es Karrieristen aus dem Umfeld der K-Gruppen bzw. aus der Frankfurter Spontiszene relativ leicht, sich innerhalb der Grünen durchzusetzen. Sie benutzten die Grünen für ihren eigenen persönlichen "Gang durch die Institutionen". Der erfolgreichste Vertreter dieser Spezies ist natürlich Außenminister Joschka Fischer. Ein weiteres Beispiel ist der jetzige Bundesumweltminister Jürgen Trittin, der aus dem Kommunistischen Bund kam.
Die radikalen "Ökosozialisten" Rainer Trampert und Thomas Ebermann, in den 70er Jahren ebenfalls Mitglieder des Kommunistischen Bund (KB), schrieben 1984, sechs Jahre vor ihrem Austritt aus den Grünen: "Die Hauptzielscheibe des ökosozialistischen Revisionismus [so bezeichnen sie sich selbst] war der naive Glaube des Marxismus an den objektiven, neutralen und emanzipatorischen Charakter von Wissenschaft, Technik und Produktion."
Der bekannte Fischer-Kritiker und einstige Mitarbeiter der anarchistischen Zeitschrift Autonomie Thomas Schmid "überwand" im gleichen Jahr den "Marxismus" mit der Erkenntnis: "Der Industrialismus ist das bislang letzte und zerstörerischste Erbe einer Geschichte, in der der Mensch sich zum Herrn der Welt machte". Die "sozialen und ökologischen Missstände" seien "der bürokratischen Politik des modernen Wohlfahrtsstaates" ebenso anzulasten wie "den multinationalen Großkonzernen".
Von diesem Standpunkt her gab es keinerlei Gründe mehr, gegen die kapitalistische Gesellschaft, gegen die Marktwirtschaft und die Konzerne zu polemisieren. Sukzessive wurden die Grünen von ihren sogenannten Realpolitikern auf ein Zusammengehen mit den Sozialdemokraten, auf die Übernahme von Regierungsverantwortung und ihre Rolle als Lakaien der Wirtschaft - der ehemals so gescholtenen Großindustrie - vorbereitet.
Wichtige Stationen waren der Reaktorunfall in Tschernobyl 1986 und der Zusammenbruch der stalinistischen Staaten in Osteuropa und der DDR. Nach dem verheerenden Unglück in Tschernobyl sprach sich auch die SPD für den Ausstieg aus der Atomenergie aus, was denjenigen Auftrieb gab, die sich politisch enger an die SPD binden wollten. Außerdem bestärkte die Katastrophe in der Sowjetunion die einstigen stalinistischen Linientreuen in ihrem Rechtsschwenk, indem sie den "Sozialismus" und die Arbeiterklasse und nicht die bürokratische, wirtschaftlich rückständige Herrschaft der Stalinisten, denen sie bis dato huldigten, für die Katastrophe verantwortlich machten.
1988, ein Jahr vor dem Fall der Mauer in Deutschland, wird in einem Papier mit dem Titel "Sein oder Nichtsein" notiert: "Die ökologische Bedrohung der Industriegesellschaft kann nur im Rahmen des bestehenden Systems abgewendet werden." Diese Ausrichtung wurde durch den Zusammenbruch der DDR 1989 und der Sowjetunion 1991 gestärkt. Im Bundestagswahlprogramm 1990 hieß es: "Eine neue Form des Produzierens muss gefunden werden, die die Vorzüge des Marktes in der Versorgung mit einer strukturellen Rahmenplanung verbindet."
Im Dezember 1991 konstatierten die Grünen Ludger Volmer (heute Staatssekretär im Auswärtigen Amt von Joschka Fischer) und Wolfgang Bayer, dass nach dem Zusammenbruch des "real existierenden Sozialismus" in der grünen Diskussion die Einsicht gewachsen sei, "dass funktionierende Volkswirtschaften Wettbewerbs- und Anreizmechanismen voraussetzten".
Als Joschka Fischer 1984 in Hessen erster Grüner Minister (für Umwelt) auf Landesebene wurde, hatte dies innerhalb der Grünen noch eine Diskussion über den Charakter der Grünen hervorgerufen. Viele sahen die Grünen als parlamentarischen Arm der Außerparlamentarischen Opposition (APO) der 60er Jahre, deren Aufgabe es sei, Druck auf bestehende Regierungen auszuüben. Doch die prinzipielle Anerkennung des Status quo hatte ihre eigene Dynamik. In Fischers Amtszeit als hessischer Umweltminister fiel die größte Umweltverschmutzung durch den Hoechst-Konzern in Frankfurt. Fischer hat sich in dieser Zeit bestens mit der Industrie arrangiert.
In den 90er Jahren war die Debatte um die Rolle der Grünen zugunsten der Fischers, Trittins usw. entschieden. Die Grünen strebten bei jeder Wahl eine Regierungsbeteiligung an, die sie auf Landesebene nicht selten errangen. In die "Verantwortung" genommen, legten sie selbst verbale Kritik an gesellschaftlichen Missständen - auch ökologischen - nach und nach ab.
Insbesondere in Ostdeutschland diente der "Umweltschutz" nunmehr als Rechtfertigung für die Schließung von Betrieben, die keinen Profit mehr abwarfen. Hunderttausende Arbeitsplätze in der Chemie- und Bergbauindustrie Ostdeutschlands sind mit Verweis auf die "Gefährdung der Ökologie" vernichtet worden.
Die 90er Jahre können die Konsolidierungsphase der Grünen als staatstragende Partei genannt werden. Mit der Regierungsbeteiligung auf Bundesebene 1998 waren sie dort wieder angekommen, von wo sie sich in den 70er Jahren abgewandt hatten: der Sozialdemokratie und - unter anderem - deren Verteidigung der Atombranche.
Im Gründungsprogramm der Grünen hieß es (1980), die Ökologie sei keine Klassenfrage, sondern eine Gattungsfrage. Sie haben diese Einschätzung durch ihre eigene Entwicklung ad absurdum geführt. Entscheidend für ihre heutige Politik in der Frage der Kernkraftwerke und der Castor-Transporte waren nicht die ökologischen Anliegen ihrer Gründungsphase, sondern ihre Akzeptanz der bestehenden kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Die Haltung, es gebe den Klassenfragen übergeordnete "Menschheitsfragen" ist durch die heutige Praxis der Grünen widerlegt.
Umweltfragen sind Klassenfragen. Der Schutz der Umwelt setzt voraus, dass Profitinteressen hinter einer demokratischen Kontrolle über die Industrie zurückstehen. Die Voraussetzung hierfür ist eine weitergehende gesellschaftliche Perspektive, die von den Interessen der arbeitenden Bevölkerung bestimmt ist. Dies sei auch an diejenigen gerichtet, die an ihren ursprünglichen Überzeugungen festhalten, aus den Grünen ausgetreten sind und über die "grünen Verräter" schimpfen. Sie haben keinerlei Alternative zu bieten - außer dem schon vor 20 Jahren allgegenwärtigen Gemisch aus radikalen Phrasen und frommen Wünschen.