Briefwechsel
zum Artikel: "Die Verbrechen' der 68er"
10. April 2001
Liebe Mitarbeiter des wsws,
es war wahrscheinlich eher nicht das Ziel des Artikels, aber ich stellte mir nach dem Durchlesen selbst die Frage, wieso es nicht thematisiert wurde, was aus den damaligen "Linken" noch so alles wurde neben den Frankfurter Erscheinungen.
Leute wie Rabehl, Oberlercher und Mahler, die damals noch "linke" Phrasen droschen, stehen heute mit zwei Füßen im Lager der NPD. Bedeutet das einen Bruch mit der Vergangenheit? Nein, mitnichten. Liest man sich deren heutige Ergüsse durch, sofern man den Brechreiz bis zu Ende unterdrücken kann, kommt man unschwer zu der Feststellung, dass sich der harte, materielle Kern ihrer Haltung nicht der Hauch einer Spur verändert hat.
Es liegt nach wie vor eine mehr oder minder offene Verachtung für die Arbeiterklasse und die Feindschaft gegen das Großkapital zugrunde. Ihre grundsätzliche Haltung war damals im wesentlichen der reflexhafte politische Ausdruck der vom Donnerhall der 68 bereits spürbar einsetzenden Globalisierung verschreckten kleinbürgerlichen Schichten, nicht mehr. Und anders ist es heute auch nicht, nur dass sie älter und ehrlicher geworden sind und die Globalisierung sich mittlerweile erst richtig entfaltet.
Vielleicht habe ich etwas übersehen, aber mir ist kein Artikel im wsws bekannt, der sich dieses Themas annimmt.
Gruß, Frank U.
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Lieber Frank U.,
vielen Dank für Ihren Brief, den ich gerne beantworte. Wie Sie richtig vermutet haben, war es tatsächlich nicht das Ziel meines Artikels, den ideologischen und politischen Werdegang all jener ehemaligen Radikalen und Linken zu untersuchen, die ins Regierungslager oder gar ins Lager der Faschisten übergewechselt sind. Zu diesem Thema sind im wsws schon viele andere Artikel erschienen, so zum Beispiel Biographien zu Gerhard Schröder und Joseph Fischer, Analysen zur Geschichte der Grünen, zur Rolle Trittins und auch zur Evolution von Horst Mahler.
Der von Ihnen kritisierte aktuelle Artikel hatte ein anderes Thema und ging von folgenden Überlegungen aus:
Dass die Aufregung der CDU/CSU und der rechten Presse über die "Verbrechen" Fischers pure Heuchelei ist, drängt sich jedem nachdenklichen Beobachter der politischen Szene in Deutschland spontan auf. Was aber ist das politische Ziel dieser Kampagne, weshalb ist sie plötzlich vom Zaun gebrochen worden, weshalb wird sie über Wochen hinweg mit ungebrochener Vehemenz nicht nur von den Rechten, sondern auch von den "bekehrten" Alt-68ern geführt?
Um das zu verstehen, bedarf es einigen historischen Wissens über die soziale und politische Bewegung der 60er und 70er Jahre selbst und ihre Auswirkungen auf Staat und Gesellschaft.
Der Artikel sollte in diesem Zusammenhang an eine wichtige Tatsache erinnern, die in der Auseinandersetzung über Fischer und Trittin systematisch unterdrückt wird und den jüngeren Generationen einfach oft nicht bekannt ist: nämlich wogegen sich der Protest der 68er gerichtet hat. Unter anderem waren dies vor allem die Verbrechen und Verbrecher der Nazizeit, welche auch Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs Justiz und Gesellschaft in Deutschland immer noch prägten.
Insofern wurzelte die Revolte der Jugend in einem sehr fortschrittlichen Streben nach einer demokratischen Erneuerung von Staat und Gesellschaft. Die politische Stoßrichtung der 68er-Debatte heute dagegen besteht darin, diese demokratischen Bestrebungen von damals zu kriminalisieren.
Aus diesem Grund wird plötzlich die schon lange, auch bei seinem Amtsantritt bekannte "Vergangenheit" Fischers ausgekramt und auf seinen Handgreiflichkeiten gegen Polizisten herumgeritten, aber die Ziele der Demonstrationen verschwiegen, an denen er damals teilgenommen und gegen die Polizei und Gerichte mit brutalen Mitteln vorgingen. Der Protest vor dem spanischen Konsulat zum Beispiel richtete sich gegen den faschistischen Diktator Franco und von ihm verhängte Todesurteile, die Demonstrationen nach dem Selbstmord von Meinhof, Baader und Ensslin richteten sich gegen die deutsche Justiz und ihre unmenschlichen Haftbedingungen, welche die gefangenen RAF-Mitglieder in den Tod getrieben haben.
Eine andere Form der Kriminalisierung besteht darin, die demokratischen Forderungen der 68er Bewegung auf geradezu groteske Weise mit dem nationalsozialistischen Terror oder "totalitärem Denken und Handeln" gleichzusetzen, wie dies nicht nur rechte CDU-Ideologen, sondern auch Götz Aly, Thomas Schmid und andere Ex-Radikale in der "Fischer-Debatte" tun.
Dieses heftige Eindreschen auf die 68er bereitet den ideologischen und politischen Boden für Frontalangriffe auf demokratische Rechte vor, auch auf die demokratischen Freiräume und Liberalisierungen in der Gesellschaft, die seit den Revolten der 60er Jahre zugestanden worden sind. Es soll einer umfassenden politischen Reaktion den Weg bereiten, wie sie gegenwärtig in den USA bereits im Gange ist. Der wirtschaftliche und soziale Hintergrund dieser Kampagne sind die enormen Kürzungen bei den Renten, an Schulen, Hochschulen, im Gesundheitswesen und in allen anderen sozialen Bereichen. Diese können nicht im Rahmen einer bürgerlichen Demokratie, sondern nur mit diktatorischen Regierungsformen durchgesetzt werden.
Ignoriert man die demokratischen Bestrebungen in den Revolten der 60er und frühen 70er Jahre, ist man diesen politischen Gefahren gegenüber blind, die mit der ideologischen Kampagne gegen die 68er verbunden sind.
Auch Ihr Brief vermittelt den Eindruck, als seien alle damaligen Linken oder gar die 68er Bewegung insgesamt mit jenen reaktionären Positionen gleichzusetzen, die etliche ihrer ideologischen Führer wie Bernd Rabehl oder Horst Mahler heute, 30 Jahre später, einnehmen.
Ebenso erscheint mir Ihre Behauptung, die Haltung der Linken damals, 1968, sei "im wesentlichen der reflexhafte politische Ausdruck" des Schreckens kleinbürgerlicher Schichten über die "68 bereits spürbar einsetzende Globalisierung" gewesen, sehr konstruiert, d.h. nicht aus geschichtlichen und ökonomischen Tatsachen abgeleitet.
Die 68er Bewegung war Bestandteil einer weltweiten politischen Krise der bürgerlichen Herrschaft. In anderen Ländern nahm sie zum Teil noch weit dramatischere Formen an, wie zum Beispiel in Frankreich mit dem Generalstreik vom Mai/Juni 1968, in Griechenland, Portugal und Spanien mit dem Sturz der Diktaturen, in den USA mit der Bürgerrechtsbewegung, den Protesten gegen den Vietnamkrieg und schließlich der Watergate-Affäre.
Ihren wirtschaftlichen und sozialen Hintergrund hatte diese politische Krise im Ende der Wiederaufbauphase der Wirtschaft in den europäischen Ländern und in Japan nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Massenfertigung von Waren nach dem Taylor'schen Prinzip, die vor dem Krieg hauptsächlich in den USA konzentriert war, hatte sich nun auch in den Industrien Europas und Japans durchgesetzt. Die Folgen davon waren eine Schwächung der führenden Weltmacht USA gegenüber seinen europäischen und asiatischen Rivalen und ein starker Fall der Profitrate in den kapitalistischen Metropolen. Mit scharfen Angriffen auf die Arbeiterklasse (in Deutschland Zechenstillegungen und Haushaltskürzungen der Erhard-Regierung und Großen Koalition, in Frankreich unter de Gaulle ebenfalls drastische Haushaltskürzungen) wurde von Seiten des Kapitals versucht, dieser Entwicklung zu begegnen.
Die allgemeine Unzufriedenheit und politische Gärung in der arbeitenden Bevölkerung machte sich bald nicht nur in "geordneten" gewerkschaftlichen Demonstrationen, sondern auch in ungeordneten, spontanen Revolten der Studenten und schließlich auch spontanen Streiks und Fabrikbesetzungen Luft. In Deutschland waren die Jahre der Brand-Regierung, angefangen von den Septemberstreiks kurz vor der Bundestagswahl 1969 bis zum Winter 1973/74 von einer Offensive militanter gewerkschaftlicher Kämpfe geprägt, die eine Erhöhung des Lohnniveaus um rund ein Drittel zum Ergebnis hatte.
Angesichts der Lohnoffensiven in Europa setzte eine Welle massiver Kapitalexporte in die Länder Südamerikas, Asiens und Afrikas ein, wo sich Industriekonzerne durch die Ausbeutung der Billiglohnarbeit höhere Profitraten versprachen. Diese Entwicklung fand in den 70er Jahren ihren Höhepunkt, spielte sich zunächst aber immer noch im Rahmen nationalstaatlich organisierter Wirtschaftsräume ab. Erst die technischen Revolutionen der Computer- und Kommunikationstechnik in 70er und 80er Jahren sprengten diesen Rahmen und leiteten die Globalisierung der Produktion selbst ein.
Natürlich kann ich diesen komplexen ökonomischen und gesellschaftlichen Prozess hier nur sehr grob umreißen. Aber es ist wichtig, ihn in seinen unterschiedlichen Stadien zu erfassen. Warum? Weil man nur so die grundlegende objektive Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Bedingungen verstehen kann, die sich innerhalb der letzten 30 Jahre weltweit vollzogen hat, und auch die abstoßende Metamorphose einst "radikaler" oder "alternativer" Politiker, Parteien und Programme.
In den 60er und 70er Jahren verfügten nationale Reformprogramme auch im Rahmen der kapitalistischen Profitwirtschaft noch über eine gewisse Glaubwürdigkeit und zumindest kurzfristige Tragfähigkeit. Deshalb konnte Brandt 1969, kaum hatte er in der Großen Koalition gegen alle Massenproteste die Notstandsgesetze und eine Amnestie für sogenannten "Schreibtischtäter" des Holocausts durchgesetzt, die Bundestagswahl im Herbst mit der Parole "Mehr Demokratie wagen!" gewinnen und daran gehen, die Revolte der Jugend und der Arbeiter mit einer Reihe sozialer und demokratischer Reformen aufzufangen.
Durch Lohnzugeständnisse, eine massive Ausweitung des öffentlichen Dienstes an Schulen, Universitäten, Krankenhäusern usw., soziale und politische Verbesserungen für Frauen, Kranke, Arbeitslose und Rentner wurde die Gesellschaft wieder stabilisiert und die jüngeren Generationen mit den bestehenden Verhältnissen versöhnt. Der von Rudi Dutschke der außerparlamentarischen Opposition vorgeschlagene "Marsch durch die Institutionen" wurde gewissermaßen zur Regierungspolitik erhoben - und führte Leute wie Schily, Fischer, Trittin und Vollmer schließlich in die höchsten Staatsämter.
Heute ist diesen nationalen Reformprogrammen durch die Globalisierung völlig der Boden entzogen. Im Namen der "Wettbewerbsfähigkeit" werden stattdessen alle Reformen der Vergangenheit wieder rückgängig gemacht. Immer schneller wächst die soziale Kluft zwischen einer kleinen Schicht von Reichen und der arbeitenden Bevölkerung, die in ihrer großen Mehrheit immer mehr verarmt. Und kein Programm ist in der Lage, im Rahmen der kapitalistischen Marktwirtschaft diese Kluft wieder zu schließen und den erneuten Ausbruch heftiger Klassenkonflikte zu verhindern.
Der Wechsel einiger Ex-Radikaler ins faschistische Lager ist nur der abstoßendste Ausdruck dieses allgemeinen Rechtsschwenks in der bürgerlichen Politik - und der daraus resultierenden Gefahr von neuen Kriegen und diktatorischen Regierungen.
Ich hoffe, Sie verstehen meine Antwort auf Ihren Brief so wie sie gemeint war, nämlich als Plädoyer für eine differenzierte historisch-materialistische Analyse der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen unserer Zeit. Sie ist die Grundlage für eine prinzipielle, tragfähige Opposition gegen den allgemeinen Sozialabbau und gegen die gesellschaftlichen und staatlichen Kräfte der Reaktion, die gegenwärtig mit der Kampagne gegen die 68er mobilisiert werden.
Mit freundlichen Grüßen
Wolfgang Weber