Anglo-amerikanische Spannungen über Afghanistan und Irak
Von Chris Marsden
19. Dezember 2001
aus dem Englischen (13. Dezember 2001)
Die britische Außenpolitik befindet sich im Zustand völliger Konfusion. Vergangene Woche schien es so, als hätte Premierminister Blair einen kleinen Sieg errungen, als US-Außenminister Colin Powell Downing Street Nr.10 besuchte und Großbritannien für das Angebot dankte, eine internationale Militärtruppe in Afghanistan zu führen, mit deren Hilfe eine dem Westen hörige Regierung gebildet werden soll.
Powell hatte erklärt, er sei "froh, dass das Vereinigte Königreich bereit ist, freiwillig eine Führungsrolle zu übernehmen". Downing Street war aber über Powells Kommentar keineswegs begeistert, sondern reagierte deutlich unterkühlt. Ein Sprecher meinte: "Es ist wichtig, eine echte Übereinstimmung der Beteiligten zu haben, darunter auch der Vereinten Nationen (UN), der Interims-Regierung in Afghanistan und unserer Verbündeten, inklusive der USA."
Vorher hatte schon das Verteidigungsministerium Berichte als "ohne jede Grundlage" zurückgewiesen, Großbritannien habe die Aufgabe übernommen, eine multinationale Truppe in Afghanistan anzuführen. Das Verteidigungsministerium sagte, Großbritannien habe zwar Hilfe angeboten, diese Unterstützung hänge aber von vielen Dingen ab, und Übereinstimmung sei noch lange nicht erzielt.
Die Nordallianz ist entschieden gegen eine umfangreiche internationale Militärpräsenz in Afghanistan, aber das ist nicht der eigentliche Grund für Blairs Zögern. Vielmehr gibt es zum ersten Mal seit Beginn des von Präsident Bush erklärten "Kriegs gegen den Terrorismus" offene Differenzen zwischen den USA und Großbritannien und innerhalb der herrschenden Eliten beider Länder. Dem Premierminister kam Powells Unterstützung für eine britisch geführte Militärpräsenz deshalb ungelegen, weil er nicht weiß, worauf er sich dabei einlässt. Ohne ein klar definiertes Mandat für eine solche Truppe fürchtet er, dass ihm ein vergifteter Kelch gereicht wird und dass die britischen Streitkräfte in Afghanistan gebunden werden sollen, damit Amerika freie Hand hat, eine Militäroffensive gegen den Irak vorzubereiten.
Kurz vor Powells Besuch hielt der Chef der britischen Streitkräfte, Admiral Sir Michael Boyce, einen Vortrag vor dem Royal United Services Institute, in dem er "eine gewisse unterschiedliche Gewichtung der USA und Großbritanniens" erwähnte. Er betonte, der Terrorismus könne nur besiegt werden, wenn man "die Herzen und Köpfe" gewinne. Seine Bemerkungen waren eine indirekte Unterstützung für diejenigen, die eine gemeinsame Anstrengung zur Stabilisierung Afghanistans fordern und vor einem neuen Krieg gegen Irak warnen. Großbritannien, sagte er, müsse sich entscheiden, entweder den Krieg auszuweiten oder sich auf Hilfe für und den Aufbau von Afghanistan zu konzentrieren.
Boyce's kritische Anmerkungen zu den Differenzen zwischen den USA und Großbritannien sind für eine so hohe militärische Persönlichkeit höchst ungewöhnlich, aber sie bestätigten nur, was nach dem Zusammenbruch des Widerstands der Taliban in Kabul schnell deutlich geworden war.
Am 15. November hatten 100 Soldaten der britischen Special Boat Services (SBS) die Kontrolle über den Flughafen von Bagram in der Nähe von Kabul übernommen. Die Entsendung der SBS war ursprünglich als Vorhut einer Truppe von bis zu 6.000 Mann aus Großbritannien, Frankreich, Australien, Kanada, Italien und mehreren muslimischen Ländern, darunter der Türkei, gedacht. Führer der Nordallianz in Kabul wandten sich aber unmittelbar gegen eine solche Intervention.
Londons Aktion hatte die Unterstützung der paschtunischen Führer im Süden und der pakistanischen Regierung, die verhindern wollten, dass die Nordallianz, die mit Indien verbündet ist, die Hauptstadt kontrolliert. Aber mit der stillschweigenden Unterstützung der USA konnte sich die Nordallianz durchsetzen. Der New York Times zu Folge waren Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und sein Stellvertreter Paul Wolfowitz gegen die Anwesenheit der Briten. Der Independent sprach offen von "gefährlichen Differenzen" zwischen London und Washington. Er zitierte eine ungenannte Quelle mit den Worten: "Das US-Außenministerium scheint in Afghanistan seine eigenen Ziele zu verfolgen, und es gibt bei den amerikanischen Vertretern und Militärs vor Ort mit Sicherheit eine Stimmung gegen die Anwesenheit einer größeren Anzahl britischer Truppen."
Unmittelbar nach den Attacken vom 11. September hatte Blair versucht, Großbritannien als Schlüsselalliierten der USA im "Krieg gegen den Terrorismus" zu positionieren. Er hatte gehofft, er könne die mit Clinton angeknüpfte Beziehung erneuern und die internationale Bedeutung Großbritanniens künstlich aufblähen, besonders gegenüber seinen wichtigsten europäischen Rivalen Deutschland und Frankreich. Blair sah darin eine Gelegenheit, die britischen Interessen voranzubringen. Er prägte den Ausdruck, das Kaleidoskop der Weltpolitik sei durcheinander geschüttelt worden und die Einzelteile hätten noch nicht wieder ihren Platz gefunden.
Nachdem er von den USA öffentlich gedemütigt und zur Rücknahme der geplanten Truppenentsendung gezwungen worden war, wurde Blair von den Medien, die ihn bisher unterstützt hatten, mit Kritik überzogen. Sie werfen ihm jetzt vor, das Erstgeburtsrecht Großbritanniens gegen ein Linsengericht verkauft zu haben. Auch in seinem eigenen Kabinett gab es tiefe Meinungsverschiedenheiten.
Am 21. November griff Entwicklungshilfeministerin Clare Short die USA an, weil sie "Marmelade, Crackers und Erdnussbutter" abwürfen, während sie gleichzeitig nicht bereit seien, eine sogenannte "humanitäre Mission" zu unterstützen, die natürlich unter britischer Führung stünde. Am 22. November verband Short ihre gegen die USA gerichteten Bemerkungen mit einer pro-europäischen Position. Sie sagte der BBC: "Wir und die Franzosen waren bereit, reinzugehen... bedauerlicherweise hat es eine Verzögerung gegeben."
Außenminister Jack Straw versuchte die Wogen zu glätten, lobte die humanitäre Arbeit der USA und betonte die Übereinstimmung über die militärische Strategie zwischen London und Washington. "Genau wie wir stehen sie für eine Strategie, die auf den drei Pfeilern - militärische Aktion, Politik und humanitäre Unterstützung - ruht."
Eine freimütigere Einschätzung gab Simon Jenkins von der Times am 21. November. Sein Artikel war, wie viele andere, von offener Opposition gegen die USA gekennzeichnet. Er schäumte: "Tony Blair erklärte in seiner Brighton-Rede vergangenen Monat, er werde Afghanistan nicht aus dem Wege gehen'. Das war seine Gegenleistung für die Bombardierung. Er versprach, Großbritannien werde die Stabilität in dem Land wiederherstellen und politisches Leben unter Beteiligung aller Gruppen' wieder möglich machen. Das hörte sich toll an, aber er vergaß, den großen Bruder zu fragen, ob er einverstanden sei. Der große Bruder ist nicht einverstanden."
Der Independent bemerkte am 21. November: "Das Vorgehen im Krieg in Afghanistan ist immer noch weitgehend eine Show made in America.... Die Situation in Bagram illustriert deutlich, dass das britische Vorgehen sowohl politischen und diplomatischen als auch militärischen Beschränkungen unterliegt - und sie sind viel strenger, als Mr. Blair das erwartet hat."
Zwei Tage später verurteilte der Guardian die Rede Bush's vor den Truppen der 101. Division in Fort Campbell, Kentucky, wegen "ihres kriegerischen Tons und ihrer weitreichenden Ambitionen... Hier beanspruchte der Oberkommandierende der USA erneut das moralische Recht, jedes Mittel, inklusive militärischer Gewalt, einzusetzen, jeden zu vernichten, den er willkürlich zu einem Terroristen, einem Sympathisanten von Terroristen oder einem anderswie begründeten Feind Amerikas im In- oder Ausland ernennt."
In der gleichen Zeitung wies am 27. November Hugo Young auf Bushs spezielle Drohungen gegen den Irak hin und warnte: "Der Präsident mobilisiert den nationalen Willen Amerikas in einer Weise, wie wir es lange nicht gesehen haben... Der scheinbar leichte Sieg in Afghanistan heizt die amerikanischen Ambitionen an, der Super-Erzwinger der Welt zu sein.... Es ist unmöglich, die Rede zu schreiben, die Blair vielleicht wird halten müssen, um die Aufkündigung seiner Unterstützung zu rechtfertigen. Vielleicht möchte er sie gar nicht halten. Aber wenn er hilflos im Schlepptau mitgezogen wird, wird seine Statur in der Welt nicht gerade wachsen."
Konflikte über den Irak
Die Unstimmigkeiten in der Blair-Regierung über Afghanistan sind nichts verglichen mit den Konflikten, die unter der Oberfläche über die Frage wüten, ob eine US-Intervention gegen den Irak unterstützt werden soll. Verteidigungsminister Geoff Hoon hat regelmäßig deutlich gemacht, dass sein Zögern, sich in eine umfangreiche Polizeioperation in Afghanistan hineinziehen zu lassen, durch die Angst motiviert ist, im Falle eines Kriegs gegen den Irak den Anschluss zu verpassen.
Im Gegensatz dazu wurde ein nicht genannter britischer Minister im Telegraph mit den Worten zitiert: "Wir sind in Afghanistan - wir sind nicht an einem Kreuzzug rechtsradikaler Amerikaner interessiert. Es ist offensichtlich, dass die Falken nur nach einem Casus Belli Ausschau halten, um den Irak anzugreifen. Aber es gibt keinerlei Beweise, dass der Irak zur Zeit in terroristische Aktivitäten verwickelt ist."
Den USA sind diese Differenzen wohl bewusst. Ein führendes Mitglied von Bushs militärischem Planungsstab erklärte der gleichen Zeitung: "Wissen Sie, was Jack Straw sagte, als er hier war? Ich zitiere: Unser Problem mit dem Irak sind 250 Leichen - auf den Hinterbänken der Labour-Party-Fraktion.'"
Ein möglicher Angriff auf den Irak ist auch der zentrale Punkt der auseinanderlaufenden Interessen der USA und der übrigen europäischen Mächte. Deutschland, Frankreich und Russland haben sich deutlich gegen militärische Maßnahmen gegen Bagdad ausgesprochen. Am 28. November drängte der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder die Vereinigten Staaten, den Krieg nicht auf "Ziele im Nahen Osten" auszudehnen - eine offensichtliche Anspielung auf den Irak. "Wir sollten sehr zurückhaltend sein bei der Diskussion neuer Ziele im Nahen Osten. Uns könnte mehr um die Ohren fliegen, als jeder von uns zu träumen in der Lage ist." Außenminister Joschka Fischer sagte vor dem Bundestag, alle europäischen Länder betrachteten die in der USA geführte Diskussion über Angriffe auf den Irak "mit äußerster Skepsis, um es diplomatisch zu formulieren".
Die Regierung Putin in Moskau äußerte, sie verstehe, dass der Brennpunkt des Kampfs gegen den Terrorismus sich außerhalb Afghanistans verlagern könne, aber ließ erkennen, dass Russland sich aus der internationalen Koalition zurückziehen werde, wenn der Irak angegriffen würde. Der stellvertretende Außenminister Alexander Saltanow sagte, ein unprovozierter Schlag gegen den Irak würde "es sehr schwierig machen, die Einheit der Koalition gegen den Terrorismus aufrecht zu erhalten" und hätte "sehr negative Auswirkungen auf die Situation im Nahen Osten".
Über diese Frage könnten Blairs Bemühungen, ein militärisches Bündnis mit dem US-Imperialismus und die Entwicklung eines europäischen Handels- und Militärblocks auf einen Nenner zu bringen, ins Straucheln geraten - und das könnte verheerende Folgen für seine Regierung und die strategischen Interessen des britischen Imperialismus haben.
Der Independent fasste das Dilemma des Premierministers folgendermaßen zusammen: "Blair weiß, dass die Koalition fast sicher auseinander fallen würde, nicht nur in der muslimischen Welt, sondern auch im größten Teil Westeuropas, insbesondere mit Frankreich. Die Frage, ob er seinen Platz als hochgeschätzter Verbündeter der US-Regierung oder aber seinen Einfluss in Europa und womöglich weit darüber hinaus verliert, stellt sich jetzt viel schärfer. Unter diesen Umständen wird es mit den Worten eines seiner Kollegen sehr schwierig' werden, die USA zu unterstützen, und genauso schwierig', es nicht zu tun."
Wie eine Wetterfahne versucht Blair es beiden Seiten recht zu machen. Während er in Bagram von den USA vor den Kopf gestoßen wurde, sprach er gleichzeitig vor dem Parteitag der regierenden deutschen Sozialdemokraten, wo er seine Unterstützung für die Neuauflage des deutschen Militarismus durch Kanzler Gerhard Schröder zu Protokoll gab: "Es ist die Zeit für Kühnheit, Mut und Stärke... Nach dem 11. September ist eine verstärkte [militärische] Effektivität Europas um so dringlicher."
Am 29. November trafen sich Blair und der französische Präsident Chirac in Downing Street und warnten die Hardliner in den USA in einer Erklärung vor einem Krieg gegen den Irak. Chirac sagte: "Eine Intervention hätte ernste Konsequenzen für die internationale Koalition gegen den Terrorismus."
Laut Berichten verlassen sich britische Vertreter auf die Unterstützung Powells und auf seine Fähigkeit, eine Fraktion von Falken im Umkreis des Pentagon im Zaum zu halten, zu der Rumsfeld, Wolfowitz, Bushs Berater Richard Perle, der pensionierte General Wayne A. Downing, der Chef der Terrorismusbekämpfung und I. Lewis Libby, der Stabschef des Vizepräsidenten gehören. Eine britische Quelle äußerte gegenüber der Presse: "Die wirkliche Spaltung zieht sich nicht durch den Atlantik, sondern durch den Potomac River in Washington. Wir nutzen jede Gelegenheit, Powell zu unterstützen und den kühlen Köpfen die Oberhand zu sichern."
Am 3. Dezember machte Blair aber eine Kehrtwende und erklärte, dass britische Truppen an einer militärischen Offensive gegen den Irak teilnehmen könnten. Es war offensichtlich, dass er sich im eigenen Land vom Parteiführer der Konservativen, Ian Duncan Smith, unter Druck gesetzt fühlte, der ihm die Schau treuester Verbündeter der USA zu stehlen versuchte. Der Tory-Führer hatte am 28. November in Washington Bush und viele hohe Politiker getroffen und ihnen seine volle Unterstützung für einen amerikanischen Krieg gegen den Irak versichert.
Aber was letztlich entscheidend für seine Wende gewesen sein muss, waren die immer offeneren Drohungen der USA gegen den Irak, die ihn zur Überzeugung brachten, die Falken im Pentagon würden sich früher oder später durchsetzen. Auf die Frage, ob Großbritannien sich an einem Krieg gegen Bagdad beteiligen könnte, gab Blair sein bisheriges Zögern auf und antwortete: "Die internationale Koalition ist eine Koalition gegen den Terrorismus - in allen seinen Formen."
Blairs kühle Antwort auf die Frage nach einer britischen Truppenpräsenz in Afghanistan muss im Lichte seiner Erwartung eines Krieges gegen den Irak verstanden werden. In dem gleichen Interview fügte er hinzu: "Man kann den Zeitpunkt nicht genau festlegen, an dem unsere Rolle enden wird, aber es ist nicht unsere Aufgabe, Afghanistan - mit Truppen - wiederaufzubauen."
Nach dieser Erklärung Blairs verfiel die Regierungsmaschinerie in hektische Aktivitäten, um sich auf einen möglichen Angriff auf Bagdad vorzubereiten. Am 6. Dezember teilte Jack Straw dem Außenpolitischen Ausschuss des Unterhauses mit, dass Großbritannien bereit sei, "Präventivschläge" gegen Länder zu führen, die angeblich eine "terroristische" Bedrohung darstellten. Er ließ durchblicken, dass die Entwicklung von "Massenvernichtungswaffen" durch den Irak höchst besorgniserregend sei, und dass "etwas dagegen getan werden" müsse.
Zur gleichen Zeit sagte Verteidigungsminister Hoon vor dem Centre for Defence Studies, Großbritannien müsse bereit sein, bewaffnete Präventivschläge zu führen, Staaten zum Nachgeben zu zwingen und auf der ganzen Welt Terroristen und diejenigen, die ihnen Unterschlupf gewähren, aufzuspüren und zu vernichten. Die Militärstrategie zeige, dass es oft besser sei, "den Feind auf die Entfernung ins Visier zu nehmen, bevor er die Gelegenheit zum Angriff hat," sagte er.
Wieder einmal tanzt Blair nach der Pfeife von Washington, weil er hofft, mit einem Anteil an der Beute belohnt zu werden. Aber es gibt keinen Grund zu glauben, dass seine Hoffnungen erfüllt werden. Entgegen seiner eigenen aufgeblasenen Selbsteinschätzung ist sein Ansehen auf dem Kapitol nicht sonderlich hoch. In Washington gehen nicht viele davon aus, dass sie ihm besonderen Dank schuldig seien. Ironischerweise scheint es den USA zuzufallen, Blair die wirkliche Bedeutung von Lord Palmerstones Bemerkung unter die Nase zu reiben, der gesagt hat, dass Nationen keine ständigen Freunde, sondern nur ständige Interessen haben.