Die amerikanische Wahlkrise aus europäischer Sicht
Von Ulrich Rippert
29. November 2000
Drei Wochen nach der amerikanischen Wahlnacht und der noch immer anhaltenden, heftigen Auseinandersetzung über den zukünftigen US-Präsidenten wächst in Europa die Sorge darüber, dass ein andauerndes Machtvakuum in Washington die gesamte Weltlage destabilisieren könnte.
In den ersten Tagen nach der Wahl überwogen höhnische Bemerkungen über Wahlschlamperei und Stimmenmanipulation im "Musterland der Demokratie". Zu oft hatten amerikanische Politiker sich selbst als Maßstab der Demokratie schlechthin bezeichnet und ihre Militäroperationen in anderen Ländern mit der Durchsetzung demokratischer Normen gerechtfertigt.
Doch schon bald meldeten sich mahnende Stimmen zu Wort und warfen die Frage auf: Was bedeutet eine derartige Krise im Zentrum der Weltmacht? Der nächste Präsident, wie immer er heißen mag, sei "ein König ohne Land", schrieb Stefan Kornelius, der langjährige Washington-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, der seit kurzem die Auslandsredaktion der Zeitung leitet. Unter der Überschrift "Macht ohne Auftrag" wertet Kornelius die weitgehende Stimmengleichheit der Kandidaten mit den Worten, dass Bush oder Gore ihre Präsidentschaft antreten werden, "in dem Bewusstsein, dass die andere Hälfte der Bevölkerung sie ablehnt. Ihnen fehlt das klare Mandat."
Die Spaltung des Landes, ausgedrückt im bitteren Gegensatz der Kandidaten, werde sich "spiegelbildlich in Dutzenden von Duellen im ganzen Land" wiederholen, schreibt Kornelius. Seit der Impeachment-Kampagne sei bekannt, "zu welchem Fanatismus die amerikanische Politik in der Lage ist". Wenn der "Extremfall" eintrete und "ein republikanischer Präsident Bush mit einem republikanischen Kongress arbeiten wird, muss mit Exzessen gerechnet werden. Nicht wenige Republikaner würden die Ein-Parteien-Mehrheit in Legislative und Exekutive und bald auch in den oberen Etagen der Rechtssprechung als Freifahrschein interpretieren. Interessensgruppen - die Waffenlobby und die religiöse Rechte an der Spitze - würden ihre Schulden eintreiben bei einem Präsidenten, für dessen Wahl sie Opfer gebracht und still gehalten haben."
Auch die konservative Tageszeitung Die Welt schrieb, dass "nach der dramatischsten Wahlnacht seit Menschengedenken" die Ahnung aufstieg, "dass dies nur der Anfang von etwas Gewaltigem sein könnte: Einer Verfassungskrise", deren Erschütterungen weit über den Watergate-Skandal hinausgehen könnten.
Im weiteren Verlauf des Artikels gewinnt man den Eindruck, der Autor - Uwe Schmitt - habe in sein Bücherregal gegriffen und einige Absätze über den amerikanischen Bürgerkrieg und die Ursprünge der Verfassung gelesen. Er beschreibt die Entstehung des Wahlmännersystems aus der Angst der Sklavenstaaten im Süden "vor einem Mehrheitswahlrecht des Mobs" und wirft am Schluss die Frage auf: Was ist heute noch unmöglich in Amerika? "Was Mittwochnacht begann, könnte die zweite amerikanische Revolution werden." Erschrocken über seine eigene Einschätzung, betonte Schmitt in folgenden Artikeln nur noch die Stärke der amerikanischen Demokratie, die sich auch in der gegenwärtigen Krisensituation bewähre.
Pro Gore
Hinter der üblichen diplomatischen Fassade hatte die Mehrheit der europäischen Regierungschefs auf einen Wahlsieg des Demokraten Al Gore gesetzt. Vor allem in London, Berlin und Rom diente die Clinton/Gore-Administration als politisches Vorbild. Aber auch in den anderen europäischen Hauptstädten wurde der "Dritte Weg" eingeschlagen. Mit dem Hinweis auf den Erfolg der amerikanischen Wirtschaft wurde der Sozialstaat abgebaut, während gleichzeitig versucht wurde, größere soziale Konflikte zu vermeiden und die parlamentarischen Rahmenbedingungen zu erhalten.
Obwohl der Sozialabbau in den meisten europäischen Ländern noch nicht das Ausmaß der USA erreicht hat, ist auf politischer Ebene etwas entstanden, das der Situation in den Vereinigten Staaten ähnlich ist. Eine privilegierte gesellschaftliche Schicht, die sich in den vergangenen Jahren durch Börsengeschäfte und Spekulation hemmungslos bereichern konnte, versucht mit aller Macht ihren politischen Einfluss durchzusetzen und verlangt ultimativ, dass endlich die letzten Reste des Sozialstaats in Europa zerschlagen werden.
So ist es zu verstehen, dass die Aggressivität und Rücksichtslosigkeit, mit welcher der republikanische Präsidentschaftskandidat seit der Wahlnacht seinen Weg ins Weiße Haus zu bahnen sucht, bei den konservativen Parteien in Europa auf großen Beifall stößt. Schon in der Wahlnacht, als die Medien vorübergehend einen Wahlsieg des Republikaners prognostizierten, gab der CSU-Landesgruppenchef Michael Glos eine Erklärung ab, die darauf ausgerichtet war, die US-Wahl innenpolitisch auszuschlachten. Der Wahlsieg von Gouverneur Bush setze, so Glos, "ein klares Signal: Er stoppt den Linkstrend in den westlichen Demokratien".
Noch deutlicher wurde das britische Massenblatt Sun, das zum globalen Medienkonzern von Rupert Murdoch gehört. Nach seiner Ansicht werde ein Sieg von Bush den "komfortablen Club linker Regierungschefs destabilisieren", der in den letzten Jahren die Weltpolitik bestimmt habe.
Aber nicht nur Befürchtungen, dass ein Wahlsieg der Republikaner den politischen Druck der Konservativen und Rechten drastisch erhöhen würde, erfüllt die europäischen Regierungschefs mit Sorgen, sie befürchten auch eine Änderung in der amerikanischen Außenpolitik.
Äußerungen des republikanischen Kandidaten Bush und seiner Berater über einen verstärkten Rückzug aus der internationalen politischen Verantwortung wurden aufmerksam registriert. Als Bush auf Wahlversammlungen davon sprach, er werde sich dafür einsetzen, die amerikanischen Soldaten vom Balkan zurückzubeordern, weil es demoralisierende Auswirkungen habe, wenn "Soldaten und Kommandeure ihre Zeit damit verbringen, Kinder zur Schule oder zum Kindergarten zu eskortieren, anstatt zu kämpfen", wurde die Frage aufgeworfen, wie weit eine kommende amerikanische Regierung auch zukünftig bereit sei, internationale Verpflichtungen und Abmachungen einzuhalten.
Pro Bush
Interessant ist in diesem Zusammenhang die Reaktion in Russland. Während sich der Kreml in seinen offiziellen Stellungnahmen diplomatisch zurückhält, dominiert in der politischen Elite der Standpunkt, Bush müsse unterstützt werden, weil der Republikaner eine eher nationalistische Position vertrete. Ein Sieg Bushs werde zur Abschwächung der geopolitischen Offensive der USA führen und dies sei für Russland von Vorteil - so die vorherrschende Meinung.
Charakteristisch für diese Einschätzung ist ein Kommentar der russischen Wochenzeitung Expert vom 30. Oktober. "In der Außenpolitik bleiben die Republikaner - trotz aller kriegerischer Gesten - große Pragmatiker und Traditionalisten. In ihren Plänen gibt es keinen schrittweisen Abbau der Souveränität anderer Staaten oder die Umwandlung der Welt in einen multikulturellen Salat. Während man von Al Gore erwarten kann, dass er den Globalisten Clinten noch überbieten wird und dass unter ihm die USA und die Nato endgültig in die Rolle des Weltpolizisten und Weltlehrers zu schlüpfen drohen, werden sich die Amerikaner im Falle eines Wahlsieges von Bush eher auf die Durchsetzung ihrer realen nationalen Interessen konzentrieren und nicht ständig versuchen, die restliche Welt zu belehren, wie sie leben soll. Mit solchen Leuten könnte man etwas anfangen."
Auch im linken Milieu Russlands herrscht diese Meinung vor. Boris Kargalitzki sprach kürzlich über seine Teilnahme an den Prager Protesten gegen den Internationalen Währungsfonds (IWF) und sagte: "In verschiedenen Staaten gibt es Agenten der Globalisierung und sie können uns gefährlich werden." Bezugnehmend auf die amerikanischen Wahlen leitete er daraus ab: "Uns sind die Demokraten gefährlicher." Unter Bush und Gore sei die "Mechanik der Globalisierungspolitik entsprechend verschieden".
Ein Echo dieser Argumentation findet sich auch in der deutschen Tageszeitung Junge Welt, die vor der Wende als offizielles Sprachrohr der SED-Jugendorganisation fungierte und sich nun als linke Tageszeitung begreift. Unter der Überschrift: "Die Linken in der BRD und die USA - Gore oder Bush ist mehr als nur die Wahl zwischen Pest und Cholera," schrieb Rainer Rupp zwei Tage nach der Wahl: "Vor dem Hintergrund der außenpolitischen Zurückhaltung Georg W. Bushs ist es um so erstaunlicher, dass ausgerechnet Al Gore - der Kandidat der transnationalen Großkonzerne -, der sich als Weltpolizist überall einmischen will, von deutschen Linken favorisiert wird. Wahrscheinlich hat das mit den gesellschaftlichen erzkonservativen Positionen Bushs zu tun. Das aber ist einzig Sache der US-Amerikaner selbst. Washingtons Außenpolitik hingegen betrifft uns alle."
Hier zeigt sich ein durch und durch bonierter, nationalistischer Standpunkt, der nicht das geringste Interesse hat, sich mit den Folgen einer Bush-Regierung für die amerikanischen Arbeiter zu beschäftigen. Ganz abgesehen davon, dass ein Bushregime die reaktionärsten Kräfte in Europa und weltweit ermutigen und stärken würde.
Vor allem aber liegt dieser Argumentation eine völlige Fehleinschätzung über die Veränderung der amerikanischen Außenpolitik unter Bush und Cheney zu Grunde.
Der Rückzug der USA aus internationalen Verpflichtungen bedeutet nicht weniger Eingreifen der USA in der Weltpolitik und schon gar nicht weniger aggressiv militärisches Eingreifen. Ganz im Gegenteil! Unter einer Bush-Regierung wird die Außenpolitik der USA noch weit weniger als bisher auf die Interessen der europäischen Regierungen und anderer Partner Rücksicht nehmen, sondern sich an den unmittelbaren und engstirnigsten nationalen Interessen und Vorteilen orientieren. Mit anderen Worten: Militärische Abenteuer werden zunehmen und die Konflikte zwischen den Großmächten wachsen. Es bedarf keiner Hellsehergaben, um sich vorzustellen, was das im Fall künftiger Finanzkrisen bedeutet.