Noch einmal über die New York Times und Bushs Polizeistaatsmaßnahmen
Von David Walsh
15. Dezember 2001
aus dem Englischen (10. Dezember 2001)
Die New York Times ist in ihrem Leitartikel vom 2. Dezember erneut auf die Polizeistaatsmaßnahmen der Bush-Regierung eingegangen.
Das WSWS hat schon einmal eine Kritik der Times an Bush in dieser Frage kommentiert, (es ging um ihren Leitartikel vom 16. November: "Eine Perversion der Justiz"), und dabei auf ihren verlogenen Versuch hingewiesen, Bushs Angriff auf demokratische Rechte im Innern und seinen brutalen Feldzug zur uneingeschränkten Durchsetzung des amerikanischen Militarismus, den sogenannten "Krieg gegen den Terrorismus", auseinander zu halten. [http://www.wsws.org/de/2000/nov2000/usa-n15_prn.html].
Der neue Leitartikel geht weiter und beschreibt detailliert den anti-demokratischen Charakter der Vorschläge von Bush, Ashcroft und Company. Es heißt dort zum Beispiel:
"Nach den brutalen Anschlägen vom 11. September begann die Bush-Regierung ein paralleles Strafrechtssystem aufzubauen, Dekret um Dekret, weitgehend außerhalb der üblichen Kontrolle durch Kongress und Gerichte. In diesem Schattensystem können Menschen durch die Regierung verhaftet und für unbeschränkte Zeit an geheimen Orten festgehalten werden. Es ist ein System, das der Regierung erlaubt, willkürlich Gespräche zwischen Gefangenen und ihren Anwälten abzuhören, ein System, in dem Angeklagte durch geheime Militärtribunale, deren Verfahrensregeln nur noch wenig Ähnlichkeit mit der normalen Militärjustiz aufweisen, abgeurteilt und zum Tod verurteilt werden können."
Indem die Times sich ausführlich über den Charakter von Bush's Maßnahmen verbreitet, vertieft sie nur die Widersprüche in ihrer Haltung und die tiefe Verlogenheit ihrer Argumentation.
Die Haltung der Zeitung ist außerordentlich schwach und konzentriert ihre Kritik auf zwei Fragen: dass die "Bush-Regierung uns auf einen Weg führt, der dem Land mit Sicherheit Schwierigkeiten einbringen und unser Prestige als Verteidiger der internationalen Menschenrechte und der globalen Gerechtigkeit unterminieren wird", und dass sich die Maßnahmen unfairer Weise nur gegen Menschen richten, die keine amerikanische Staatsbürger sind (und so "einen Teil der Menschheit aussondern, der es nicht wert ist, die gleichen grundlegenden Bürgerrechte zu genießen").
Die Herausgeber lehnen die offensichtliche Schlussfolgerung aus den außergewöhnlichen Ereignissen ab: nämlich dass die Bush-Regierung die weitreichendsten verfassungspolitischen Änderungen der modernen Geschichte der USA durchsetzt. Sie verwirklicht Pläne für eine autoritäre Herrschaftsform, die seit langem von der extremen Rechten gehegt wurden und die die amerikanische Demokratie in Frage stellen. Das ist ein Ereignis von enormer Bedeutung und Auftakt für eine Periode großer sozialer und politischer Kämpfe in den USA.
Die Times ignoriert nicht nur diese Schlussfolgerungen, sie erklärt auch nicht, warum Bush, Ashcroft und Konsorten solche antidemokratischen Maßnahmen vorschlagen. Es gibt keinerlei Hinweis darauf, was sie motivieren könnte. Der Leser bekommt den Eindruck vermittelt, dass die Regierung lediglich auf den 11. September überreagiere und eine Reihe falscher Entscheidungen getroffen habe, denen durch Druck der öffentlichen Meinung entgegengewirkt werden könne.
Die lauwarme Reaktion der Times enthüllt das mangelnde Engagement für demokratische Prinzipien, das sie in den letzten Jahren an den Tag gelegt hat. Bei mehreren politischen Ereignissen - dem Whitewater- und dem Clinton-Lewinsky-Skandal, der Hexenjagd auf Wen Ho Lee - hat sich die Times zum Kumpanen, wenn nicht zum Sprecher extrem rechter Kräfte gemacht. Ihr Versuch, sich jetzt als Gralshüter der Verfassung zu gerieren, ist angesichts ihrer Teilnahme an den Verschwörungen der vergangenen zehn Jahre - wie bei dem versuchten außerparlamentarischen Putsch des Sonderermittlers Kenneth Starr und der Republikaner im Repräsentantenhaus - durch und durch heuchlerisch.
Die Times und die übrigen amerikanischen Medien haben ihren Teil dazu beigetragen, die extreme Rechte an die Macht zu bringen, indem sie dem amerikanischen Volk absichtlich die Gefahr verschwiegen und mitgeholfen haben, es in Sicherheit zu wiegen. Es ist keine Überraschung, wenn die Times es nicht für notwendig hält, die Skandale und Krisen vor dem 11. September und die abstoßende Rolle zu erwähnen, die sie selbst darin gespielt hat.
In dem Beitrag vom 2. Dezember wiederholen die Herausgeber der Times im wesentlichen die gleiche Argumentation wie in ihrem ersten Artikel: Die Sache der USA in Afghanistan ist gerecht und es sollte nicht zugelassen werden, dass sie durch willkürliche und undemokratische politische Maßnahmen im Innern in ein schlechtes Licht gerät. In der entscheidenden Passage des Kommentars heißt es: "Wir möchten nicht, dass dieser Moment als einer der zwiespältigen in die Geschichte eingeht, in denen unsere Regierung den Leistungen der Truppen im Feld nicht gerecht wurde."
Die Falschheit dieses Arguments, dass die diktatorischen Maßnahmen in den USA nichts mit dem Krieg in Afghanistan zu tun hätten, wird im Lichte der jüngsten Eposoden noch deutlicher: des Abschlachtens Hunderter Kriegsgefangener bei Masar-i-Scharif unter Aufsicht der CIA und des amerikanischen Militärs, standrechtlicher Erschießungen, der Aktivitäten von Folter- und Hinrichtungskommandos der CIA und der Spezialeinheiten, der Bombardierung von Zivilisten. Die Maßnahmen der Regierung beim "Krieg gegen den Terrorismus" im Inland sind in völliger Übereinstimmung mit dem Auftreten des amerikanischen Militärs in Zentralasien: Polizeistaat zu Hause, imperialistische Aggression im Ausland.
Die Argumentationslinie der Times ist unhaltbar, ja sogar absurd. Das Editorial beschreibt einigermaßen detailliert die wirklich repressiven und erschreckenden Angriffe auf Bürgerrechte und tut dann so, als ob das im Kontext eines legitimen und ehrenhaften Kriegs gegen die Terroristen in Afghanistan stattfinde, als ob diese beiden Phänomene in zwei völlig voneinander unabhängigen Welten existierten. Ist es nicht viel einleuchtender, dass zwischen den zwei Politikfeldern, die von der gleichen Regierung bearbeitet werden, ein Zusammenhang besteht?
Der Krieg in Afghanistan, so viel ist inzwischen bewiesen, ist der Versuch der amerikanischen herrschenden Elite, ihre Vorherrschaft über eine entscheidende Region der Welt in der Nachbarschaft der ans Kaspische Meer angrenzenden früheren Sowjetrepubliken herzustellen. Es geht um riesige Öl- und Gasvorkommen. Ganz allgemein gesprochen ist der Krieg in Afghanistan die erste Phase des rücksichtslosen und destabilisierenden Versuchs des US-Kapitalismus, mittels seiner überwältigenden militärischen Überlegenheit die Welt neu zu organisieren, ja zu beherrschen. Was kommt nach Afghanistan? Die reaktionären Medien - das Wall Street Journal, die Druck- und Fernseh- Medien von Murdoch - diskutieren gar nicht darüber, ob die USA einen weiteren Krieg führen werden, sondern lediglich wann und gegen wen.
Und es besteht nicht nur eine Verbindung zwischen dem Krieg und Bushs antidemokratischer Politik, sondern auch zwischen dem Krieg und Ereignissen der jüngeren Vergangenheit: der Verschwörung, einen Präsidenten des Amtes zu entheben, eine Wahl zu stehlen, die Eroberung der amerikanischen Regierung durch ultra-rechte Elemente. Selbst wenn man die offizielle Version des 11. September akzeptieren würde, was wir nicht tun, hätten die nachfolgenden Ereignisse dennoch nur einen historischen Prozess auf die Spitze getrieben, der schon eine ganze Zeit im Gange war: Die Auflösung der bürgerlichen Demokratie in den USA unter Bedingungen einer tiefen sozialen Spaltung zwischen einer Handvoll Reicher und der großen Masse der Bevölkerung.
Die Argumentation der Bush-Regierung und ihrer Sympathisanten ist wesentlich konsequenter, als die der Times -Herausgeber. Die Ersteren wiederholen gebetsmühlenartig: Wir befinden uns im Krieg, wir müssen die Terroristen auslöschen, wir brauchen außerordentliche Vollmachten, um diese Aufgabe zu erfüllen, vertraut uns. Sie sehen keinen Widerspruch zwischen dem Krieg an seinen "zwei Fronten". Und es gibt auch keinen.
Die Times hat ebenso wenig wie die Führer der Demokratischen Partei eine Untersuchung der Ereignisse des 11. September oder der nachfolgenden Milzbrandbedrohung gefordert. Am 3. Dezember wies sie selbst in einem Bericht ("Milzbrandterror weist auf Stämme Made in USA hin") darauf hin, dass jemand, der Verbindungen zum amerikanischen Militär oder seinen früheren Biowaffenprogrammen hatte, für die Milzbrandangriffe verantwortlich sein muss. Der Artikel enthielt potentiell explosives Material, aber die Herausgeber strafen seinen Inhalt großzügig mit Missachtung.
Der Artikel der Times enthält auch eine gehörige Portion Selbsttäuschung. Die Redaktion widerspiegelt das Denken einer gesellschaftlichen Tendenz, die, korrumpiert von Privilegien, von einem System profitiert, dass zunehmend auf der parasitären Akkumulation von Reichtum und der nackten Ausbeutung der Arbeiterklasse beruht, und die die Fähigkeit verloren hat, der Realität ins Gesicht zu sehen. Der Kommentar vom 2. Dezember ist halbherzig und wenig überzeugend. Indem sie den Krieg als gerechten Krieg akzeptieren, unterminieren die Herausgeber der Zeitung ihre eigene Position. Sie protestieren aus einer Position der Unterwürfigkeit heraus.
Die Times spricht für die privilegierte obere Mittelschicht, die vom Liberalismus übrig geblieben ist. Die Besorgnis dieser Schicht über Bushs reaktionäre Maßnahmen hat mehr mit ihrem Bemühen zu tun, weiterhin als eine vorgeblich liberale Fraktion des politischen Establishments aufzutreten, als mit der Verteidigung der grundlegenden Rechte des amerikanischen Volkes.
Die Befürworter sozialer Reformen in Teilen der herrschenden Elite, die in der Periode von Roosevelts New Deal in den dreißiger Jahren eine organisierte Form annahmen und über mehrere Jahrzehnte eine gewisse Stärke behielten, sind desintegriert. Der Teil der Bevölkerung, der während des Börsen- und Profitbooms der neunziger Jahre unverschämt reich wurde, ist scharf nach rechts gegangen.
Die unerträglichen Widersprüche in der Argumentation der Times wiederspiegeln die tiefe Krise der bürgerlichen Demokratie. Die Entwicklung der Zeitung ist selbst ein Abbild dieser Krise. Der Liberalismus ist heute unfähig, demokratische Rechte prinzipiell zu verteidigen. Diese Verteidigung wird auf einer neuen politischen Grundlage organisiert werden müssen.
Eine ernsthafte Opposition gegen die Maßnahmen der Bush-Regierung im In- und Ausland wird aus der einzig verbliebenden sozialen Basis für die Verteidigung demokratischer Rechte in den USA erwachsen - der Arbeiterklasse, wenn sie unter dem Eindruck enormer Ereignisse von ihrer bisherigen politischen Beziehungen und Illusionen bricht und sich einem internationalen sozialistischen Programm zuwendet.