Erste Fälle von BSE in Deutschland
Von Markus Salzmann
12. Dezember 2000
Am 24. November wurde in Schleswig-Holstein im Rahmen eines von einer Handelskette in Auftrag gegebenen Zufallstests der erste Fall der Rinderseuche BSE bei einem in Deutschland geborenen Rind bekannt. Nur einen Tag später wurde bei einer Kuh in Portugal, die aus Sachsen-Anhalt stammt, die selbe Diagnose gestellt.
Bei beiden Rindern, die bereits krankheitsspezifische Auffälligkeiten gezeigt hatten, wurde auf Grund eines Schnelltests der BSE-Verdacht diagnostiziert. Weitere Tests konnten dies eindeutig belegen. Diese Nachricht löste in Deutschland berechtigte Sorgen in der Bevölkerung aus und trieb höchste Regierungskreise zu hektischem Aktionismus an.
Vertreter der deutschen Regierung und der EU äußerten sich nach diesen Vorfällen besorgt, versicherten jedoch zugleich, dass alles Mögliche getan werde, um für die Sicherheit der Verbraucher zu sorgen. Der Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium Erwin Jordan (Grüne) sprach vom "Ende der Schönrednerei über ein vermeintlich BSE-freies Land", teilte jedoch gleichzeitig mit, dass das BGM keinen Anhaltspunkt habe, "dass wir in Deutschland ein großes BSE-Problem haben". Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer (Grüne) konnte nur feststellen, dass bisher ergriffene Maßnahmen offenbar nicht mehr ausreichen, und empfahl, im Zweifelsfall auf Produkte aus der Region zurückzugreifen.
Bundeskanzler Gerhard Schröder setzte sofort einen Krisenstab ein, der am Samstag vor einer Woche tagte und einen Gesetzentwurf über ein Verbot für die Ein- und Ausfuhr von Tiermehl sowie generell für die Fütterung von Nutztieren mit Tiermehl beschloss, da nun auch eine Übertragung von BSE z.B. von Schweinen, Fischen oder Hühnern auf Menschen nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden könne. Acht Tage später trat das Gesetz bereits in Kraft. Das war eines der schnellsten Gesetzgebungsverfahren in der deutschen Geschichte. Ein Fütterungsverbot von Rindern mit Tiermehl besteht bereits seit 1994.
Das vollständige Verbot der Tiermehlverfütterung soll EU-weit nun ab 1. Januar für ein halbes Jahr gelten. Beschlossen wurde außerdem der Einsatz von BSE-Schnelltests. Ab Beginn des kommenden Jahres sollen auf allen europäischen Schlachthöfen auffällige und notgeschlachtete Rinder dem Test unterzogen werden, ab 1. Juli dann alle Schlachtrinder über 30 Monate. In Deutschland gilt diese Regelung schon ab 6. Dezember. Des weiteren sollen jene Teile des Rindes, die Erreger in hoher Konzentration enthalten können, beispielsweise Hirn und Rückenmark, nicht mehr in die Nahrungskette gelangen.
Trotz der Tatsache, dass die Ausbreitung der Rinderseuche in Europa teilweise enorme Ausmaße angenommen hatte, wurde in den letzten Jahren das Märchen vom BSE-freien Deutschland mit allen Mitteln gepflegt. Trotz zahlreicher Warnungen von Wissenschaftlern war bewusst auf jegliche Art von Kontrollen oder Vorsichtsmaßnahmen verzichtet worden.
Die jetzt so eilig und einhellig beschlossenen Maßnahmen waren vor den beiden BSE-Fällen vehement zurückgewiesen worden. Grund dafür dürften die hohen Kosten und die weitreichenden Auswirkungen für Landwirtschaft und Nahrungsmittelindustrie sein. Die französische Regierung veranschlagte z. B. die Kosten des Tiermehlverbots auf umgerechnet 1,5 Milliarden DM. Aber auch auf die Arbeitsplätze werden die neuen Meldungen über BSE-Erkrankungen Auswirkungen haben. In Frankreich ist bereits die Hälfte der 44.000 Schlachthofbeschäftigten ohne Arbeit, die Aktien einer Fast-Food-Kette rutschten in den letzten Wochen in den Keller.
Warnungen über BSE in Deutschland
In Deutschland sahen sich die regierenden Parteien erst zum Eingreifen gezwungen, als die bekannt gewordenen Fälle eine große öffentliche Debatte auslösten und sie befürchten mussten, dass sie die Quittung der Wähler für die langen Jahre der Lügen und Verharmlosungen zugunsten der Profite erhalten würden.
Bereits Mitte des Jahres war in einem Gutachten einer EU-Kommision, die aus einer 50-köpfigen internationalen Expertengruppe bestand, Deutschland in die Kategorie III der möglichen BSE-Risikogruppen I-IV eingestuft worden, dieselbe Gruppe, in die auch Länder wie Frankreich oder die Schweiz eingeordnet gruppiert wurden, in denen bereits zahlreiche Fälle an die Öffentlichkeit gelangt waren. In Frankreich sind bisher 184, in der Schweiz gar 360 BSE-Fälle bekannt geworden. Die Gutachter begründeten dies mit der hohen Wahrscheinlichkeit, auch in Deutschland Fälle von Rinderwahnsinn zu entdecken, sobald die mangelhaften Nachweismethoden behoben und mit einer aktiven Überwachung, also etwa durch Stichproben bei notgeschlachteten oder unklar verendeten Tieren, begonnen wird. Die Richtigkeit dieser Annahme hat sich nun bestätigt. Die Experten hatten gute Gründe dafür.
Die neuen BSE-Fälle werfen ein neues Licht auf den Fall der schleswig-holsteinischen Tierärztin Margit Herbst, die als verantwortliche Veterinärin des Schlachthofes in Bad Bramstedt 1996 versucht hatte, einige ihr verdächtig erscheinende Rinder aus dem Schlachtprozess zu eliminieren. Dies war ihr von ihren Vorgesetzten verboten worden. Diese hatten feststellen lassen, die Rinder hätten auf Grund ganz anderer Erkrankungen nur ähnliche Symptome gezeigt, und sie für die Schlachtung zum menschlichen Verzehr freigegeben. Als die Tierärztin den Fall an die Öffentlichkeit brachte, wurde sie fristlos entlassen. Vor Gericht erhielt sie zwar später in der Sache recht, aber die Entlassung wurde trotzdem für berechtigt angesehen, weil sie an die Öffentlichkeit gegangen war und ihren Arbeitgeber dadurch geschädigt hatte.
Auch wurden nach Deutschland 630.000 Tonnen Mischfutter, d. h. Futter mit einem Anteil an Tiermehl, importiert. Das bedeutet, dass für den Verzehr freigegebene Rinder auch nach dem Tiermehlverbot für Wiederkäuer Mischfutter bekamen. 75.000 Tonnen kamen aus Frankreich, wo bereits über 180 Fälle der Rinderseuche bekannt sind. Man muss bedenken, dass bereits 0,1g infektiöses Material ausreichen, um BSE zu übertragen.
Bis 1993 wurden mindestens 13.000 britische Rinder nach Deutschland importiert. Als in fünf Fällen BSE bei diesen Importrindern nachgewiesen wurde, waren 400 andere bereits verarbeitet und von Mensch oder Tier verspeist worden. Außerdem besteht das Problem von sogenannten Kreuzkontaminationen, wenn, wie in Deutschland üblich, pflanzliches und tierisches Futter in einer Fabrik hergestellt werden. Wurde eine infizierte Kuh verarbeitet, kann davon ausgegangen werden, dass auch das pflanzliche Futter kontaminiert ist, da eine Reinigung, die eine Übertragung sicher verhindern würde, allein durch die Bauweise der Fertigungsmaschinen nicht möglich ist. Es ist bekannt, dass die Eiweißprionen, die als BSE-Erreger gelten, selbst Desinfektionen bei bis zu 300 Grad Celsius überlebt haben. Die jetzt in Deutschland festgestellten BSE-Fälle sind also möglicherweise nur die Spitze eines Eisbergs.
Wissenschaftler gehen davon aus, dass auch in Deutschland die Übertragung von BSE auf den Menschen möglich ist. Auch wenn bisher noch kein Fall der neuen Variante der Creutzfeld-Jacob-Krankheit, die durch den BSE-Erreger ausgelöste Zerstörung des menschlichen Gehirns, diagnostiziert wurde, kann längst eine Infektion erfolgt sein. Die Inkubationszeit beim Menschen ist erheblich länger als beim Rind. Bis die ersten Symptome, beim Menschen Depressionen und Veränderungen der psychischen Befindlichkeit, auftreten, können viele Jahre oder sogar Jahrzehnte vergehen.
Trotz der bekannten Fakten und Warnungen von Wissenschaftlern hatte Landwirtschaftsminister Karl-Heinz Funke (SPD) genau wie seine Vorgänger von der CDU und die Landwirtschaftsminister der Länder die von der EU und zahlreichen Experten geforderten Schnelltests stets kategorisch abgelehnt. Er begnügte sich mit dem Verweis darauf, dass bisher kein BSE-Fall bei einem in Deutschland geborenen Rind aufgetreten sei.
Funke hielt bisher auch die Ausweitung eines Verbots für die Fütterung bzw. die Ein- und Ausfuhr von Tiermehl für unnötig. Noch vor wenigen Wochen erklärte er die bestehenden Regelungen für ausreichend, wohl wissend, dass Tiermehl als ein Hauptüberträger gilt und Experten bereits seit langem auf die Unzulänglichkeiten bei der Herstellung des Tiermehls hinweisen. In den letzten Jahren haben sich sogar Herstellung, Verbrauch und Handel mit dem "braunen Gold", wie es in der Branche genannt wird, erhöht.
Auch Wilhelm Graefe zu Baringdorf, EU-Abgeordneter der Grünen, kritisierte die bisherige Politik deutscher Politiker: "Auf EU-Ebene hat Deutschland jahrelang alle Beschlüsse blockiert, BSE-Risikomaterialien wie Hirn, Augen und Rückenmark aus der Nahrungskette herauszunehmen... Erst in diesem Herbst fassten die Agrarminister endlich den fälligen Beschluss."
Unzureichende Maßnahmen
Die jetzt mit höchster Eile beschlossenen Maßnahmen dienen in erster Linie dazu, die Bevölkerung zu beruhigen, die Spuren der verantwortungslosen Politik zu verwischen und den wirtschaftlichen Schaden für die deutsche Fleisch- und Agrarlobby möglichst zu begrenzen. Gleichzeitig soll eine Stimmung erzeugt werden, in der es möglich ist, den Verbrauchern die Schuld an den BSE-Erkrankungen zuzuweisen, weil sie angeblich in der Vergangenheit immer billigeres Fleisch verlangt hätten. Als wenn die Familien, die nicht über ein dem Bundestagsabgeordnetengehalt vergleichbares Einkommen verfügen, aus freier Entscheidung billigstes Fleisch kaufen. Diese Kampagne gegen die Verbraucher soll es lediglich erleichtern, ihnen den größten Teil der entstehenden Mehrkosten aufzubürden.
Dabei ist selbst durch die beschlossenen Maßnahmen keine wirkliche Sicherheit beim Verzehr von Rindfleisch zu erreichen, denn eine sichere Kontrolle durch die verordneten Schnelltests ist nicht möglich. Durch sie ist es nur machbar, im Gehirngewebe bereits erkrankter älterer Rinder die Prionen nachzuweisen. Jüngere Rinder, bei denen der Test wegen der langen Inkubationszeit negativ ausfällt, können durchaus infiziert sein. Die Testverfahren sind noch nicht sehr weit entwickelt. Ein Bluttest, der am lebenden Tier durchgeführt werden könnte, ist noch nicht ausgereift. Das heißt, Rinder, deren Testergebnis negativ ausfiel, können dennoch den Erreger in sich haben.
Zum anderen herrscht in Deutschland ein ausgeprägter Mangel an Fachpersonal, das überhaupt in der Lage wäre, Tests dieser Art und in dieser Größenordnung durchzuführen. Betrifft die Testpflicht jedes Rind ab 30 Monaten, so sind dies ca. 1,6 Millionen Rinder pro Jahr. "Wir sehen gar nicht die Möglichkeiten, den Test so wie geplant vorzunehmen", beanstandet Jürgen Kundke, Sprecher des Bundesinstituts für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin in Berlin. Allein in Brandenburg, wo jährlich etwa 75.000 Rinder geschlachtet werden, gibt es nur für ca. 2.000 Rinder Kapazitäten. In anderen Bundesländern ist die Lage ähnlich.
Wie viel Schutz die Verschärfung des Verbots von Tiermehl bringt, ist ebenso fraglich. Eine europaweite Linie ist nicht in Sicht, da etlichen Mitgliedsstaaten die Forderungen zu weit gehen. Zudem können die EU-Restriktionen nach sechs Monaten wieder aufgehoben werden. Auch scheint es so, dass Tiermehl häufig illegal verwendet wird. Bei Kontrollen wurden in mehreren Bundesländern verbotene Mengen Tiermehl in Rinderfutter entdeckt.
Bisher kontrollieren einige EU-Mitgliedstaaten wie z. B. Spanien, Portugal oder Italien die Futtermittel gar nicht oder unzureichend.
Unstimmigkeiten gibt es auch zwischen Bund und Ländern. NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement (SPD) sprach sich, wie die Mehrheit der Länderchefs, für ein erneutes Importverbot im nationalen Alleingang für britisches Rindfleisch aus. Im April hatte die Länderkammer nach einem EU-Beschluss dieses Verbot aufgehoben. Mit dieser Forderung der Länderchefs soll eindeutig von dem wirklichen Problem - der kriminellen Verzögerung jeglicher Schutzmaßnahmen durch die deutschen Regierungen und Behörden - abgelenkt werden, um die Schuld an BSE anderen Ländern in die Schuhe zu schieben. Gesundheitsministerin Fischer lehnte ein erneutes Importverbot ab, wohl wissend, welche Konflikte auf europäischer Ebene sich daraus ergeben könnten.