Parlamentswahlen im Iran
Wahlsieg der Reformer verdeckt soziale Gegensätze
Von Ute Reissner
23. Februar 2000
Die Koalition aus 18 Gruppen und Parteien, die den iranischen Staatspräsidenten Mohammed Chatami unterstützt, hat im ersten Wahlgang für das Parlament in Teheran landesweit nach den jüngsten Meldungen fast zwei Drittel der Stimmen auf sich vereint.
Die Wahlbeteiligung am 18. Februar lag bei weit über 80 Prozent. In den Großstädten Teheran, Isfahan, Schiraz und Täbriz mussten die Wahllokale zwei Stunden länger geöffnet bleiben, als ursprünglich vorgesehen; das Innenministerium musste Stimmzettel nachliefern.
Ein großer Teil der rund 38 Millionen Wahlberechtigten ist sehr jung, drei Viertel der iranischen Bevölkerung sind unter 25 Jahre alt, und das Wahlalter liegt bei 16 Jahren.
Mit endgültigen Ergebnissen kann in etwa zwei Wochen gerechnet werden. Einem weiteren Wahlgang werden sich jene Kandidaten stellen, die weniger als 25 Prozent der Stimmen erhalten haben.
Die Kandidaten des Chatami nahestehenden Wahlbündnisses, die als "Reformer" bezeichnet werden, eroberten fast überall die deutliche Mehrheit. Oft wurden Brüder, Ehefrauen, Schwestern oder Schwager von inhaftierten oder zur Wahl nicht zugelassenen Politikern gewählt. Der zwölfköpfige sogenannte "Wächterrat", eine Art von oben ernanntes Verfassungsgericht, hatte im Vorfeld 576 von 6856 Bewerbern um die Kandidatenplätze für "unwürdig" erklärt.
So kam es, dass der Bruder des ehemaligen Innenministers Nuri (der in Haft sitzt und nicht zur Wahl zugelassen wurde) mit großer Mehrheit gewählt wurde, obwohl ihm der Ruf vorauseilt, dass er nichts von Politik versteht. Ebenfalls in Teheran landete Jamileh Kadivar, die Schwester des wegen "Freidenkertums" inhaftierten Geistlichen Mohsen Kadivar und Frau des Kulturministers Mohajerani mit beinahe 39 Prozent der Stimmen auf Platz zwei. Der jüngere Bruder des Präsidenten Chatami, Mohammed-Reza Chatami, erhielt mit über 56 Prozent der Stimmen das beste Ergebnis überhaupt.
Das siegreiche Bündnis "2. Chordad", benannt nach dem Datum von Chatamis Wahl zum Staatspräsidenten im Frühjahr 1997, umfasst unterschiedliche Organisationen, wie z.B. die "Islamische Beteiligungsfront", die von dem geschassten ehemaligen Kulturminister geführt wird, die ehemals regimetreue "Organisation der islamischen Mudschahedin", die "Islamische Arbeiterpartei", und auch Sozialdemokraten und ehemalige Stalinisten. Aushängeschilder sind bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens: Journalisten, Verleger, Künstler, Schriftsteller.
Ähnlich wie einst Gorbatschows Anhänger, so wurde auch "2. Chordad" zur neuen Heimat nicht weniger Wendehälse aus den Reihen der bisherigen Machthaber. Das Bündnis steht weniger für eine Absetzung, als für eine Neuorientierung der bisherigen Machthaber.
Presseberichten zufolge haben sich große Teile des Handels- und Finanzzentrums in Teheran, des sogenannten Basars, diesmal hinter die "Reformer" gestellt. So meldet Die Presse aus Wien: "Gespräche mit Basarhändlern deuten darauf hin, dass bei diesen Wahlen zum ersten Mal ein großer Teil der Basaris nicht zu den Konservativen gehalten hat. Mit dreihunderttausend Beschäftigten und erheblichen finanziellen Mitteln war der Basar seit den sechziger Jahren eine entscheidende Kraft hinter Khomeini und später hinter seinen Nachfolgern."
In dieses Bild passt auch, dass der in Teheran siegreiche Bruder des Präsidenten mit einer Enkelin des Revolutionsführers Chomeini verheiratet ist.
Außerdem schwenkten anscheinend viele Angehörige der sogenannten "Märtyrerfamilien" um. Die Familien der rund 700.000 Opfer des iranisch-irakischen Krieges (1980-88) werden von religiösen Stiftungen unterstützt und genießen gewisse Vorrechte, beispielsweise werden ihre Kinder bei der Vergabe von Studienplätzen bevorzugt. Doch werden den in diesem Bereich tätigen Stiftungen seit längerem Willkür und Korruption vorgeworfen.
Die Abstimmung kann mit Fug und Recht als Plebiszit gegen das bestehende Regime bezeichnet werden, das in breiten Teilen der Bevölkerung verhasst ist und sich restlos diskreditiert hat. Doch hinter dieser gemeinsamen Ablehnung verbergen sich diametral entgegengesetzte soziale Interessen und politische Anliegen, die sich in der bevorstehenden Periode immer deutlicher herausschälen werden.
Die Masse der Bevölkerung will Arbeit, bessere Bildungschancen, demokratische Freiheiten und soziale Sicherheit. Doch der Kurs des Staatspräsidenten Chatami, den die unter dem Sammelbegriff "Reformer" angetretenen Gruppen unterstützen, wird zu einer extremen Zuspitzung der sozialen Gegensätze führen und damit auch die demokratischen Zugeständnisse, auf denen Chatamis Popularität basiert, sehr bald konterkarieren. Nicht umsonst hat der Staatspräsident die brutale Niederschlagung der Studentenproteste vom vergangenen Juli unzweideutig unterstützt. Und am Sonntag nach den Wahlen wurde prompt das Todesurteil gegen einen der beteiligten Studenten, Akbar Mohammadi, von einem Teheraner Gericht bestätigt.
Zahlreichen Medienberichten zufolge reagierten die Wahlsieger auffallend zurückhaltend auf ihren Erfolg. "In der Zentrale der reformorientierten Iranischen Islamischen Beteiligungsfront (IPP), die mit den meisten Abgeordneten im neuen Parlament vertreten sein wird, herrscht am Tag nach der Wahl Stille", berichtet ein verblüffter Korrespondent der Welt, der sich eigentlich zur Siegesfeier einfinden wollte. "Doch auch das Volk verhält sich abwartend. Keine Hubkonzerte wie vor zweieinhalb Jahren bei Chatamis überraschendem Wahlsieg, keine Siegeszüge. Sogar die Jugend, obschon sie Chatami weiterhin als ihren Hoffnungsträger betrachtet, ist auffällig zurückhaltend."
Auch die deutsche Financial Times beobachtet: "Die Koalition der Reformer... ist vom Ausmaß ihres Siegs so überrascht, dass manche der führenden Kandidaten sich Sorgen machen, dass sie den Hunger nach wirtschaftlichen und politischen Veränderungen nicht stillen könne."
Und die Süddeutsche Zeitung warnt: "Die materiellen Voraussetzungen für das bessere Leben sind trotz gestiegener Erdölpreise nicht allzu gut. Irans Bevölkerung wächst rasch, und die Arbeitslosigkeit bleibt hoch... Die jetzt geweckten Hoffnungen zu enttäuschen, könnte sehr gefährlich sein."
Diese gespannte Atmosphäre hat ihren guten Grund. Die Politik der "Reformer" läuft in der Tat auf eine Rückkehr zu eben jenen Verhältnissen - oder noch schlimmeren - hinaus, die im Jahr 1979 zur Revolution und zum Sturz des Schah-Regimes geführt hatten. Unter der Herrschaft von Reza Schah Pahlevi, seinem Hof und seinem mörderischen Geheimdienst waren die umfangreichen Ölreserven des Landes an die großen westlichen Konsortien verscherbelt und das Land ganz in den Dienst der strategischen Interessen der USA im Nahen und Mittleren Osten gestellt worden.
Die religiöse Ideologie, unter der 1979 der Schah verjagt wurde und eine Schicht der einheimischen Bourgeoisie unter Ayatollah Khomeini die Macht übernahm, hatte unter den Massen Einfluss gewonnen, nachdem die Jahrzehnte alten Organisationen der Arbeiterbewegung, allen voran die stalinistische Tudeh-Partei, in den Augen der Arbeiter versagt hatten.
Der folgende Versuch des islamistischen Regimes, den Iran auf seine Weise vom direkten Einfluss und Zugriff insbesondere des amerikanischen Imperialismus zu isolieren, ist gescheitert. Die "Öffnung" des Landes, seit Jahren in die Wege geleitet, wird nun, nach den Wahlen, beschleunigt angesteuert. Entsprechend begeistert ist das Wahlergebnis in Washington, Berlin und Paris aufgenommen worden. US-Außenamtssprecher James Rubin sprach von einem "Ereignis von historischem Ausmaß", die europäischen Regierungen feierten ebenfalls einhellig die "Stärkung der Demokratie". Doch die Folgen dieser Art der "Öffnung" und "Demokratisierung" lassen sich heute bereits in Russland studieren.
Wie die Hyänen umkreisen die westlichen Regierungen, Unternehmen und Ölkonzerne den aufbrechenden Staat. Man rechnet damit, dass bald die letzten Importkontrollen und Subventionen im Iran fallen, die bereits seit zehn Jahren schrittweise abgebaut werden.
Es winkt ein beachtlicher Markt und eine neue Bastion im Kampf um die Aufteilung des Kaspischen Öls. Obwohl die USA im Jahr 1996 ein Gesetz verabschiedet hatten, wonach Firmen mit Sanktionen belegt werden, die sich mit Summen über 20 Millionen Dollar im Iran engagieren, haben europäische Konzerne wie Elf, Total und Royal Dutch Shell in den letzten Jahren umfangreiche Geschäfte mit dem Iran abgeschlossen. Seit Chatamis Machtantritt drängen US-Firmen auf eine Lockerung der gesetzlichen Vorschriften, um nicht ins Hintertreffen zu geraten.
Der österreichische Außenminister Albert Rohan erklärte, er werde nun umgehend in den EU-Gremien anregen, den Dialog mit Teheran auf Ministerebene zu heben. Er rechne vor allem mit der Unterstützung Italiens, Frankreichs und Spaniens. Die USA seien gegenwärtig durch den Präsidentschaftswahlkampf gehemmt, sie könnten unter diesen Bedingungen schwerlich einen "derart heiklen Paradigmenwechsel" vollziehen. Der deutsche Außenminister Fischer, der sofort eine Reise nach Teheran ankündigte, könne momentan freier und forscher vorgehen.
Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion im deutschen Bundestag, Gernot Erler, hält es wenige Tage nach den iranischen Wahlen für "erwägenswert", eine Öl-Pipeline aus dem Kaspischen Meer durch den Iran zu bauen - was die US-Regierung bislang verhindern will. Vielleicht könne man, so Erler, nun einen gemeinsamen Ansatz der Türkei, des Iran und Russlands in der Mittelost-Region suchen.
Die Korrespondentin der Schweizer Zeitung Der Bund schilderte am 15. Februar die Lage jener Menschen, auf deren Rücken diese Politik ausgetragen wird:
"Nach langem Suchen fand Ahmed vor zwei Jahren bei Iran-Khodro (Fahrzeugfabrik am westlichen Rand Teherans) Beschäftigung - auf drei Monate befristet. Sie wurde zwar immer wieder verlängert, aber stets nur für wenige Monate. 50.000 Tuman bezahlt man ihm, durch Überstunden bringt er es auf etwas mehr. Ahmed ist erschöpft, böse und verzweifelt. Er mache dieselbe Arbeit wie ein Kollege, der offiziell angestellt sei und das Doppelte erhalte. 4000 Arbeiter teilen Ahmeds Schicksal in Iran-Khodro, im ganzen Land sind es Zehntausende. Ich kann mir für meine Frau und mein Kind keine eigene Wohnung leisten. Ich brauche dringend 20.000 Tuman, aber weder das Unternehmen noch die Bank borgen mir Geld, weil ich keine fixe Anstellung habe.... Dasselbe Bild zeigt sich im armen Süden Teherans... Es brodelt unter der ruhigen Oberfläche des Irans. Seit Präsident Chatami vor zweieinhalb Jahren an die Macht kam, haben sich die sozialen Nöte der Menschen verschlimmert..."