US-Gräuel gegen Taliban-Kriegsgefangene:
Wo bleibt die Genfer Konvention?
Von Jerry White
1. Dezember 2001
aus dem Englischen (28. November 2001)
Trotz des Stillschweigens der amerikanischen Medien und der Lügen der Sprecher der Bush-Regierung wächst weltweit die Empörung über das systematische Abschlachten von Hunderten Taliban-Kriegsgefangenen in Masar-i-Scharif. Dieser Massenmord wurde vergangenen Sonntag und Montag durch US-Kampfjets und Kampfhubschrauber unter der Leitung amerikanischer Spezialeinheiten und von CIA-Personal verübt, die von mehreren Tausend Soldaten der Nordallianz unterstützt wurden. Bis zu 800 Gefangene wurden in der Festung Kala-i-Dschangi getötet.
Die Regierung von Pakistan hat das Massaker in dem Gefängnis scharf verurteilt und erklärt, dass es gegen die Resolutionen des UN-Sicherheitsrats verstoße, die Respekt vor der Genfer Konvention fordern. Sie steht unter starkem öffentlichen Druck, da sich unter den gefangengenommenen Taliban-Truppen Hunderte pakistanischer Freiwilliger befanden. Der pakistanische Militärherrscher Präsident Pervez Musharraf, der vor zwei Jahren die Macht übernahm, hat den US-Militärangriff gegen seine früheren Taliban-Verbündeten bisher unterstützt, und die US-Streitkräfte haben pakistanische Militärbasen für die Durchführung ihrer Luftschläge gegen die Gefangenen in Masar-i-Scharif benutzt.
Ein Kolumnist der pakistanischen Zeitung The Nation schreibt, dass das Gemetzel in Masar-i-Scharif "nur als eine Verschwörung und als vorsätzlicher Völkermord" gewertet werden könne. Er weist die Behauptung zurück, die Gefangenen hätten ihren Tod durch einen selbstmörderischen Aufstand selbst verschuldet, und begründet das mit den Worten: "Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Gefangene, die sich eben erst ergeben haben, ganz plötzlich in einer offenen Revolte gegen die Sieger erheben - es sei denn, ihr Leben wäre unmittelbar bedroht."
So sehr sich Vertrete der amerikanischen Regierung bemühen, das Geschehene zu vertuschen, kann es keine, auch keine militärische Rechtfertigung dafür geben, dass Hunderte gefangene Soldaten mutwillig abgeschlachtet wurden. Mehrere Zeitungen räumen ein, dass die Festung aus dem 19. Jahrhundert von Tausenden schwer bewaffneter Nordallianztruppen umzingelt war, wie auch von amerikanischen und britischen Spezialeinheiten, die auf einem Militärflughafen außerhalb der Burg stationiert sind.
Selbst wenn einige Gefangene die Waffen ihrer Wächter erbeutet haben, wie US-Vertreter und die Medien behaupten, verfügten sie weder über die personelle Stärke noch über die erforderliche Ausrüstung, um sich gegen Panzer, Kampfflugzeuge und die ihnen überlegenen Bodenkräfte ernstlich zur Wehr zu setzen. Die einzige adäquate Bezeichnung für diese Aktion des US-Militärs ist ein vorsätzlich verübtes Kriegsverbrechen.
Was in Masar-i-Scharif geschah, befand sich voll und ganz auf der politischen Linie, für die höchste US-Vertreter einschließlich Verteidigungsminister Donald Rumsfeld eintreten. Rumsfeld hat wiederholt erklärt, dass er die Tötung von Talibansoldaten, besonders wenn sie nicht aus Afghanistan stammen, einer Festnahme und Inhaftierung vorziehe.
Fast ebenso ekelerregend wie das Massaker selbst ist das allgemeine Stillschweigen der amerikanischen Medien über den kaltblütigen Mord an den Talibangefangenen. Auch die sogenannte liberale Presse bildet hier keine Ausnahme. Nicht eine einzige US-Zeitung oder ein einziger US-Sender - von denen viele eigene Reporter am Schauplatz hatten, die ganz genau wussten, was vorging - hat diese Tat ernsthaft hinterfragt.
Die US-Medien gingen mit Verachtung über das Leben Hunderter afghanischer und ausländischer Gefangener hinweg, die durch die Bomben und Kugeln starben, und richteten ihre ganze Aufmerksamkeit auf ein halbes Dutzend amerikanische Soldaten und CIA-Leute, die durch sogenanntes "friendly fire" - durch Feuer der eigenen Seite - ums Leben kamen, als US-Kampfjets das Gebäude bombardierten. CNN veröffentlichte zwar Bilder von zwölf verstümmelten Leichen, die im Innern der Gefängnisfestung herumlagen, und einige frühere Szenen, die zeigen, wie Soldaten der Nordallianz, der USA und Großbritanniens über die Umgrenzungsmauer auf die Gefangenen schießen. Aber das Medieninteresse am möglichen Tod eines CIA-Ermittlers wesentlich größer. Man stelle sich vor, wie die US-Medien berichtet hätten, wenn es umgekehrt gewesen wäre und Nordallianz-Gefangene von Talibantruppen getötet worden wären.
Die zwei führenden US-Tageszeitungen liefern ganz unterschiedliche Erklärungen für das Massaker. Die New York Times zitiert einen Sprecher des Roten Kreuzes, der behauptet, die Gefangenen hätten den Kampf angefangen, ohne dass sie von den Soldaten der Nordallianz angegriffen wurden. Sie hebt die führende Rolle amerikanischer Spezialeinheiten und von CIA-Leuten hervor, die "die Operation übernahmen" - als ob dies eine Garantie gegen ungesetzliche Morde wäre.
Die Washington Post räumt im Wesentlichen ein, dass die Gefangenen ermordet wurden, schreibt aber die Morde ganz der Nordallianz zu: "Eine genaue Todeszahl konnte nicht festgestellt werden, aber die offensichtlich große Anzahl Toter auf Seiten der Taliban bei nur vierzig getöteten Nordallianzkämpfern hat hier die Frage aufgeworfen, ob der Gewaltausbruch weniger ein Aufstand als ein Massaker war, das von den Truppen der Allianz inszeniert wurde," schrieb die Post am Dienstag.
Diese Einschätzungen stellen zwar die Fakten diametral entgegengesetzt dar, dienen aber ein und demselben politischen Zweck: nämlich zu leugnen, dass sich die US-Streitkräfte eines ungeheuerlichen Kriegsverbrechens schuldig gemacht haben. Dies zeigt die Rolle der amerikanischen Medien sehr klar: Sie sehen ihre Aufgabe nicht darin, der amerikanischen Bevölkerung objektive Informationen zur Verfügung zu stellen, sondern durch jede Art von Lügen und Fehlinformationen das Vorgehen der amerikanischen Regierung zu rechtfertigen.
Einige wichtige Fakten gelangten dennoch in den Bericht der Times. Die Zeitung berichtet, dass die Anwesenheit von CIA-Ermittlern im Gefängnishof schließlich der Funke war, an dem sich die Rebellion entzündete:
"Am Vormittag wurden einige Gefangene vom Chef des Nordallianz-Geheimdienstes für diese Region, Said Kamal, verhört, zusammen mit zwei CIA-Funktionären, wie ein Sprecher der Allianz sagte. Die Anwesenheit der Amerikaner könnte bei einigen ausländischen Taliban, die möglicherweise zu Osama bin Ladens al-Qaida-Netz gehörten oder befürchteten, in ihre Heimatländer ausgeliefert zu werden, Wut oder Verzweiflung ausgelöst haben. Eine Gruppe der Nordallianzkämpfern, die zu der Zeit in der Festung waren, sagten, der Anblick der CIA-Leute habe die Revolte ausgelöst."
Die Times bemerkt weiter, dass die Rebellion ausbrach, als die Gefangenen am Sonntag morgen durchsucht wurden: "Etwa 250 Gefangene wurden durchsucht und ihre Arme wurden gefesselt, sagten ausländische Journalisten, denen es gestattet war, die Szene zu beobachten." Dies legt den Verdacht nahe, dass viele derjenigen, die starben - 600 bis 800 Taliban, verglichen mit nur ein paar Dutzend Nordallianzkämpfern - getötet wurden, während sie gefesselt und unfähig waren, sich zu wehren.
Kriegsgefangene und die Regeln des Krieges
Es ist besonders bemerkenswert, dass weder in der Medienwelt noch in liberalen Kreisen auch nur ein Einziger die Frage nach der offensichtlichen Verletzung internationaler Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen, insbesondere der Genfer Konvention von 1949, durch die Nordallianz und das amerikanische Militär aufwirft.
Artikel 3 der Konvention erklärt: "Angehörige bewaffneter Streitkräfte, die ihre Waffen niedergelegt haben,... müssen unter allen Umständen menschlich behandelt werden und dürfen nicht aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit, Hautfarbe, Rasse, Religion, Weltanschauung... oder ähnlicher Kriterien benachteiligt werden."
Die Nordallianz hatte bereits bei der Kapitulation der Taliban in der belagerten Stadt Kundus krass gegen diesen Artikel verstoßen. Mehrere Tausend afghanische Taliban wurden bei ihrer Kapitulation sofort entlassen und entweder in die Reihen der Nordallianz eingegliedert oder nach Hause geschickt. Die ausländischen Taliban jedoch wurden entweder einer nach dem andern ermordet oder in großen Gruppen zusammengetrieben und auf Lastwagen weggefahren, um verhört, gefoltert und erschossen zu werden.
Während der wochenlangen Belagerung von Kundus gab Verteidigungsminister Donald Rumsfeld wiederholt Erklärungen ab, in denen er die Tötung oder Einkerkerung aller gefangenen ausländischen Taliban forderte - anders ausgedrückt verlangte er von der Nordallianz, systematisch die Genfer Konvention zu brechen.
Die Konvention verbietet insbesondere "Angriffe auf Leib und Leben, insbesondere Mord jeder Art, Verstümmelung, grausame Behandlung und Folter", sowie "die Verhängung von Strafen und die Ausführung von Exekutionen, ohne dass ihnen eine Verurteilung durch ein reguläres Gericht vorausging, welches mit allen juristischen Garantien ausgestattet ist, wie sie unter zivilisierten Völkern als unverzichtbar gelten".
Die Folter von Kriegsgefangenen ist insbesondere in Artikel 17 verboten, wo es heißt: "Weder physische noch psychische Folter, noch irgend eine andere Form von Zwang, darf auf Kriegsgefangene angewandt werden, um Informationen welcher Art auch immer von ihnen zu erhalten. Kriegsgefangene, die die Antwort verweigern, dürfen nicht bedroht, beleidigt oder irgendwelcher unangenehmer oder benachteiligender Behandlung unterzogen werden."
Schließlich - und von besonderer Bedeutung für die Ereignisse der letzten Tage - erklärt die Genfer Konvention in Artikel 23, dass kein Kriegsgefangener "in Gebiete verschickt oder in ihnen festgehalten werden darf, wo er Gefechtsfeuer ausgesetzt sein könnte", und dass Kriegsgefangene "vor Bombenangriffen und anderen Kriegsgefahren" geschützt werden müssen.
Dies ist nicht das erste Mal in der jüngeren Geschichte, dass US-Armeeangehörige systematisch diese "Kriegsregeln" missachtet haben. In den letzten Tagen des Golfkriegs massakrierten amerikanische Kampfjets Tausende irakische Soldaten auf ihrem Rückzug, was einen US-Piloten zur Bemerkung veranlasste, es sei, als würde man auf Fische im Trog schießen. Die Ausfallstraße von Kuwait City nach Norden war schließlich derart von verkohlten Überresten irakischer Soldaten, Lastwagen, PKWs und anderer Vehikel übersät, dass sie als "Autobahn des Todes" in die Geschichte einging.
Die Genfer Konvention wurde nach dem Zweiten Weltkrieg angenommen, um den mörderischen Tendenzen der Großmächte einige Beschränkungen aufzuerlegen. Heute straft die Bush-Regierung diese internationalen Gesetze mit offener Verachtung und begeht Kriegsverbrechen, ohne dass sich in den Vereinigten Staaten auch nur eine Stimme des Protestes dagegen erhebt.
Aufgrund des Fehlens bedeutender internationaler Proteste gegen das Massaker von Masar-i-Scharif besteht die ernsthafte Gefahr, dass ein noch größeres Blutbad in Kandahar stattfinden wird, der zweitgrößten Stadt Afghanistans, wo mehrere Tausend amerikanische Marines und Spezialtruppen und ihre neugewonnenen (und gut bezahlten) Verbündeten unter den Stammesführern der Paschtunen auf die letzte Talibanfestung vorrücken.