Grönland
Enthüllungen über versunkene Atombombe stören amerikanische Raketenpläne
Von Helmut Arens
31. August 2000
Neue Informationen über eine vor der Küste Grönlands im Meer versunkene amerikanische Wasserstoffbombe kommen für die amerikanische und die dänische Regierung außerordentlich ungelegen, da sie den angestrebten Ausbau des Militärstützpunkts Thule für das amerikanische Antiraketensystem NMD in Frage stellen.
Der amerikanische Militärstützpunkt Thule auf Grönland ist ein entscheidendes Bindeglied in der Kette der Radarüberwachungsstationen, die einen integralen Bestandteil des geplanten Antiraketensystems NMD bilden sollen. Radarstationen, die sich von Alaska über Grönland bis zum britischen Fylingsdale und zum nordnorwegischen Vardö erstrecken, sollen gegen die USA anfliegende Raketen rechtzeitig erfassen und deren Abschuss ermöglichen. US-Verteidigungsminister Cohen hatte bereits vor einigen Wochen deutlich gemacht, wie wichtig die Radarstation auf dem Stützpunkt Thule für das Antiraketensystem sei.
Sowohl in Grönland wie auch in Dänemark gibt es Opposition gegen diese Pläne. In Dänemark haben sich bei einer Debatte im Parlament Ende Februar alle Parteien gegen das NMD-Projekt ausgesprochen. Auch die Regierung machte klar, dass eine Zustimmung nicht in Frage komme, falls das NMD gegen den ABM-Rüstungsbegrenzungsvertrag von 1972 verstoße. In diesem Vertrag waren die Sowjetunion und die USA übereingekommen, auf die Entwicklung und Stationierung von umfassenden Raketenabwehrsystemen zu verzichten, um die immer unbezahlbarer werdende Rüstungsspirale zu unterbrechen.
Der Chef der grönländischen Autonomieregierung, Jonathan Motzfeld, widersetzte sich dem Ausbau der Thule-Basis für das NMD mit den Worten: "Grönland soll dem Weltfrieden dienen und nicht dessen Gegenteil."
Die neuen Enthüllungen über die verlorene Wasserstoffbombe, die jetzt bekannt geworden sind, geben der Opposition der Grönländer gegen die Militärbasis neue Nahrung. Zwar hat die Autonomieregierung keine Kompetenz in dieser Frage, da die Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik Grönlands von Dänemark bestimmt wird, aber Dänemark vermeidet es in der Regel, über die Köpfe der Grönländer hinweg Entscheidungen zu treffen.
Am 21. Januar1968 war ein amerikanischer B-52 Bomber beim Anflug auf die Thule-Basis mit vier nicht scharf gemachten Wasserstoffbomben an Bord abgestürzt. Drei Bomben wurden zerstört und gefunden. Schon damals gab es Indizien dafür, dass die vierte Bombe trotz gegenteiliger Behauptungen der Amerikaner nie gefunden wurde, sondern bis heute auf dem Grund des Meeres vor der grönländischen Küste liegt.
Nun ist dieser mehr als dreißig Jahre zurückliegende Unfall wieder in die Schlagzeilen geraten. Die dänische Tageszeitung Jyllands-Posten veröffentlichte am 13. August Auszüge aus erst kürzlich freigegebenen, vertraulichen Dokumenten, die Vertreter von Thule-Arbeitern im Rahmen eines Schadensersatzprozesses in Archiven der amerikanischen Atomenergiekommission entdeckt haben. 1.200 dänische und grönländische Arbeiter waren damals mit den Aufräumungsarbeiten nach dem Absturz beschäftigt und sammelten ohne Schutzkleidung Trümmer und radioaktiven Müll ein, der dann in die USA transportiert wurde. Viele der Arbeiter haben sich bei den Arbeiten Krebsleiden und andere schwere gesundheitliche Schäden zugezogen.
Obwohl Washington Dänemark schon im Frühjahr des Jahres 1968 darüber informiert hatte, dass die Aufräumungsarbeiten abgeschlossen seien, deuten diese Dokumente darauf hin, dass die USA die Suche nach der vierten Bombe bis August 1968 fortsetzten und sie dann ohne Erfolg einstellten. Die dänische Regierung wurde nie informiert, dass vermutlich noch eine Atombombe auf dem Meeresgrund vor Grönland liegt.
Die jetzt gefundenen Dokumente zeigen, dass die dänische Regierung systematisch hinters Licht geführt wurde. In einem Schreiben vom 27. August 1968 an die Atomenergiekommission, das in einem Bericht über die Suchaktionen enthalten ist, heißt es, man habe Kopenhagen "wie verabredet nur die ausgewählten Teile" von Videoaufnahmen (auf denen auf dem Grund des Meeres ein bombenförmiger Gegenstand geortet worden war) zugänglich gemacht.
Der Absturz des Atomwaffenbombers hatte 1968 zu einer Krise in den Beziehungen zwischen den USA und dem Nato-Partner Dänemark geführt. Verstieß doch der Flug mit Atomwaffen über Grönland, das ja zu Dänemark gehört, gegen die offizielle Politik Dänemarks, keine Atomwaffen auf seinem Territorium zu dulden. Auch war dieser Vorfall kein Einzelfall. Es ist inzwischen bekannt, dass die USA die Thule-Basis, die ihr Dänemark 1951 im Zeichen des Kalten Krieges eingeräumt hatte, schon seit den fünfziger Jahren als Atomwaffenlager nutzte - ohne Wissen der Grönländer, aber mit stillschweigendem Einverständnis der dänischen Regierung. Dieses stillschweigende Einverständnis war der Preis für die Abwehr von Nato-Forderungen, Atomwaffen in Dänemark zu stationieren.
Diese Doppelbödigkeit der dänischen Politik, die durch den Flugzeugabsturz offenbar wurde, hat in Grönland starken Unmut hervorgerufen und der Forderung Auftrieb verliehen, dass außenpolitische Entscheidungen, für die die dänische Regierung zuständig ist, nicht mehr über die Köpfe der Grönländer hinweg gefällt werden dürfen.
Die jüngsten Nachrichten über die Verschleierungstaktiken der USA haben die grönländische Bevölkerung alarmiert und ihre Abneigung gegen die Nutzung von Thule für das NMD-Programm verstärkt. Sie fürchtet, selbst zum Angriffsobjekt zu werden, wenn das System installiert werden sollte. "Es wäre gefährlich für Grönland, wenn wir einer Aufrüstung der Radaranlagen auf Thule zustimmen würden," erklärte Johan Lund Olsen von der linken Inuit-Partei schon im Februar im grönländischen Regionalparlament.
Der Konflikt um die Thule-Basis wird auch in den zunehmenden Interessengegensatz zwischen den USA und den europäischen Nato-Partnern hineingezogen. Die europäischen Regierungen haben sich mehr oder weniger deutlich gegen das NMD-Programm ausgesprochen, weil sie ein unterschiedliches Sicherheitsniveau für die USA und die übrigen Nato-Länder befürchten und ein erneutes Wettrüsten vermeiden wollen, das auf eine Verletzung des ABM-Abkommens zu folgen droht.
Auch Russland und China üben Druck aus. Als die liberale norwegische Tageszeitung Bergens Tidende kürzlich melete, dass im Pentagon schon fertige Ausbaupläne für die Radarstation Vardö existierten, wo die USA schon jetzt ein System zur "Satellitenkommunikation" betreiben, drohte Russland Norwegen mit "dramatisch verschlechterten Beziehungen", falls die Pläne realisiert würden.
Die dänische Regierung steckt in einem Dilemma. Sie will einerseits ihr gutes Verhältnis zu den USA nicht gefährden und hat deshalb auf offizielle Kritik am geplanten Raketenabwehrsystem verzichtet. Der sozialdemokratische Ministerpräsident Nyrup Rasmussen und Außenminister Niels Helveg Petersen ziehen sich auf den Standpunkt zurück, solange keine offizielle Anfrage der USA zu einer erweiterten Nutzung von Thule vorliege, bestehe kein Bedarf, sich zu äußern. Andererseits legt die Regierung Wert auf die Einhaltung des ABM-Abkommens und steht unter dem Druck der europäischen Verbündeten.
In Interviews mit der Kopenhagener Tageszeitung Berlingske Tidende forderten deutsche und britische Politiker ein entschiedenes und abgestimmtes Vorgehen der europäischen Nato-Länder gegen die Raketenpläne der USA. Vor allem der außenpolitische Sprecher der SPD, Gert Weißkirchen forderte Kopenhagen direkt auf, die Thule-Basis als Hebel zu nutzen: "Dänemark muss alle zugänglichen Kanäle nutzen, um Washington klarzumachen, das NMD den Beziehungen zwischen den USA und Europa schadet," sagte Weißkirchen. Der Labour-Politiker und Vorsitzende des außenpolitischen Unterhausausschusses, David Andersson, malte sogar ein Auseinanderbrechen der Nato an die Wand.