Marxismus und die AIDS-Dissidenten
Teil 3 - Medikamentenbehandlung, statistische Studien und Pharma-Konzerne
13. Dezember 2001
aus dem Englischen (2. Februar 2001)
Dies ist der dritte und letzte Teil einer Antwort von Chris Talbot auf eine Reihe von Briefen, die die Theorien der sogenannten Aids-Dissidenten unterstützen.
Erster Teil - Die Kritik der Dissidenten an den orthodoxen Aids-Theorien
Zweiter Teil - Wissenschaftliche Objektivität
Die Methode der Dissidenten versagt auch in Bezug auf die Medikamentenbehandlung und die Tests zur Feststellung von HIV/Aids-Symptomen. In der Tat ist die Herangehensweise der Dissidenten an medizinische Fragen, wenn sie sie überhaupt in Betracht ziehen, genauso vereinfachend wie ihre Einstellung in politischen und sozialen Fragen.
Die immer wiederkehrende Leitidee der Aids-Dissidenten ist, dass mächtige Pharma-Konzerne ein giftiges Medikament in den Markt gepuscht hätten, ohne dass es ausreichend getestet worden sei. Sie malen das Bild einer Verschwörung, die fast den gesamten medizinischen Berufsstand, Regierungen und Pharma-Unternehmen umfasst und die zur Folge hat, dass Medikamente, die zur Linderung von Aids-Symptomen verschrieben werden, in Wirklichkeit zum Aids-Tod führen.
Warum behaupten sie zum Beispiel, das Medikament AZT, das als erstes umfassend von Aids-Patienten eingenommen wird, sei nicht nur wertlos, sondern auch dermaßen giftig, dass es Patienten umbringe? Als erstes wollen wir uns die wissenschaftliche Seite ansehen.
AZT ist ein sogenannter DNS-Ketten-Terminator. Es greift die DNS der Zelle an und verhindert, dass sie sich vermehrt, was entscheidend ist bei dem Versuch, die Reproduktion von Aids-infizierten Zellen aufzuhalten. Aus dieser theoretischen biochemischen Erklärung hat Duesberg geschlossen, dass AZT alle Zellen des Körpers angreift. Dies ist auch das Argument, das TS in Bezug auf den Einsatz von AZT zur Unterbindung von Aids-Übertragung von Müttern auf ihre Babys wiederholt.
Es sind allerdings nicht nur die Aids-Dissidenten unter den Wissenschaftlern, die über diese Gefahr nachgedacht haben. Montagnier zum Beispiel hat dieselbe Frage aufgeworfen: "Tötet AZT nicht alle Zellen?" Und seine Antwort: "Tatsächlich tut es das, aber nur in Dosen, die viel höher sind als diejenigen, die man braucht, um aktiv gegen das Enzym des Virus vorzugehen." [37] Die AZT-Theorie, erklärt er, geht davon aus, dass es das Reverse-Transkriptase-Enzym angreift, die das HIV benutzt, um sich zu vermehren. Montagnier erklärt weiter, weil AZT die DNS angreife, produziere es tatsächlich ernste Nebenwirkungen; aber eine angemessen niedrige Dosis verringere solche Nebenwirkungen. Selbst bei den erst später entwickelten effektiveren Kombinations-Therapien, bei denen verschiedene Medikamente eingesetzt werden, führt Montagnier die schweren Probleme an, die durch die Behandlung entstehen - Anämie, Schädigungen von peripheren Nerven, was zu Schmerzen und Lähmung führt, Übelkeit, Durchfall und Überempfindlichkeit der Haut- sowie des Verdauungstrakts. Zu den Langzeitfolgen kann das Ansteigen des Cholesterinspiegels gehören, was zu Herzkrankheiten führt. [38]
Anders ausgedrückt, wir sehen, dass orthodoxe Aids-Wissenschaftler Duesbergs Sorgen hinsichtlich der Toxizität von Aids-Medikamenten teilen - innerhalb gewisser Grenzen. In einer entsprechend hohen Dosis tötet AZT alle Zellen ab, und selbst bei niedrigeren Dosen hat es ernsthafte Nebenwirkungen. Aber an diesem Punkt müssen wir übergehen von der Biochemie zur medizinischen Praxis.
Die wissenschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte haben Tausende neue Behandlungsmöglichkeiten mit Medikamenten hervorgebracht und die medizinische Praxis musste sich entsprechend darauf einstellen. Wenn man sie in falscher Dosierung einnimmt, sind vieler dieser Medikamente "giftig", und viele haben ernste Nebenwirkungen. Aber wenn sie mit Umsicht angewandt werden, dann stehen heute Behandlungen zur Verfügung, die zumindest das Leben von Patienten, für die es zuvor keinerlei Hoffnung gab, verlängern können. Der ständige Verweis der Aids-Dissidenten darauf, die Aids-Medikamente seien "giftig", dient dazu, mögliche Behandlungsmethoden abzulehnen, statt sich den wirklichen Schwierigkeiten zuzuwenden, mit denen Arzt und Patient konfrontiert sind, wenn man sich für eine spezielle Therapie entscheiden muss. Würden die Dissidenten dieselben Argumente, die sie gegen Aids-Medikamente vorbringen, auch gegen Medikamente richten, die in der Krebs-Therapie oder bei anderen Krankheiten verwandt werden und die genauso "giftig" sind und drastische Nebenwirkungen haben? Die Dissidenten kümmern sich nicht um diese weitergehenden Aspekte der Behandlung mit Medikamenten.
In der Medizin basieren viele Entscheidungen darüber, welcher Weg bei der Behandlung eingeschlagen werden sollte, auf der Erfahrung des Mediziners, der die Vor- und Nachteile verschiedener Strategien abwägt, seiner Kenntnis der Geschichte des Patienten und so weiter. Sie sollten auch auf einer sachkundigen Diskussion mit dem Patienten basieren, um soviel wie möglich über seine Krankheit zu erfahren. Theoretische Erwägungen aus der Biochemie können eine Richtschnur sein; aber der gegenwärtige Kenntnisstand über dieses Thema weist trotz der revolutionären Entwicklungen in der letzten Epoche ernsthafte Unzulänglichkeiten auf, wenn er auf die komplexen Zusammenhänge des menschlichen Körpers angewandt wird. Man geht davon aus, dass "nur etwa 15 Prozent der medizinischen Eingriffe von zuverlässigen wissenschaftlichen Beweisen gestützt werden". [39]
Bevor wir diese Diskussion über die medizinische Praxis weiterführen, müssen wir uns mit dem wesentlichen Problem auseinandersetzen, mit dem Millionen von Menschen in der westlichen Welt und noch viele mehr in den unterentwickelten Länder konfrontiert sind: mit dem eingeschränkten Zugang zu Medikamentenbehandlungen. Medikamente und öffentliche Gesundheitsversorgungssysteme, die diese Behandlungen anbieten, sollten allen zugänglich sein, die sie brauchen. Stattdessen wird die Verfügbarkeit immer mehr auf eine reiche Elite eingeschränkt. Im Westen werden Medikamente rationiert, während gleichzeitig ihr Preis in einer Höhe festgesetzt wird, der weit über den Möglichkeiten der meisten unterentwickelten Länder liegt. Zusammenbrechende öffentliche Gesundheitssysteme, Mangel an Ärzten und ausgebildetem Personal, fehlende technische Ausrüstung auf dem neuesten Stand - das ist die Wirklichkeit, der man sich zuwenden muss. Im Zentrum dieser zugespitzten Lage, die in Afrika derart katastrophale Ausmaße angenommen hat, dass Millionen junger Menschen unnötig sterben, stehen die transnationalen Pharma-Konzerne, die riesige Profite machen, und Regierungen, deren Ausgaben für die Gesundheit von der globalen Finanzwelt diktiert werden.
Es ist reine Ablenkung, wenn man alle Aufmerksamkeit auf eine angebliche Verschwörung mit dem Ziel richtet, eine Krankheit "zu erfinden" und dann ein giftiges Medikament zu produzieren, dass diese Krankheit hervorruft. Die wirkliche Verschwörung ist die einer reichen Minderheit, die ihre Profite über die Bedürfnisse der großen Mehrheit der Weltbevölkerung nach Medikamenten und angemessener medizinischer Versorgung stellt.
Wenn die Arbeiten der Dissidenten die Profite in Betracht ziehen, die mit Medikamenten erzielt werden, dann tun sie das auf eine sehr einseitige Art und Weise. Joan Shelton zum Beispiel erklärt - wie auch MS, die "Geld, sehr viel Geld" im Zentrum der Verschwörung sieht - : "Wissenschaft kann gekauft werden, und eine abweichende Meinung kann zum Schweigen gebracht und als unerheblich abgetan werden wegen der enormen Summen, die dazu dienen, eine allgemein vorherrschende Hypothese zu verteidigen." [40] Aber wenn sie über die teuren Kombinationsmedikamente spricht, die jetzt bei Aids-Patienten angewandt werden, dann verliert sie kein Wort über Profite. Ganz im Gegenteil, sie akzeptiert die Auffassung, dass nur eine begrenzte Menge Geld für die Gesundheitsversorgung zur Verfügung steht, das rationiert werden muss. Das Recht der Pharma-Firmen, unmäßige Profite zu machen, und die Behauptung, Regierungen müssten die Ausgaben für die Gesundheitsversorgung senken, werden nicht in Frage gestellt.
So wie sie darauf bestehen, sämtliche medizinischen Überlegungen auf die Biochemie zu reduzieren, so ziehen die Dissidenten speziell ein Gebiet der modernen Medizin in ihre Betrachtungen ein: die medizinische Statistik - klinische Versuche, epidemiologische Studien und so weiter. Hier befinden wir uns auf einem Gebiet, auf dem es ebenfalls keine schwarz-weiß Ergebnisse gibt und auf dem endlose Kontroversen möglich sind, so wie es ein Buch über dieses Thema beschreibt: "Im Bereich der medizinischen Behandlung gibt es nur wenige Situationen, in denen man nicht noch einen weiteren Faktor berücksichtigen, eine weitere Studie durchführen oder eine neue Variante einer Hypothese aufstellen könnte... Die Antwort darauf, ob ein bestimmter Zusammenhang ein ursächlicher Zusammenhang ist, ist nicht ein einfaches ja oder nein, sondern erfordert wohldurchdachte und der Wahrscheinlichkeit entsprechende Überlegungen." [41]
Duesberg wurden zum Beispiel, als er und Ellison 1990 in der Zeitschrift Policy Review die Theorie über "Risiko-Verhalten" als Ursache für Aids vorstellten, mit den epidemiologischen Ergebnissen der "San Francisco Men's Health Study" konfrontiert. Von den 386 homosexuellen Männern, die HIV-positiv waren, als sie sechs Jahre zuvor Teilnehmer der Untersuchung wurden, hatten 140 Aids entwickelt und die meisten davon waren gestorben. 40 Männer hatten sich angesteckt, seit sie an der Studie teilnahmen, und zwei davon entwickelten später Aids. Von den 370 homosexuellen Männern der Studie, die HIV-negativ waren, hatte keiner Aids entwickelt. [42]
Duesberg und Ellison reagierten darauf, indem sie erklärten, es gäbe zwar einen Zusammenhang zwischen Aids und HIV-Infektion, aber das würde nicht die These widerlegen, dass Risiko-Verhalten die zugrundeliegende Ursache sei. Als 1993 eine weitere Analyse der San-Franzisko-Studie veröffentlicht wurde, in der kein bedeutsamer Zusammenhang zwischen Drogeneinnahme und Aids nachgewiesen wurde, war Duesbergs Reaktion drauf, die Daten über Drogeneinnahmen seien oberflächlich und unzureichend, weil die Teilnehmer nicht über Drogenkonsum in den Jahren vor der Studie befragt worden und keine Drogentests gemacht worden seien. [43] Aids-Dissidenten fordern immer noch weitere statistische Studien, in denen die Drogengewohnheiten der Teilnehmer genauer untersucht werden. Angesichts der Tatsache, dass Drogenkonsum illegal ist, könnten die Befragten natürlich lügen. Aber wir sehen hier sehr deutlich, dass "wohldurchdachte und der Wahrscheinlichkeit entsprechende Überlegungen" nicht das Kennzeichen von Duesbergs Herangehen an statistische Studien sind.
Ähnliche Probleme der Interpretation tauchen in der Einschätzung von klinischen Tests zur Untersuchung der Wirksamkeit von Medikamenten auf. Und hier ist das Problem noch komplexer weil (a) Patienten, die an Aids zu sterben drohen, verständlicherweise alles versuchen, um neue Medikamententherapien auszuprobieren, von denen sie hoffen, dass sie ihr Leben verlängern, und (b) es eine ebenso verständliche Tendenz gibt, die anfänglichen Erfolge einer Medikamentenbehandlung zu übertreiben und umgekehrt eine Tendenz, eine Medikamentenbehandlung abzulehnen, wenn sich nach begrenztem Erfolg Enttäuschung breit macht.
Zu diesen Problemen kommt noch die schädliche Rolle der Pharmaindustrie. Natürlich besteht ihre Perspektive darin, die Deregulierung voranzutreiben, und sie beschäftigt riesige Presse- und Werbeabteilungen, um Ärzte und Patienten zu überzeugen, ihre Produkte zu benutzen. Darüber hinaus finanziert sie Patientengruppen, um die Unterstützung für ihre Medikamententherapien zu erhöhen; sie dominiert den größten Teil der Forschung auf dem Gebiet der Biochemie und Medizin, in wachsendem Maße finanziert sie die Forschung an den Universitäten, und sie finanziert sogar akademische Zeitschriften mit ihren Anzeigen.
Wie soll man auf eine solche Situation reagieren? Wiederum ist die Reaktion der Dissidenten viel zu stark vereinfachend. Joan Shenton befasst sich recht detailliert mit den Tests, mit denen AZT, das erste Anti-HIV-Medikament 1986 eingeführt wurde. Medikamente sollen mehrere Testphasen durchlaufen, strenge Prozeduren, die speziell nach dem Contergan-Fall in den 60er Jahren entwickelt wurden, als verkrüppelte Kinder zur Welt kamen, nachdem ihre Mütter das Medikament während der Schwangerschaft eingenommen hatten.
Wenn neue Medikamente an einer Gruppe von Patienten ausgetestet werden, werden statistische Standardmethoden angewandt, darunter der Doppel-Blind-Test, bei dem weder der Patient noch der Arzt wissen, was wirkliche Medikamente und was Placebos sind. Shenton enthüllt, wie die AZT-Tests, die von dem Hersteller Burroughs Wellcome finanziert wurden, auf höchst unzulängliche, wenn nicht betrügerische Weise durchgepeitscht wurden, was dann von der US-Behörde für Lebensmittel und Medikamente [US Food and Drug Administration, FDA] vertuscht wurde. Patienten, die an der Erprobung beteiligt waren, fürchteten, möglicherweise Placebos zu bekommen; deshalb schickten sie Medikamente zu einer unabhängigen Analyse. Die verzweifelte Bemühen der sterbenden Aids-Opfer, das neue Medikament auszuprobieren, war so groß, dass bestimmte Gruppen von Testpatienten ihre Medikamente mit anderen teilten, damit alle wenigstens einen kleinen Teil von AZT abbekamen.
Was Shenton nicht erklärt, bei Steven Epstein (siehe [23] in Teil 2 der Serie) aber detailliert ausgeführt wird, ist die Rolle der Homosexuellenbewegung, die forderte, AZT rasch zur Verfügung zu stellen. Aids-Aktivisten behaupteten, sie seien das Opfer von "Gruppenmord durch Vernachlässigung" und forderten "Medikamente für die Körper"; sie demonstrierten vor der Hauptverwaltung der FDA und griffen bei Veranstaltungen von Aids-Wissenschaftlern ein.
Während die Verzweiflung der unter Aids leidenden Patienten verständlich ist, fanden sie unerwartete Verbündete, als sie Druck auf das FDA mit dem Ziel ausübten, die Erprobungen zu umgehen. Die rechte Denkfabrik Heritage Foundation und das Wall Street Journal erkannten in Aids die Möglichkeit, die bundesstaatlichen Vorschriften abzubauen. Als der Vorsitzende des Unterausschusses des Repräsentantenhauses zu Gesundheitsfragen gegen die Deregulierung auftrat, erklärte das Wall Street Journal: "Wenn er die Initiative der Regierung ablehnt, dann wird es interessant werden, wie er das den Aids-Opfern in seinem Wahlbezirk West Hollywood erklären wird." [44] Mächtige finanzielle und politische Interessen innerhalb der Reagan-Regierung kamen ins Spiel. Der Wert der Burroughs-Wellcome-Aktien stieg angesichts der Aussicht, eins ihrer Produkte könnte das erste erfolgreiche Anti-HIV-Medikament sein. Epstein erklärt, dass es nicht lange dauerte, bis Pharmafirmen begannen, Aktivistengruppen zu finanzieren - und damit ernstlich deren Anspruch aufs Spiel setzten, die Interessen der Aids-Kranken zu vertreten.
Das Ergebnis der Deregulierung in den Vereinigten Staaten ist, dass Pharmakonzerne bei Aids-Medikamenten keine umfangreichen klinischen Erprobungen mehr durchführen müssen; das bedeutet, dass, sobald die neuen Kombinationsmedikamente entwickelt sind, sie sofort in den Krankenhäusern ausprobiert werden. "Da die Mediziner sich auf immer neue und breitere Gebiete der HIV-Behandlung vorwagen, bewegt sich das gewaltige Experiment mit Kombinationstherapien... ohne ordentliche Datenerfassung voran. Keiner kann das noch verfolgen." [45] Es gibt ein paar Daten, aber da sie nicht aus klinischen Erprobungen stammen, entsprechen sie nicht den wissenschaftlichen Standards, die normalerweise erforderlich sind. Die Deregulierung durch Regierungen, die vor den Forderungen der Pharmakonzerne und der Aids-Aktivisten zurückweichen, die den Verkauf der neuesten Medikamente ohne vorherige umfassende klinische Erprobung verlangen, hat eine ernste Situation geschaffen, die mit einem erneuten Ansteigen von Aids-Todesfällen zu einer Krise in den westlichen Ländern führen könnte. Und das kommt noch zu der bisher schon furchtbaren Situation in Afrika und den unterentwickelten Ländern hinzu.
Die Reaktion der Dissidenten war, zu leugnen, dass die Kombinationsbehandlungen irgendwelche Wirkungen haben. In Wirklichkeit hatten sie eine beachtliche Wirkung, und genau das ist das Problem.
Obwohl langfristige statistische Studien fehlen, schauen wir uns die Zahl der Aids-Toten in den USA an. 1993 starben 44.730 Menschen an Aids, die Zahl wuchs 1994 auf 49.095 und erreichte 1995 mit 49.456 den Höhepunkt. Dann ging sie 1996 jäh auf 36.510 zurück und fiel in den nächsten zwei Jahren auf 20.732 und 16.317 (siehe auch die Aufstellung des US-Gesundheitsbehörde). [46] TS argumentiert, dieser jähe Rückgang an Aids-Sterblichkeit sei eine Folge des Rückgangs an neuen Aids-Fällen und wiederholt das von Dissidenten vorgelegte Material, das die Wirkung von Medikamenten leugnet. Auf der Grundlage von Forschungen des Direktors des Gesundheitsamtes von San Franzisko, Dr. Mitch Katz, behaupten die Dissidenten, wenn man die Änderung der Definition von Aids durch medizinische Experten berücksichtige, könne der Rückgang an Aids-Todesfällen vollständig durch diesen früheren Höhepunkt bei der Rate an HIV-Übertragungen erklärt werden. Tatsächlich war die von Katz vorhergesagte nierdrigere Rate an neuen Aids-Fällen immer noch sehr viel höher als die, die von 1997 an tatsächlich beobachtet wurde. [47] Dieser Rückgang an Aids-Todesfällen bezieht sich nur auf die Vereinigten Staaten. In Europa, wo die Behandlung kostenlos ist, war der Rückgang noch steiler: 80 Prozent zwischen 1994 und 1998. [48]
Weil keine Langzeitstudien zur Verfügung standen, erzeugte der anfängliche augenscheinliche Erfolg der Medikamente eine Euphorie bei vielen Aids-Patienten und Wissenschaftlern. Natürlich waren die Pharmaunternehmen in der Lage, ihre Profite in die Höhe zu treiben, indem sie verschiedene Kombinationstherapien zu enorm überhöhten Preisen verkauften Die Folge war, dass eine gefährliche Selbstzufriedenheit genährt wurde. Wie Laurie Garrett erklärt, gibt es drei Studien, die letztes Jahr veröffentlicht wurden und die zeigen, dass sich in den USA und Europa medikamtenresistente Abarten des HIV-Virus verbreiten. [49] Es erscheint wahrscheinlich, dass die Medikamente, die zur Zeit zur Aids-Behandlung eingesetzt werden, nur etwas Zeit herausschinden werden, vielleicht einige Jahre, bevor der Virus sich wieder geltend macht. Die meisten Wissenschaftler auf diesem Gebiet erklären, der Grund dafür liege darin, dass der HIV-Virus sich sehr schnell verändere, so dass auch veränderte Kombinationen der eingesetzten Medikamente letztendlich nicht in der Lage sind, die Verbreitung der Krankheit aufzuhalten.
In den USA hat die Medieneuphorie, die verkündete, die Krankheit sei "besiegt", dazu geführt, "dass dringend benötigte Aids-Pflegeeinrichtungen geschlossen und Teams von Wissenschaftlern, Ärzten und Krankenschwestern aufgelöst wurden, die bis dahin die Ergebnisse der Patientenbehandlungen in einem Umfang überwacht hatten, dass daraus statisch relevante Daten gewonnen werden konnten". [50] Es sieht jetzt so aus, als ob die HIV-Infektion unter homosexuellen Männern anwächst und dass es einen zunehmenden Trend zu ungeschütztem Sex gibt, in dem Glauben, die Infektion sei nicht mehr gefährlich.
Wahrscheinlich hat die Konzentration darauf, nicht ausführlich getestete Medikamente anzubieten, zu einer Selbstzufriedenheit geführt, die der langfristigen Forschung einen ernsthaften Schaden zugefügt hat. Ganz sicher wurde sehr wenig Mühe auf die Entwicklung eines Impfstoffs gegen Aids verwendet. Garrett erklärt die Haltung in Bezug auf Impfstoffe: "Im Jahr 2000 gab es keine solche Lösung. Und, was noch wichtiger war, es spielte in den Forschungs- und Entwicklungsvorhaben der großen Pharma-Konzerne keine Rolle; in erster Linie deshalb, weil keine zukünftige Profitabilität gesehen wurde."
Obwohl die Medikamente für viele Aids-Patienten einen zeitlichen Aufschub bedeuten, sollte man noch einmal betonen, dass das nur für diejenigen gilt, die sich diese Behahndlung leisten können (ab 10.000 Dollar im Jahr aufwärts). Die Kosten umfassen nicht nur die Kombinations-Medikamente, sondern auch medzinische Pflege und Überwachung, die man bei der Einnahme eines solchen Medikamenten-Cocktails braucht, der oft schwerwiegende Nebeneffekte hat. Dass immer weniger Menschen Zugang zu medizinischer Behandlung haben, gilt nicht nur für die unterentwickelten Länder, sondern in wachsendem Maße auch für die USA. Erhebungen in Amerika zeigen, dass mehr als die Hälfte der HIV-Infizierten sich die Behandlung mit den Kombinations-Medikamenten nicht leisten kann. Eine der Umfragen stellte fest, dass weniger als ein Drittel der Infizierten über eine private Versicherung verfügen, die die volle Kombinationsmedikamenten-Behandlung ermöglicht. [52]
Wenn man die Arbeiten der Dissidenten über die neueren "Drei-Medikamenten-Kombinationen" liest, dann zeigt sich eine ähnliche Reaktion wie die von Joan Shenton. Das Recht der Pharmahersteller, überhöhte Preise zu verlangen und riesige Profite zu machen, wird nicht in Frage gestellt. Es gibt keine Besorgnis über die immer schlechter werdende medizinische Versorgung oder die Behandlungskosten. Die Besserung, die die Medikamente bewirken können, wenn auch nur für eine gewisse Zeit, wird geleugnet. John Lauritzen schreibt zum Beispiel: "Patienten die Protease-Hemmer genommen haben, taten das aus Herdentrieb und in einem Milieu von Hoffnung, das die Propaganda der Pharma-Industrie erzeugt hat. Sie hofften, dass es ihnen besser gehen würde. Sie ermutigten sich gegenseitig, damit es ihnen besser ging, und einigen ging es besser. Die anderen wurden ignoriert, eine Form von Ächtung. Anders ausgedrückt, der Nutzen der Protease-,Cocktails' - wenn es einen gibt - muss psychologischer Natur sein. Diese Chemikalien können unmöglich einen wirklichen Nutzen für die Gesundheit gebracht haben."
Damit behaupten die Dissidenten, die Wahrnehmung von Besserung, hervorgerufen durch die Medikamente, sei eine Art Massenhypnose. Diese Art von Argumentation wird ihrer Sache nicht dienlich sein, da die meisten, die sich ernsthaft und intensiv mit der Aids-Frage beschäftigen, anhand einer ganzen Anzahl von Quellen - darunter auch solchen, die dem medizinischen Establishment kritisch gegenüberstehen wie Garrett [53] - nachprüfen können, dass die Medikamente in der Tat kurzfristig dramatische Bessserungen gebracht haben.
Die HIV-Tests
Eine der emotionsgeladensten Fragen in der Argumentation der Dissidenten ist die der HIV-Diagnose. Es gibt hier viele persönliche Tragödien, und die Literatur der Dissidenten hat diese Fälle ans Licht gebracht. Das Mindeste, was passieren kann, wenn man als HIV-positiv eingestuft wird, ist oft, dass man sozial gebrandmarkt wird; und es gibt eine Reihe von Fällen, in denen Menschen nach einer solchen Diagnose Selbstmord begangen haben. Sie kann auch zum Verlust des Arbeitsplatzes und zu enormen Rechnungen für medizinische Behandlung führen. Weil der Test anfänglich weniger zuverlässig war, gibt es Beispiele von Menschen, die fälschlicherweise als HIV-positiv diagnostiziert wurden. [54] Eine Reihe von führenden Dissidenten wie Christine Maggiore, wurden als HIV-positiv diagnostiziert, haben es aber überlebt und erfreuen sich bester Gesundheit. Aber erneut werden hier wichtige Fragen der medizinischen Praxis und Diagnose mit einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung auf dem Gebiet der Biochemie vermischt.
Joan Shenton ließ eine kleine Auswahl an Leuten HIV-Tests unterziehen. Es war nicht überraschend, dass im Ergebnis Personen, die nicht an Aids litten, aber bestimte Auto-immun-Bedingungen aufwiesen, wie z. B. rheumatische Arthristis, positive Ergebnisse erzielten. Wie ich schon in meiner Antwort auf Mr. Martinots Brief zu erklären versucht habe ("Ein Briefwechsel zum Thema Aids/HIV"), sollen die Tests als Teil einer medizinischen Diagnose angewandt werden, in der die Tatsache mit in Betracht gezogen wird, dass viele bekannte "klassische" Krankheiten ebenfalls zu positiven Resultaten führen können.
Shenton fand heraus, dass fünf HIV-positive Patienten in allen Tests als positiv diagnostiziert wurden, aber ein schwuler Mann wurde in drei Fällen als positiv und in zwei Fällen als negativ erkannt. Shenton meint, die negativen Resultate hätten sich deshalb ergeben, weil die Testlaboratorien nicht wussten, dass der Kandidat schwul war. Sie hat damit sicherlich bewiesen, dass es mit den Tests in einigen Grenzfällen Probleme geben kann. Die hohe Zuverlässigkeitszahl, die ich in meiner Antwort an Mr. Martinot zitiert habe, stammt aus den Statistiken der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und bietet wahrscheinlich deshalb eine weniger zweideutiges Ergebnis, weil in eindeutigeren Fällen getestet wurde. Joan Shenton erklärt, die Mediziner hätten groß angelegte statistische Versuche machen müssen, um die Zuverlässigkeit der Tests zu prüfen. Auf dem Hintergrund jedoch, dass vor den Gerichten viele Fälle wegen falscher Diagnose verhandelt werden - Fälle, von denen die Dissidenten hoffen, dass sie ihre Behauptungen bestätigen werden -, erscheint es unwahrscheinlich, dass die Mediziner weiteren Prüfungen der Tests ausgewichen sind. Viel wahrscheinlicher ist die Erkenntnis - die für die gesamte medizinische Praxis gilt -, dass selbst die besten diagnostischen Methoden zu falschen Ergebnissen führen können und dass sie im Zusammenhang mit einer ganzen Reihe anderer Tests und Beobachtungen eingesetzt werden müssen.
(Es sollte besonders erwähnt werden, dass diese Aids-Tests nicht auf der PCR-Methode beruhen, die TS erwähnt, obwohl PCR und andere Methoden benutzt werden, um den Verlauf der Krankheit zu verfolgen. Die Zuverlässigkeit solcher Methoden wird von Bruce Mirken in "Answering the AIDS-Denialists" beschrieben.) [55]
Hinter der Herangehensweise von TS - die Aids-Symptome könnten nicht von Krebs und Tuberkulose unterschieden werden, weil sie zu denselben HIV-positiven Resultaten führen, die Tests seien nicht genau und nicht standardisiert - scheint die Forderung zu stehen, das vielschichtige Problem der medizinischen Diagnose solle ein einfaches Ja/Nein-Ergebnis auf der Grundlage eines einzigen Tests liefern. Was immer die Probleme sind - und es gibt sicherlich gravierende Probleme, wie die Unterschiede in den Standards zwischen den verschiedenen Ländern -,sollte eigentlich kein direkter Zusammenhang mit dem Wahrheitsgehalt der HIV-Aids-Theorie bestehen.
Historisch betrachtet scheint die Zuverlässigkeit der HIV-Tests bei den Dissidenten in den USA keine Rolle gespielt zu haben. In dem Buch von Epstein, das 1996 herauskam, wird es kaum behandelt. Die Perth-Gruppe der Dissidenten in Australien, angeführt vom Biophysiker Eleni Eleopulos, warf diese Frage 1993 zum ersten Mal auf. Die in extrem wissenschaftlicher Sprache gehaltenen Arbeiten zweifelten die gesamte Grundlage der HIV-Tests an und stellten in Frage, ob der HIV-Virus tatsächlich isoliert worden sei. Man müsste eine Spezialist auf diesem Gebiet sein, um ihren Argumenten zu folgen, aber ihr wichtigstes Argument scheint zu sein, dass jeder über die Proteine verfügt, die für HIV spezifisch sind, und dass deshalb die Grundlage der Tests fehlerhaft ist. Der deutsche Virenforscher Stefan Lanka entwickelte auf der Konferenz, die von Aids-Dissidenten 1995 in Buenos Aires organisiert wurde, ihre Position noch weiter. (Die kürzliche Intervention in Süd-Afrika ist nicht das erste Mal, dass die Dissidenten ihre Meinungen in ein unterentwickeltes Land getragen haben, obwohl es so aussieht, als hätten sie in Argentinien weniger Erfolg gehabt.)
Lanka unterbreitete theoretische Argumente, die beweisen sollten, dass HIV nicht existiert und nie isoliert wurde. Seine Philosophie scheint der modernen Medizin und ärztlichen Eingriffen extrem feindlich gegenüberzustehen; "Um den Irrungen unserer Zeit adäquat begegnen zu können, müssen wir zuerst die Autonomie über unsere Körper wieder zurückerlangen, die wir an fehlgeleitete Experten abgegeben haben.". [56]
Die Meinung, dass HIV nicht existiert, wird auch von MS verteidigt. Sie ist einer Meinung mit Ellison, dass Duesberg "Verrat geübt hat" und nicht von seiner Vergangenheit als Retrovirus-Forscher brechen kann. Duesberg jedoch meint, dass HIV existiert und isoliert werden kann, aber dass es nicht die Ursache für Aids ist. Auf der Konferenz von Buenos Aires gab es deutliche Unterschiede zwischen Duesbergs Einstellung und derjenigen der Perth-Gruppe. Duesberg erklärte dazu: "Es wirkt tragisch, dass 99 Prozent der Aids-Forscher einen Virus studieren, der Aids nicht verursacht, und dass die wenigen, die das nicht tun, jetzt eine Debatte über die Existenz eines Virus führen, der Aids nicht verursacht." [57]
Offensichtlich ist die Kontroverse innerhalb des Dissidentenlagers bis auf den heutigen Tag nicht beigelegt. Obwohl die Perth-Gruppe Beiträge für die Internet-Seite von Duesberg liefert, behauptet Duesberg auf dieser Seite auch, dass er persönlich HIV isoliert hat. Sicherlich verdeutlicht das die enorme fachliche Komplexität und den Hang zu Debatten in diesem Bereich der Wissenschaft und sorgt nicht für Vertrauen in die Sache der Dissidenten.
Einige Schlussfolgerungen
Was die rein wissenschaftlichen Fragen angeht, so hat die Tatsache, dass ich sehr viele Artikel und Bücher mit so wenig Voreingenommenheit wie möglich über dieses Thema gelesen habe, meine Meinung, die ich in meiner Antwort auf Mr. Martinot geäußert habe, nicht geändert - dass nämlich die Theorie, HIV verursache Aids, im Wesentlichen bewiesen ist. Ich gebe allerdings zu, dass für mich, da ich nicht in Biochemie ausgebildet bin, viele der Arbeiten zu fachsprachlich und zeitaufwendig waren, um alle Details zu verstehen. Ich erkenne an, dass es viele Bereiche gibt, wo die Art, wie der HIV-Virus arbeitet, nicht bekannt ist, und dass die Debatte über die wissenschaftlichen Fragen fortgesetzt werden sollte. Es gibt mit Sicherheit Hinweise darauf, dass bestimmte Fragen nicht angesprochen werden und dass eine ordentliche wissenschaftliche Debatte nicht stattfindet.
Der überzeugendste Beweis für die HIV-Aids-Theorie ist die Wirksamkeit der Kombinations-Medikamente. Was diesen Punkt angeht, glaube ich, dass der Versuch der Dissidenten, die Wirksamkeit der Drogen zu leugnen, den Beweisen ins Gesicht schlägt, denn die Wirkung kann nicht nur der Medien-Propaganda der Pharma-Konzerne zugeschrieben werden.
In Beantwortung der Frage von TS, welche Arbeit mich von der Hypothese überzeugt hat, dass HIV Aids verursacht, würde ich sagen, dass Montagniers kürzlich erschienenes Buch "Virus" für den Laien die beste Darlegung ist (siehe [13] in Teil 2). Der Grund, warum sich sein halbbiografisches Buch wirklich zu lesen lohnt, liegt vielleicht darin, dass Montagnier jahrelang in einer Umgebung gearbeitet hat, die nicht völlig von Unternehmenshabgier und der Kontrolle durch Forschungsgelder dominiert war. Bei seiner Darstellung der wichtigsten Züge der orthodoxen Theorie ist er erfrischend frei von der Arroganz und dem vereinfachenden Dogmatismus, der das Thema zu beherrschen scheint.
Montagnier gesteht zu, dass neben dem HIV-Virus auch "Co-Faktoren" die Ursache für Aids sein können; eine Meinung, die er seit den frühen 80er Jahren vertritt. Duesberg tut diese Einstellung jedoch ab: "Wenn man es einmal mit einem Establishment zu tun hat, dass einen Fehler gemacht hat, aber damit in eine Machtposition gelangt ist, wird es sie kaum aufgeben, weil es da an der Spitze sehr bequem ist... Und in der Wissenschaft besteht die klassische Rettung aus dieser Situation darin, zu behaupten, es [HIV] würde nicht ausreichen, um die Krankheit auszulösen, was sie eigentlich von Anfang an gesagt haben. Jetzt erklären sie, wir brauchen etwas anderes... das gibt ihnen viel Zeit, ihre Hypothese zu berichtigen. Aber wenn man das tut, dann stellt man seine Hauptthese direkt in Frage, denn wenn man nicht weiß, wodurch sonst es verursacht wird, dann kann man auch nicht wissen, ob HIV eine Rolle dabei spielt." [58]
Abgesehen von der Tatsache, dass Montagnier sein "klassisches Rettungs"-Konzept von Anfang an vertreten hat, scheint Duesbergs Behauptung, bis man alle kausalen Faktoren kenne, sei es unmöglich, eine kausale Erklärung vorzubringen, einem extrem engstirnigen Konzept zu entspringen. Das würde die meisten Entwicklungen in allen Wissenschaftsbereichen ausschließen und mit Sicherheit die in der Medizin, wo die Schädigung oder die Überbelastung des Immunsystems durch schwere Infektionen, Drogengebrauch und so weiter als mögliche Faktoren im Verlauf einer Krankheit untersucht werden müssen, genauso wie die verschiedenen genetischen Voraussetzungen bei verschiedenen Individuen.
Es muss allerdings auch gesagt werden, dass die extrem fachlichen, wissenschaftlichen Fragen nicht der wichtigste Punkt in der Auseinandersetzung sind. Ich habe im Verlauf dieser Erwiderung versucht deutlich zu machen, speziell durch einen Rückblick auf die Geschichte der Aids-Katastrophe, dass es enorm wichtige politische und soziale Fragen gibt, die diskutiert werden sollten und die von den Dissidenten verschleiert werden. Es ist richtig, dass die Mehrheit der "orthodoxen" Wissenschaftler diese Fragen ebenso widerwillig angeht - der Grund dafür liegt oft nicht nur darin, von wem sie finanziert werden, sondern auch im augenblicklich vorherrschenden intellektuellen Klima, das die politische Auseinandersetzung auf dem niedrigsten Niveau gehalten hat.
Obwohl die Dissidenten politische Fragen kaum offen diskutieren, ist vieles von dem, was sie im letzten Jahrzehnt getan haben, politisch. Wie unbeabsichtigt es auch sein mag, sie haben sehr reaktionären Kräften geholfen oder könnten es tun, von der ANC-Regierung in Südafrika bis zur religiösen Rechten in den Vereinigten Staaten.
Alle Anzeichen deuten jedoch auch darauf hin, dass von der skandalösen Episode rund um Gallos' erste Bekanntmachung, er habe den HIV gefunden, bis zu den wissenschaftlichen Konferenzen im Jahr 1996, als die Kombinations-Medikamente als die endgültige Lösung verkündet wurden, die Pharma-Konzerne und ihre Verbündeten in der Regierung die wissenschaftliche Tagesordnung der Aids-Wissenschaft größtenteils diktiert haben. Obwohl ich nicht so weit gehen würde wie die Dissidenten, die erklären, sie seien in der Lage gewesen, alle dazu zu bringen, eine völlig falsche Theorie zu akzeptieren, so ist es sicherlich richtig, dass sie die Forschung in eine bestimmte Richtung gelenkt haben. Zweifellos tun sie das durch ihre Kontrolle über die Forschungsgelder, durch finanzielle Belohnungen und die Förderung von wichtigen Individuen etc. Obwohl ich nicht einverstanden bin mit der Idee, die Mr. Martinot vertritt, dass Dissidenten-Wissenschaftler "unterdrückt" werden, kann ich verstehen, dass sie von den Kreisen an der "Spitze", die Konferenzen organisieren, Zeitschriften herausgeben und die Richtung der Forschung diktieren, an die Seite gedrängt werden, so wie es Montagnier 1984 passiert ist.
Um ein Beispiel aus den Unterlagen der Dissidenten zu zitieren: David Rasnick, ein Biochemiker, der Duesberg unterstützt, erzählt, wie er 1997 an einer bedeutenden Aids-Konferenz teilnahm. [59] Die Tatsache, dass er daran teilnahm und ein Papier einreichen konnte, das die maßgebende Theorie - HIV verursacht Aids - angriff, zeigt, dass es die totale Zensur nicht gibt, wie die Dissidenten es behaupten. Aber als er den zwei führenden Wissenschaftlern auf der Konferenz Fragen stellte, weigerten sie sich einfach, darauf zu antworten und flohen sogar. Andere Wissenschaftler auf der Konferenz, die, wie Rasnick erklärt, seinen Thesen wohlwollend gegenüberstanden, wollten es nicht riskieren, die führenden Leute herauszufordern. Was Rasnick berichtet, klingt wahr und es deutet auf eine sehr ungesunde Situation in der Wissenschaft hin.
Die Wahrheit herauszufinden, wie sich Aids entwickelt, und eine Behandlung zur Heilung einer Krankheit zu finden, von der Millionen betroffen sind, erfordert die besten wissenschaftlichen Traditionen. Offene Diskussion, ein Maximum an Klarheit, Zugang zu allen Informationen - das sind die grundlegenden Voraussetzungen.
Bedeutet das nicht, dass eine politische Kampagne geführt werden müsste, die viel mehr darüber aufdeckt, wie die Interessen der Unternehmen von der Wissenschaft Besitz ergreifen? Dissidenten-Wissenschaftler könnten einen Teil der Energie, die sie in die wissenschaftliche Diskussion über die Ursache von Aids gesteckt haben, dazu benutzen, um aufzudecken, was sie über das Vorgehen der Pharma-Konzerne wissen oder herausfinden können. Es wäre mit Sicherheit unermesslich produktiver, es mit den wirklichen Kräften, die hier am Werk sind und die die wissenschaftliche Diskussion kontrollieren und beschränken, aufzunehmen, als zwei Lager zu bilden und alle Virenforscher zu denunzieren, weil sie dem intellektuellen Niveau von Duesberg nicht entsprechen. Aber in den Fragen der Wissenschaftspolitik wie auch in der Frage der Medikamentenbehandlung, gibt es in den Arbeiten der Dissidenten kaum Anzeichen einer wirklichen Opposition gegen die Machenschaften der Pharma-Konzerne.
In Bezug auf Afrika und die unterentwickelten Länder habe ich schon gezeigt, dass es eine reaktionäre Politik ist, sich auf Angriffe auf die WHO und auf Hilfsorganisationen zu konzentrieren. Genauso wie man den Einfluss offenlegen sollte, den der IWF und die Weltbank auf die Gesundheitssysteme dieser Länder haben, gibt es noch viel mehr zu sagen über das Vorgehen der Pharma-Konzerne in der Dritten Welt.
Trotz des Medienrummels vom Mai letzten Jahres - dass fünf führende Parmafirmen sich bereit erklärt haben, die Preise ihrer HIV-Medikamente für Menschen in den "dritte Welt"-Ländern zu senken - war das Ganze fast nur eine Werbemaßnahme. Wie eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung der Washington Post aufdeckt, wurden die WHO und die UN überrumpelt, um diese Ankündigung zu machen, obwohl "sie keinen Wahrheitsgehalt hatte", wie ein Sprecher der UNAIDS zugibt. Nur 25.000 Afrikaner - etwa 0,001 Prozent der Infizierten - haben Zugang zu Anti-Retroviren-Medikamenten.
Mehr als 40 Pharmaproduzenten haben die südafrikanische Regierung dieses Jahr verklagt, um ihr Recht zu veteidigen, Medikamente entsprechend dem sogenannten Trade Related Aspects of Intellectual Property Rights (Trip)-Abkommen [Abkommen über handelsbezogene Aspekte des geistigen Eigentumsrechts] der Welthandelsorganisation zu patentieren. Vor drei Jahren hatte die südafrikanische Regierung eine Klausel für ihr Medizin-Gesetz vorgeschlagen, das die Herstellung von markenlosen Aids- und anderen Medikamenten in Südafrika erlauben würde. Der ANC hatte nie die Absicht, das globale Kapital anzugreifen - er hat das Trips-Abkommen selbst unterzeichnet - er möchte nur das Recht haben, seine eigenen Profite zu machen. Aber wie der anhängige Gerichtsprozess zeigt, können keine Preissenkungen und keine Schmälerung der globalen Profite der Pharma-Konzerne erlaubt werden.
Die Pharmahersteller haben jetzt eine Strategie entwickelt, um die Probleme, die bei der klinischen Erprobung von AZT auftraten, zu vermeiden. Indem sie Ärzte und Wissenschaftler in Osteuropa und in unterentwickelten Ländern einsetzen, um ihre Medikamente zu testen, können sie all die Probleme umgehen, die im Westen entstehen, wenn sie Placebos benutzen. Gesetzliche Vorschriften existieren so gut wie gar nicht, so dass Medikamente, die in den USA und Europa als zu riskant gelten, um erprobt zu werden, dort ohne Schwierigkeiten getestet werden können. Die schlecht unterrichteten Patienten sind sich oft nicht bewusst darüber, mit was für einer Behandlung sie sich einverstanden erklärt haben, und wenn die Pharma-Konzerne für die medizinische Versorgung der Patienten in den Versuchsreihen zahlen müssen, dann sind die Kosten dafür in diesen Ländern viel niedriger. Einige Aspekte dieser skandalösen Situation findet man in einer Artikelserie der Washington Post. [61]
In einem größeren Zusammenhang geht es hier um medizinische Fragen, die nicht nur für das wichtige Problem Aids von Bedeutung sind, sondern die auch enorme Auswirkungen für die ganze Menschheit haben. Ich spreche hier von dem ganzen Bereich an wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen, die in der Biochemie insgesamt gemacht wurden.
Der vielleicht am meisten publizierte Aspekt ist das Projekt der menschlichen Erbinformationen; der Bauplan der Gene wurde einige Jahre früher entschlüsselt, als man ursprünglich erwartet hatte. Es gibt gibt jedoch noch viele andere Aspekte dieser Wissenschaft. Indem sie gigantische Computerleistungen einsetzen, erweitern die Wissenschaftler nicht nur ihr Wisssen über die Moleküle der DNS in der menschlichen Zelle, die den genetischen Code (Genome) enthält, sondern auch ihr Wissen über andere chemische Komponenten der Zelle, die Boten-RNS und -Proteine. [62] Es gibt zweifellos einen großen Presserummel darüber, wie schnell diese Forschung in eine Heilung von Krebs und anderen Krankheiten umgesetzt werden kann. Es könnten eher Jahrzehnte als Jahre sein. Es ist eine Ironie der gegenwärtigen Lage, dass der Geschäftsführer eines Pharmaherstellers Duesberg in seiner Ablehnung der "Keim-Theorie" der Medizin zustimmt. Diese Konzerne sind im Moment vollauf damit beschäftigt, Medikamente auf der Basis von Gen- und Protein-Mustern zu entwickeln. Milliarden von Dollar werden von den Pharma-Konzernen in diese Forschung gepumpt, mit der Aussicht auf riesige Profite, die sie in Zukunft zu erzielen hoffen.
Mit der Verheißung von Ergebnissen, die sie sich von dieser Forschung versprechen - und indem sie Vergleiche ziehen zu Forschung und Entwicklungen in der Mikrochip-Technologie früherer Jahrzehnte - werden die Pharma-Konzerne jetzt als Erfolgsstory des globalen Kapitalismus angepriesen. Man sollte dabei natürlich nicht die Profite vergessen, die sie gegenwärtig mit den völlig überteuerten Medikamenten machen.
Laurie Garrett führt Zahlen an, die das verdeutlichen. 1998 machte die Pharma-Industrie alleine in den Vereinigten Staaten einen Profit von 99,5 Milliarden Dolllar. Von 1997 bis 1998 stiegen die Profite um 11 Prozent und von 1998 bis 1999 um 16,6 Prozent. Von 1993 bis 1998 verdoppelte sich die Summe, die für Medikamente in den USA ausgegeben wurde von 50,6 Milliarden auf 93,4 Milliarden Dollar. Das Anwachsen der Profite in der Pharmaindustrie übertraf bei weitem die übrigen Sektoren. Die Profite im Pharma-Bereich stiegen zwischen 1997 und 2000 jährlich zwischen 14 und 18 Prozent, während sie bei den 500 bestverdienenden Firmen um 4 bis 7 Prozent anstiegen. Garrett erklärt dazu: "Das Ergebnis war ein ungeheurer Preissteigerungsprozess für Medikamente, wodurch die Pharmaka an der Schwelle zum 21. Jahrhundert zum neuen Motor der Inflation im Gesundheitswesen wurden. Nur ein Jahrzehnt zuvor waren es die Krankenhäuser gewesen, die die Inflation angetrieben hatten: 1999 war die wirkliche Frage, mit der Politiker konfrontiert waren nicht mehr, ob die Versicherungen, die Regierung und der Einzelne die Kosten des Krankenhausaufenthalts bezahlen konnten, sondern ob sie es sich leisten könnten, die Medikamente zu bezahlen, die einen Krankenhausaufenthalt verhindern sollten." [63]
Die Aids-Wissenschaft und die Entwicklung von Aids-Medikamenten muss sicherlich in diesem Zusammenhang diskutiert werden. Sollte das enorme Potential für die Menschheit, das in der Gen- und Protein-Forschung enthalten ist, nicht unter der Kontrolle der arbeitenden Bevölkerung stehen statt unter der Kontrolle des Dow-Jones-Index und der Aufsichtsräte?
Statt zuzulassen, dass die gegenwärtige Entwicklungsrichtung fortgesetzt wird, bei der nur noch eine reiche Minderheit über eine umfassende Versorgung mit Medikamenten und ärztlicher Behandlung verfügt, ist es da nicht notwendig, dieser Profittreiberei ein Ende zu bereiten und die gesamte Medizin und Gesundheitsversorgung in öffentliches Eigentum zu überführen? Dieselbe Frage stellt sich in Bezug auf die Ausgaben (oder das Fehlen von Ausgaben) der Regierung für die Gesundheitsversorgung, die nicht nur durch die in die Höhe getriebenen Preise für Medikamente und medizinische Ausrüstung bestimmt werden, sondern auch von den Anforderungen der Finanzmärkte. All diese umfassenderen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Fragen werden durch die Aids-Katastrophe aufgeworfen.
Quellen:
37. Luc Montagnier, Virus, W. W. Norton & Co, 2000, S. 157
38. ibid., S. 146-47
39. British Medical Journal editorial, 1991, cited in Mark Elwood, Critical Appraisal of Epidemiological Studies and Clinical Trials, Oxford U.P., 1998, S. 240
40. Joan Shenton Positively False, I.B. Tauris, 1998, S. xxiii
41. Critical Appraisal of Epidemiological Studies and Clinical Trials, S. 218
42. Steven Epstein, Impure Science, Aids, Activism and the Politics of Knowledge, University of California Press, 1996, S. 136
43. ibid., S. 167
44. ibid., S. 223
45. Laurie Garrett Betrayal of Trust, The Collapse of Global Public Health, Hyperion, 2000, S. 473
46. CDC HIV/AIDS Surveillance Report, Band 11, Nr. 2, Abbildung 22, http://www.cdc.gov/hiv/stats/hasr1102/table22.htm
47. Bruce Mirken, AIDS Treatment Improves Survival: Answering the "AIDS Denialists"http://www.niaid.nih.gov/spotlight/hiv00/default.htm
48. Betrayal of Trust, S. 708, n. 716
49. Betrayal of Trust, S. 477
50. ibid., S. 473
51. ibid., S. 574
52. Laurie Garrett, The Virus at the End of the World, in Esquire, March 1, 1999
53. Betrayal of Trust, S. 468
54. Martin Delaney, HIV, AIDS, and the Distortion of Science http://www.niaid.nih.gov/spotlight/hiv00/default.htm
55. Bruce Mirken, Answering the AIDS Denialists: CD4 (T-Cell) Counts, and Viral Load http://www.niaid.nih.gov/spotlight/hiv00/default.htm
56. Stefan Lanka, HIV - Realität oder Artefakt?, http://www.aids-info.net/micha/hiv/aids/artefact.html
57. Positively False, S. 232
58. ibid., S. 80
59. David Rasnick, Non-infectious HIV is Pathogenic, auf Rethinking AIDS
60. Washington Post, 27.-29.Dezember 2000
61. The Body Hunters, Washington Post, 17.-22. Dezember 2000
62. See the articles in Scientific American, Juli 2000
63. Betrayal of Trust, S. 586