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Teil 1: Die Bestandsaufnahme

Der Fall Martin Heidegger, Philosoph und Nazi

Teil 2: Die Vertuschung

Von Alex Steiner
29. April 2000
aus dem Englischen (4. April 2000)

Wir setzen heute die dreiteilige Artikelserie über das Leben und Werk des deutschen Philosophen Martin Heidegger fort. Der letzte Teil wird kommende Woche veröffentlicht.

Nachdem wir bereits die einschlägigen Fakten in Bezug auf die Laufbahn des deutschen Philosophen Martin Heidegger betrachtet haben, wenden wir uns nun den Mythen und Ausreden zu, auf denen sein Ruf nach dem Krieg aufbaute. Die offizielle Version der Geschichte, die von Heidegger und seinen Unterstützern vorgetragen wurde, besagt, dass seine Zuwendung zu den Nazis im Jahre 1933 ein jugendlicher Fehler gewesen sei, ein kurzer Flirt eines Akademikers, der in Fragen der Politik und weltlichen Angelegenheiten unbedarft war. Die Geschichte fährt fort, dass innerhalb weniger Monate der junge Philosoph seinen Fehler bemerkte, von seinem Posten als Rektor der Freiburger Universität zurücktrat und fortan jede Teilnahme an Aktivitäten der Nationalsozialisten verweigerte. Weiterhin besagt die Legende, dass Heidegger sogar in seiner Zeit als Rektor versuchte, die Integrität der Universität vor den schlimmsten Verbrechen der Nazis zu beschützen und sich persönlich bei den nationalsozialistischen Autoritäten zugunsten von jüdischen Studenten und Kollegen einsetze.

Schließlich, selbst wenn man von dieser Darstellung der Ereignisse nicht überzeugt ist, besteht laut den Verteidigern Heidegger der einzige Vorwurf, der gegen ihn erhoben werden kann, darin, dass Heidegger als Mensch an Charakterschwäche litt. Heideggers persönliches Versagen sei allerdings gänzlich getrennt von seiner Philosophie zu betrachten, welche "nach ihren eigenen Verdiensten" beurteilt werden müsse. Dies bedeutet konkret, dass jede Einschätzung von Heideggers Philosophie, die diese mit seiner Unterstützung für den Nationalsozialismus in Verbindung bringt, von seinen Verteidigern für unzulässig gehalten wird. Diese Sichtweise läuft außerdem darauf hinaus, dass es nichts in Heideggers Philosophie aus der Zeit vor der Herrschaft der Nazis, insbesondere in seinem Werk Sein und Zeit(1927), gibt, das irgendeine Wesensverwandtschaft zu den Ideen des Nationalsozialismus beinhaltet. In ähnlicher Weise wurde die spätere Kehre in Heideggers Philosophie als ausschließlich innere Reaktion interpretiert, die nicht mit Politik und den Problemen bei der ursprünglichen Formulierung seiner Gedanken verbunden gewesen sei.

Dies ist ein vielschichtiger Versuch der Schadensbegrenzung. Man kann die Verschleierung als Festung betrachten, auf deren Mauern Heideggers Unterstützer kämpfend stehen und das Hineinschlagen einer Bresche zu verhindern versuchen. Sollte die Fassade, die Geschichte von Heideggers jugendlicher Unüberlegtheit, bröckeln, ist noch nicht alles verloren. Der innere Ring, Heideggers Handlungen als Rektor im Widerstand gegen die Nazis, steht noch. Selbst wenn diese Verteidigungslinie fällt und die Unterstützer gezwungen sind, die Schwächen Heideggers als Menschen zuzugeben, steht immer noch die letzte Verteidigungslinie, die sogenannte Autonomie von Heideggers Philosophie. Indem er ein beeindruckendes Aufgebot an Intellektuellen zu seiner Verteidigung aufstellte, darunter viele Zeugnisse von einwandfreien Antifaschisten, erreichte es Heidegger, seinen Ruf bis in die Mitte der 80-er Jahre relativ intakt zu halten.

Man kann den Beginn der Kampagne zur Rettung von Heideggers Ruf vom Urteil der Nachwelt bis zu den Anstrengungen Heideggers selbst zurückverfolgen. Die Konturen der Legende vom politisch naiven Akademiker sind bereits in dem biografischen Essay, dass Heidegger 1945 dem Entnazifizierungskomitee überreichte, angedeutet. Hier schrieb er:

"Im April 1933 wurde ich in einer Plenarsitzung der Universität einstimmig zum Rektor gewählt (bei zwei Enthaltungen) und nicht, wie ein Gerücht besagt, vom nationalsozialistischen Minister ernannt. [Die Ernennung folgte später, als Heidegger zum Führer der Universität gemacht wurde, was er nicht erwähnt. A.S.] Es war das Ergebnis des Drucks aus meinem Kollegenkreis [...], dass ich einwilligte, Kandidat in dieser Wahl zu werden, und mich einverstanden erklärte, Folge zu leisten. Zuvor hatte ich ein akademisches Amt weder angestrebt noch innegehabt. Ich gehörte niemals einer politischen Partei an [Dies ist nicht wirklich die ganze Wahrheit, denn wie wir wissen, war er in den frühen 20-er Jahren Vorsitzender der rechts-katholischen Jugendbewegung. A.S.], noch unterhielt ich eine Beziehung, weder persönlich noch beruflich, mit der NSDAP oder mit Regierungsbehörden. Ich übernahm das Rektorat widerwillig und allein im Interesse der Universität an." [1]

Nachdem er das Bild seiner widerwilligen Berufung zum Rektor gezeichnet hat, fährt er damit fort zu beschreiben, wie der Autor der NSDAP beigetreten ist - beinahe als nachträgliche Handlung, um die Beziehungen der Universität zu den Behörden zu erleichtern.

"Kurze Zeit nachdem ich das Rektorat übernommen hatte, stellte sich mir der Kreisvorsitzende vor in Begleitung von zwei Funktionären, die für Belange der Universität zuständig waren, und bedrängte mich, in Übereinstimmung mit den Wünschen des Ministers, der Partei beizutreten. Der Minister bestand darauf, dass auf diesem Weg meine offiziellen Beziehungen zur Partei und den Regierungsorganen vereinfacht würden, besonders deswegen, weil ich bislang keinen Kontakt mit diesen Organen hatte. Nach langen Überlegungen erklärte ich mich bereit, im Interesse der Universität der Partei beizutreten, allerdings unter der ausdrücklichen Bedingung, dass ich jede Position innerhalb der Partei oder Arbeit zugunsten der Partei ablehnen würde, und dies sowohl während als auch nach dem Rektorat." [2] [Er erklärt hier nicht, warum, wenn seine Parteimitgliedschaft ausschließlich der Erleichterung seiner Arbeit als Rektor geschuldet war, er sie jährlich erneuerte - bis 1945, also lange nachdem seine Pflichten als Rektor geendet waren. A.S.]

Schließlich präsentiert er Beweise für seinen Opposition gegen den Nationalsozialismus nach seinem Rücktritt vom Posten des Rektors im Jahre 1934.

"Nach meinem Rücktritt vom Rektorat wurde klar, dass, wenn ich weiter lehren würde, meine Opposition zu den Prinzipien der nationalsozialistischen Weltsicht nur wachsen würde. [...] Da die nationalsozialistische Ideologie zunehmend unbeweglich wurde und einer reinen philosophischen Interpretation immer weniger wohlgesinnt war [Mit der "reinen philosophischen Interpretation" möchte Heidegger offensichtlich dem Leser andeuten, warum er sich anfänglich zum Nationalsozialismus hingezogen fühlte, der aber unglücklicherweise 1934 seinen metaphysischen Glanz verlor. A.S.], ist die Tatsache, dass ich als Philosoph tätig war an sich ein ausreichender Ausdruck der Opposition. [...]

Ich zeigte auch öffentlich meine Einstellung zur Partei, indem ich an ihren Versammlungen nicht teilnahm, ihre Insignien nicht trug und, ab 1934, mich weigerte, meine Kurse und Vorlesungen mit dem sogenannten deutschen Gruß [Heil Hitler] zu beginnen. [Wir wissen aus den Dokumenten, die bei Farías veröffentlicht sind, dass die letzte Behauptung eine offenkundige Lüge ist. A.S.] [...]

Es war nichts besonderes an meinem geistigen Widerstand während der vergangenen elf Jahre." [3]

Indem er sich präsentiert als jemand, der unbeabsichtigt und für eine kurze Phase in eine Form von "philosophischem" Nationalsozialismus verwickelt war, die sich später in eine Form des "geistigen Widerstands" umwandelte, versuchte Heidegger eine Mauer um seine philosophischen Ansichten zu errichten. Die Methoden, die er auf den größten Teil seiner Aktivitäten vor und nach 1933 anwandte, waren Schweigen, Ausreden, Halbwahrheiten und glatte Lügen.

In Heideggers Philosophie bedeutet die Kategorie des "Schweigens" nicht einfach die Abwesenheit von Sprache, sondern stellt selbst eine aktive Form des In-der-Welt-seins dar. Desgleichen bedeutete "Schweigen" in seiner Praxis die aktive Unterdrückung von Zeugnissen über seine Jahre im Nationalsozialismus. Ein Großteil der Korrespondenz Heideggers und andere persönliche Dokumente wurden Akademikern über Jahrzehnte hinweg vorenthalten. Diese Dokumente werden von der Familie Heidegger und sympathisierenden Wissenschaftlern unter Verschluss gehalten. Weiterhin war die akademische Gemeinschaft in den unmittelbaren Nachkriegsjahren nicht willens, irgend etwas in Bezug auf Heideggers Unterstützung für den Nationalsozialismus zu publizieren. Guido Schneeberger, der als Wissenschaftler zu einem frühen Zeitpunkt die erste Forschung zu diesem Bereich unternahm, erlebte, dass er für sein Buch nirgendwo einen Herausgeber finden konnte. Schließlich veröffentlichte er die Ergebnisse seiner Forschung selbst im Jahre 1962.

Heidegger hat auch vor einer völligen Fälschung seiner eigenen Geschichte nicht zurückgeschreckt. Ein gut dokumentiertes Beispiel hierfür ist die Neuauflage seiner Vorlesungen über Metaphysik aus dem Jahre 1935. Die Ausgabe von 1953 beinhaltet die berüchtigte Beschreibung der "inneren Wahrheit" des Nationalsozialismus. Der vollständige Satz lautet in der Ausgabe von 1953 folgendermaßen:

"Was heute als vollends als Philosophie des Nationalsozialismus herumgeboten wird, aber mit der inneren Wahrheit und Größe dieser Bewegung (nämlich mit der Begegnung der planetarisch bestimmten Technik und des neuzeitlichen Menschen) nicht das Geringste zu tun hat, das macht seine Fischzüge in diesen trüben Gewässern der ‚Werte‘ und der ‚Ganzheiten‘." [4]

Die Veröffentlichung dieses Aufsatzes sorgte in Deutschland für ein wenig Bestürzung. Einige fragten, warum Heidegger sich entschloss, den Aufsatz in dieser exakten Form zur Neuveröffentlichung freizugeben. Er antwortete, dass es ihm ein leichtes gewesen wäre, den Text zu ändern, er dies aber nicht wolle, da der Satz historisch zu der Vorlesung gehöre. [5]

Wir wissen inzwischen, dass Heidegger allerdings Änderungen am Text von 1935 vornahm als er ihn für die Neuauflage vorbereitete. Zum einen ist statt von einer eher allgemeinen "inneren Wahrheit und Größe der Bewegung" im Originaltext von der "inneren Wahrheit und Größe des Nationalsozialismus" die Rede. Als ein Assistent, der ihm bei der Drucklegung half, diesen Satz ohne jede kommentierende Fußnote bemerkte, riet er ihm, ihn zu entfernen. Heidegger erwiderte, dass er das nicht machen würde. Nichtsdestotrotz änderte Heidegger den Text wenige Wochen später, ohne es dem Assistenten zu sagen. Er entfernte den direkten Verweis auf den "Nationalsozialismus" und ersetzte den Bergriff durch den allgemeineren Ausdruck "diese Bewegung". Er fügte auch die Erklärung über Technologie in Klammern hinzu. Heidegger blieb bis zu seinem Tod bei der Darstellung, dass er niemals den Text seiner Vorlesung geändert habe. Er wiederholte dies in seinem Interview mit dem Spiegel im Jahr 1966. Bei einem späteren Versuch, die Auseinandersetzung um diese Frage endgültig beizulegen, wurde eine Suche nach dem Originalmanuskript von 1935 unternommen. Die Seite mit dem umstrittenen Satz fehlte. [6]

Die gleiche Methode - Unterdrückung von Dokumenten, Ausreden und Fälschungen - wurde von der großen Schar der Anhänger und Verteidiger Heideggers angewandt. Sie waren, bis zum Erscheinen von Farías epochalem Buch, vor allem darin erfolgreich, jegliche kritische Untersuchung von Heideggers Ideen und ihrer Verbindung zu seinen politischen Ansichten zu verhindern. Ein ironisches Kapitel in diesem Unterfangen wurde von dem Theoretiker der Dekonstruktion Paul De Man beigesteuert. De Man trug viel dazu bei, Heidegger in den 60-er Jahren in Kreisen der amerikanischen Intelligenz bekanntzumachen. In den späten 80-er Jahren wurde posthum bekannt, dass De Man nicht ganz saubere Hände hatte. Er war ein Nazikollaborateur im besetzten Belgien während des Zweiten Weltkriegs und hatte in dieser Eigenschaft einige antisemitischen Artikel für eine von den Nationalsozialisten finanzierte Literaturzeitschrift geschrieben. Nachdem Essays über De Mans Verhalten im Krieg veröffentlicht waren, folgte darauf eine lebhafte Kontroverse über die Beziehung zwischen De Mans Kriegsaktivitäten und seinen nachfolgenden Ideen zur Dekonstruktion. [7]

Ein noch üblerer Verfechter Heideggers war der französische Übersetzer Jean Beaufret. Beaufret, ein ehemaliger Kämpfer der Resistance, veröffentlichte vor seinem Tod 1982 mehrere Bände seiner Korrespondenz mit Heidegger. Über 35 Jahre lang war er der beständigste Verteidiger Heideggers in Frankreich. Die Tatsache, dass er ein Kämpfer in der französischen Widerstandsbewegung war, verlieh seiner Verteidigung eines ehemaligen Nazis Gewicht. Allerdings sieht es so aus, als sei auch Beaufret nicht gerade lupenrein. Für einige Zeit war er ein heimlicher Sympathisant des berüchtigten Holocaust-Leugners Robert Faurisson. Beaufret leugnete wie Faurisson die Existenz des Holocausts und speziell der Gaskammern. In einem Brief an Faurisson wird Beaufret folgendermaßen zitiert:

"Ich glaube, dass ich für meinen Teil annähernd den selben Weg wie Sie gegangen bin und als verdächtig angesehen wurde, weil ich dieselben Zweifel äußerte [in Bezug auf die Existenz von Gaskammern]. Ich hatte Glück, dass ich dies mündlich tat." [8]

Beaufrets Glaubwürdigkeit wurde nie in Frage gestellt bis Faurisson seine Briefe in den 80-er Jahren veröffentlichte.

Im Rahmen ihrer Public-Relations-Kampagne waren Heidegger und seine Anhänger besonders versessen darauf, Zeugnisse von deutsch-jüdischen Philosophen, die selbst unter den Nazis gelitten hatten, heranzuziehen. Zu diesem Zweck wurde die bekannte Philosophin und deutsche Emigrantin Hannah Arendt gebeten, ein Essay für eine Anthologie zu Ehren Heideggers anläßlich seines 80. Geburtstages zu schreiben. Arendts Essay "Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt" enthält die folgende verborgene Anspielung auf Heideggers politische Aktivitäten:

"Nun wissen wir alle, dass auch Heidegger einmal der Versuchung nachgegeben hat, seinen ‚Wohnsitz‘ zu ändern und sich in die Welt der menschlichen Angelegenheiten ‚einzuschalten‘ - wie man damals so sagte. Und was die Welt betrifft, so ist sie ihm noch um einiges schlechter bekommen als Plato, weil der Tyrann und seine Opfer sich nicht jenseits des Meeres, sondern im eigenen Lande befanden. [Dies ist ein Verweis auf den Aufenthalt Platos in Syrakus. Er hoffte, den Tyrannen von Syrakus, Dionysos, beraten zu können. Nach diesem relativ kurzen Versuch, die Herrschaft Dionysos mit einer Prise Weisheit zu mildern, kehrte Plato nach Athen zurück und schloss, dass sein Versuch, seine Theorien in die Praxis umzusetzen, gescheitert war. A.S.] Was ihn selbst anbelangt, so steht es, meine ich, anders. Er war noch jung genug, um aus dem Schock des Zusammenpralls, der ihn nach zehn kurzen hektischen Monaten vor 35 Jahren auf seinen angestammten Wohnsitz zurücktrieb, zu lernen und das Erfahrene in seinem Denken anzusiedeln.

Wir, die wir den Denker ehren wollen, wenn auch unser Wohnsitz mitten in der Welt liegt, können schwerlich umhin, es auffallend und vielleicht ärgerlich zu finden, dass Plato wie Heidegger, als sie sich auf die menschlichen Angelegenheiten einließen, ihre Zuflucht zu Tyrannen und Führern nahmen. Dies dürfte nicht nur den jeweiligen Zeitumständen und noch weniger einem vorgeformten Charakter, sondern eher dem geschuldet sein, was die Franzosen eine déformation professionelle nennen. Denn die Neigung zum Tyrannischen lässt sich theoretisch bei fast allen großen Denkern nachweisen (Kant ist die große Ausnahme). Und wenn diese Neigung in dem, was sie taten, nicht nachweisbar ist, so nur, weil sehr Wenige selbst unter ihnen über ‚das Vermögen, vor dem Einfachen zu erstaunen‘, hinaus bereit waren, ‚dieses Erstaunen als Wohnsitz anzunehmen‘." [9]

Nach dem Zeugnis, das Arendt ihm ausstellt, ergab sich Heideggers verhängnisvoller Fehler weder aus den Umständen, in denen er lebte, noch aus seinem Charakter und fand sicherlich keinen Widerhall in seinen Ideen. Die Tatsache, dass Heidegger ein Nazi wurde, von ihr euphemistisch als "Versuchung [...], seinen ‚Wohnsitz‘ zu ändern und sich in die Welt der menschlichen Angelegenheiten ‚einzuschalten‘" beschrieben, könne ausschließlich dem Berufsrisiko eines Philosophen zugeschrieben werden. Und wenn andere Philosophen Heidegger auf diesem Weg nicht folgten, so deshalb, weil sie das Denken nicht so ernst wie Heidegger nahmen. Sie waren nicht bereit "dieses Erstaunen als ihren Wohnsitz anzunehmen".

Arendts Text ist bemerkenswert wegen seiner völligen Unverschämtheit. Sie schafft es, Heidegger zum Opfer zu machen, das der Größe seiner Gedanken anheimfiel. Wenn sie sagt, es wäre "ihm noch um einiges schlechter bekommen als Plato", so impliziert sie damit, dass er von Kräften, die er nicht beherrschen konnte, herumgeschleudert wurde, dass er keine Verantwortung für seine eigenen Handlungen trägt. Als ob sie die Absurdität ihrer Position erkennen würde, nimmt Arendt das Argument aus dem Textkörper und setzt es in eine lange kommentierende Fußnote. In dieser Fußnote steigt sie herunter von der hochfliegenden Rhetorik ihres Nachsinnens über Plato zu den konkreten Fragen im Umfeld der Affäre Heidegger. Sie kehrt zurück zu dem Thema von Heideggers ursprünglicher Unschuld und politischer Naivität und beklagt, dass Heidegger wie so viele andere deutsche Intellektuelle seiner Generation nie Hitlers Mein Kampf gelesen hätte. [10]

Tatsächlich gibt es guten Grund zu der Annahme, das Heidegger nicht nur Hitlers Opus Mein Kampf gelesen hatte, sondern es auch guthieß. Tom Rockmore hat überzeugend argumentiert, dass in seiner Antrittsrede als Rektor in Freiburg, Heideggers "vielfältige Anspielungen auf den Kampf auch beabsichtigt waren als klare Anspielungen auf Hitlers berüchtigte Sicht auf den Kampf für die Verwirklichung des Schicksals des deutschen Volkes, die er in Mein Kampf formuliert hatte." [11]

Weiter unten in ihrer Fußnote versucht Arendt das Blatt gegen Heideggers Kritiker zu wenden, indem sie die von Heidegger selbst erschaffene Legende von seinem wiedergutmachenden Verhalten nach seinem "Irrtum" auftischt.

"Heidegger korrigierte seinen eigenen ‚Irrtum‘ schneller und gründlicher als viele von denen, die später über ihn zu Gericht saßen - er ging ein erheblich größeres Risiko ein als es während dieser Zeit im literarischen und universitären Leben in Deutschland üblich war." [12]

Auch im Jahre 1971 wusste Hannah Arendt mehr, oder sie hätte mehr wissen sollen, als das Märchen, das sie in dieser peinlichen Verteidigungsschrift erzählt. Sie wusste zum Beispiel sicherlich von der 1953-er Neuauflage von Heideggers Essay über die "innere Wahrheit des Nationalsozialismus". Durch ihre Freundschaft mit Karl Jaspers hatte sie Kenntnis von dem erbärmlichen Verhalten, dass Heidegger gegenüber Jaspers und seiner jüdischen Frau an den Tag legte. (Heidegger brach, kurz nachdem er Rektor geworden war, alle persönlichen Beziehungen zu Jaspers und seiner Frau ab. Erst nach dem Krieg versuchte Heidegger, ihre persönliche Beziehung wiederherzustellen. Trotz eines periodischen Briefwechsels konnten die zwei Philosophen ihre persönliche Beziehung nicht reparieren aufgrund der Weigerung Heideggers, seine Unterstützung für den Nationalsozialismus zu widerrufen.)

Der Hinweis auf ein "erheblich größeres Risiko", das er einging, ist, wie Heideggers "geistiger Widerstand" gegen den Nationalsozialismus, ein Echo auf Heideggers eigene Erfindungen nach dem Krieg. Aber warum setzte sich Hannah Arendt, eine bekannte liberale Gegnerin des Faschismus, mit solchen Feuereifer dafür ein, Heideggers Ruf wiederherzustellen? Man kann nur Vermutungen anstellen. Vielleicht kam ein Element von Loyalität zu ihrem ehemaligen Lehrer zur Geltung, eine Loyalität, die durch Arendts Verfolgung durch die Nazis und ihre Jahre im Exil zwar strapaziert worden war, aber noch vorhanden war. (Arendt saß unter nationalsozialistischer Herrschaft zunächst eine Zeit lang im Gefängnis. Später, nach Kriegsausbruch, war sie im besetzten Frankreich gefangen, von wo aus ihr eine waghalsige Flucht gelang.) Die nachsichtigste Interpretation ihrer grotesken Verteidigung Heideggers ist, dass sie sich von einer Wahrheit, die sie nicht ertragen konnte, abwandte.

Als Farías Buch auf den Markt kam, hatte es eine elektrisierende Wirkung auf Heideggers Anhänger in Frankreich. Nach der Veröffentlichung seines Werkes Heidegger und der Nationalsozialismus im Oktober 1987 erschienen in den darauffolgenden neun Monaten nicht weniger als sechs Studien über Heidegger und seine Unterstützung für die Nazis. Dies war nicht überraschend. Schließlich war es Frankreich, wo Heideggers Einfluss in der Nachkriegszeit seine tiefsten Wurzel schlug. Heideggers Einfluss in Frankreich erstreckt sich vom Existentialismus Satres in der frühen Nachkriegszeit bis zu den jüngeren Wellen des Strukturalismus, Poststrukturalismus, und der Dekonstruktion in Verbindung mit Claude Lévi-Strauss, Michel Foucault und Jacques Derrida. Die Postmodernisten Jean-François Lyotard und Jean Baudrillard traten mit ihrer eigenen Interpretation der Beziehung Heideggers zum Nationalsozialismus hervor.

Man könnte zusammenfassend sagen, dass sich die Reaktionen auf Farías Buch in drei größere Kategorien einteilen lassen. Die erste ist die bedingungslose Verteidigung Heideggers durch seine orthodoxesten Gralshüter. Diese Gruppe wird durch François Fedier repräsentiert, der seit dem Tod seines Lehrers Beaufret der beständigste Verteidiger Heideggers in Frankreich gewesen ist. Fedier leugnet weiterhin, dass Heidegger jemals dem Nationalsozialismus nahe stand, und geht über die Rektoratszeit als jugendlichen Flirt ohne Auswirkung auf Heideggers Denken hinweg. Neben dem umfangreichen Material in Farías Buch und anderen nachfolgenden Veröffentlichungen genießt Fediers Antwort kaum Glaubwürdigkeit, außer bei den glühendsten Verfechtern des Heideggerkults.

Der zweite Typ von Antwort wird von Derrida und seinen Anhängern repräsentiert und erkennt im allgemeinen an, dass es insofern ein Problem mit Heideggers Philosophie gibt, als sie ihm in ihrer Konsequenz erlaubte, Nazi zu werden. Aber dann versucht Derrida, das Blatt gegen Farías zu wenden, indem er darauf besteht, dass der letzte Grund für Heideggers Zuwendung zum Nationalsozialismus die Tatsache war, dass sich Heidegger im Jahre 1933 noch nicht ausreichend von der prä-heideggerianischen Art des Denkens, insbesondere vom Rationalismus und Humanismus, emanzipiert hatte. Nach Derridas gequälter Logik wurde Heideggers Philosophie, nachdem er sich einmal von der "Metaphysik" befreit hatte infolge seiner "Kehre" nach 1935, zur besten Form des Antifaschismus.

Dieser perverse Standpunkt wurde passend zusammengefasst von einem Studenten Derridas, Lacoue-Labarthe, der sagte: "Nationalsozialismus ist ein Humanismus". Hiermit meinte er, dass die philosophischen Grundlagen, auf denen die aufklärerische Tradition des Humanismus aufbaute, in ihrer Konsequenz zur der Beherrschung der Menschheit im Dienste eines allumfassenden Universaltotalitarismus führten. Ein solches Denken ist zum Gemeingut bei Derrida, Lacoue-Labarthe und ihren Anhängern geworden. Die Vorstellung, dass der Nationalsozialismus nur ein anderer Ausdruck des aufklärerischen Universalismus ist, wurde in jüngster Zeit von den Amerikanern Alan Milchman und Alan Rosenberg vertreten. Sie schreiben: "Dieses Prinzip der hinreichenden Vernunft, die Grundlage des kalkulativen Denkens, kann in ihrer totalisierenden und imperialistischen Form als metaphysische Untermauerung, die den Holocaust möglich machte, betrachtet werden." [13]

Auf dieser Prämisse baut Lacoue-Labarthe eine raffinierte Verteidigung Heideggers auf. Anders als die orthodoxen Heideggerianer räumt er ein, dass Heideggers Gedanken mit seiner Unterstützung für den Nationalsozialismus übereinstimmten. Allerdings versucht Lacoue-Labarthe Heidegger zu retten indem er behauptet, dass der Heidegger nach 1935, der die Metaphysik und den Humanismus überwunden hatte, frei sei von jedem nationalsozialistischem Makel. Diese bizarre Argumentation wird dann zu ihrem logischen Ende geführt von anderen Dekonstruktionisten, die darauf bestehen, dass nicht nur der zweite Beginn Heideggers frei ist von faschistischen Zügen, sondern dass sein Werk es zum ersten Mal für uns möglich machen würde "den Holocaust zu denken". Damit der Leser nicht denkt, dies sei eine polemische Spitze, wollen wir den Worten von Milchman und Rosenberg lauschen:

"Während Facetten des Denkens Heideggers Einblick in die Erfahrung der Vernichtung gewähren können, es uns ermöglichen Auschwitz zu denken, kann der Holocaust uns auch helfen, die Undurchlässigkeit des späteren Denkens Heideggers zu durchdringen." [14]

Auf der anderen Seite wurden die Ankläger Heideggers in den Chroniken der Dekonstruktionisten als "Anhänger des Totalitarismus" tituliert. Einmal mehr wurde Heidegger, wie wir es schon bei Arendt gesehen haben, als Opfer von kleingeistigen und neidischen Feinden dargestellt. Vom anderen Ufer des Rheins griff der langjährige Ausleger von Heideggers Schriften Hans-Georg Gadamer in die französische Debatte ein. Mit einem merkwürdigen Echo auf Arendts Essay "Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt" kehrt Gadamer zurück zu dem Bild eines wohlmeinenden aber naiven Denkers, der sich von seinem Versuch, den Prinzen von Syrakus zu erziehen, zurückzog. [15]

Im Gegensatz zu dem philosophischen Obskurantismus, der von Derrida und Lacoue-Labarthe praktiziert wird, erhoben sich einige Stimmen in der französischen Diskussion, die das Problem, das Heideggers lebenslange Beziehung zum Faschismus darstellt, klar anerkannten. Am bekanntesten unter ihnen ist Pierre Bourdieu, der eine umfangreiche Studie über Heidegger verfasst hatte, lange bevor Farías Buch erschien. Dieses Buch wurde auf französisch in einer überarbeiteten Auflage neu veröffentlicht, nachdem die Kontroverse durch Farías Buch ausgelöst worden war.

Die politische Ontologie Martin Heideggers versucht, Heideggers Philosophie in den historischen Kontext zu stellen, aus dem Heidegger hervorkam. Gleichzeitig entgeht Bourdieu der Versuchung, Heideggers Gedanken einfach auf einen Reflex seiner historischen und gesellschaftlichen Position zu reduzieren. Bourdieu lässt sich auf eine Textanalyse von Heideggers Werk ein, um die immanente Beziehung zwischen Heideggers Philosophie und seinen politischen Ansichten nachzuweisen. Seine Textanalyse unterscheidet sich von dem Typus der "immanenten" Deutung von Textcharakteristika von Derrida und anderen Dekonstruktionisten, bei der die Texte künstlich getrennt werden von den Umständen, unter denen sie produziert wurden.

Die vielleicht merkwürdigste und vernichtendste Verteidigung Heideggers in jüngster Zeit kam nicht aus Frankreich, sondern aus Deutschland. Ernst Nolte, ein Historiker und langjähriger Freund der Familie Heidegger, veröffentlichte 1992 eine Biografie Martin Heideggers. Vor der Veröffentlichung dieses Buches war Nolte bereits berüchtigt als revisionistischer Historiker in Bezug auf den Holocaust und als Verteidiger des Nationalsozialismus. Man muss Nolte lassen, dass er wesentlich konsequenter und intellektuell aufrichtiger war als einige der französischen Verteidiger Heideggers.

Für Nolte stellt Heideggers Zuwendung zum Nationalsozialismus überhaupt kein Problem dar. Nolte besteht nicht nur auf der innigen Verbindung zwischen Heideggers Philosophie und seiner Unterstützung für den Nationalsozialismus, sondern er verteidigt auch den Nationalsozialismus als notwendige Reaktion auf die innere und äußere Bedrohung durch die russische Revolution. Für Nolte war der Nationalsozialismus eine notwendige Antwort auf den Bolschewismus und Heidegger reagierte durch seine Zuwendung zum Nationalsozialismus lediglich auf den Ruf der historischen Notwendigkeit. Nolte geht sogar soweit, den Holocaust als Verteidigungsmaßnahme zu rechtfertigen, die durch die Feindlichkeit des Weltjudentums gegenüber dem nationalsozialistischen Regime notwendig gemacht wurde. Noltes Verteidigung des Holocaust liegt in der folgenden rhetorischen Frage:

"Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine ‚asiatische‘ Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer ‚asiatischen‘ Tat betrachteten? War nicht der ‚Archipel GULag‘ ursprünglicher als Auschwitz?" [16]

Es gibt eine Symmetrie zwischen den frühen Apologeten Heideggers und Noltes Bemühungen. Während die ursprünglichen Verteidiger sich bemühten, Heideggers politische Verstrickung möglichst gering zu halten, und dann eine Trennlinie zwischen seiner politischen Einstellung und seiner Philosophie zogen, dreht Nolte die Argumentation um. In Noltes Sicht war Heidegger nicht nur von Beginn an ein politisch engagierter Denker, sondern er traf auch die richtige Wahl. Er schreibt: "Sofern er dem ‚großen Lösungsversuch‘ [dem Kommunismus] Widerstand leistete, war Heidegger - wie zahllose andere - im historischen Recht [...]. Dadurch, dass er sich für die ‚kleine Lösung‘ [den Nationalsozialismus] engagierte, wurde er vielleicht zum ‚Faschisten‘, aber er geriet deshalb keineswegs von vornherein ins historische Unrecht." [17]

An anderer Stelle kommt Nolte auf die Geschichte zurück, Heidegger sei ein weltfremder Denker gewesen, der für kurze Zeit in politische Angelegenheiten verwickelt war, die er nicht verstand. Dieses verbreitete Bild, eingeführt von Hannah Arendt, wird von Nolte auf den Kopf gedreht. Zweifellos will er hier einer Jüdin nicht das letzte Wort lassen. Er schreibt über Heideggers Unterstützung für Hitler: "Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass es sich dabei nicht um einen episodischen ‚Ausflug‘ aus dem Bezirk der Philosophie in die Region der Tagespolitik handelte, sondern dass diesem Engagement eine ‚philosophische‘ Hoffnung zugrunde lag [...]. Das Verhältnis zu Politik und Geschichte ist in Heideggers Leben und für Heideggers Denken mithin nicht bloß episodisch, sondern wesentlich." [18]

Mit anderen Worten: Heideggers Gedanken und seine Handlungen waren aus demselben Holz geschnitzt. Er war nicht einfach ein Nazi, sondern mit den Worten von Thomas Sheehan "ein normaler Nazi". [19]

Zuletzt sollte die jüngste Heidegger-Biografie, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, von Rüdiger Safranski erwähnt werden. Dieses Buch ist, anders als Noltes überschwengliche Unterstützung von Heideggers Nähe zum Nationalsozialismus, ein Rückzug zu einer orthodoxeren Verteidigung Heideggers. Wieder einmal präsentiert man uns eine schizophrene Unterscheidung zwischen dem Menschen Heidegger und dem Philosophen. Der Autor legt sorgfältig die bekannten Fakten über Heideggers Verbindung mit dem Nationalsozialismus vor. Es ist nicht länger haltbar, diese Tatsachen zu leugnen. Gleichzeitig trägt er Sorge für eine in großen Teilen positive Deutung von Heideggers Ideen.

Während er die Ausschweifung und logischen Turnübungen von Lacoue-Labarthe und anderen Dekonstruktionisten vermeidet, scheint Safranski unfähig zu sein, irgendein wesentliches Urteil über das Objekt seiner Forschungen zu fällen. Diese Unzulänglichkeit, ein geläufiges Markenzeichen modernen Biografien und der derzeitigen Geschichtsschreibung, wird in dem düsteren kulturellen Kontext heutzutage als Vorzug betrachtet. Die Schlagwörter hierzu lauten "unvoreingenommen" und "ausgewogen". Trotz der detaillierten Fakten ist wenig verstanden worden. Dieses Buch ist auf seine eigene Art ein Beitrag zur Verschleierung. Am Ende stellte sich Safranski auf die Seite derjenigen, die Heidegger dafür loben, dass er es für uns möglich machte "Auschwitz zu denken". Er schreibt:

"Wenn Heidegger die Zumutung zurückwies, sich als potentieller Komplize des Mordes zu verteidigen, dann bedeutete das nicht, dass er sich der Herausforderung verweigerte, ‚Auschwitz zu denken‘. Wenn Heidegger über die Perversion des neuzeitlichen Willens zur Macht spricht, dem die Natur und der Mensch zum bloßen Material seiner Machenschaften wird, ist Auschwitz ausdrücklich oder unausdrücklich immer mitgemeint. Für ihn - wie auch für Adorno - ist Auschwitz ein typisches Verbrechen der Moderne." [20]

Wir kommen nicht umhin, die Arroganz in Safranskis Nebeneinanderstellung von Heidegger und Adorno zu kommentieren. Adorno verachtete Heidegger und hatte nichts als Geringschätzung für Heideggers "Jargon der Eigentlichkeit" über, den er als eine Form der philosophischen Scharlatanerie ansah, die sich selbst als tiefgründige Einsicht ausgibt. Safranskis klägliches Buch stellt trotz seiner Auflistung der Fakten nur eine weitere Verteidigungsschrift für Heidegger Verstrickung in den Nationalsozialismus dar. Nichtsdestotrotz fielen die Besprechungen größtenteils positiv aus.

Ein typisches Beispiel hierfür ist Richard Rorty, der schrieb: "Heidegger war blind gegenüber der Qual seiner jüdischen Freunde und Kollegen, aber nach einem Jahr hektischer Propaganda und Organisierung bemerkte er, dass die höheren Nazis ihm keine große Aufmerksamkeit schenkten. Dies reichte, um ihm zu beweisen, dass er den Nationalsozialismus überschätzt hatte.

Also zog er sich in seine Berghütte zurück und, wie es Safranski so nett sagt, tauschte die Entschiedenheit gegen Unerschütterlichkeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg, erklärte er, einfallsreich wenn auch monomanisch, dass Amerikanisierung, moderne Technologie, die Trivialisierung des Lebens und die völlige Vergesslichkeit des Seins (vier Namen, so dachte er, für dasselbe Phänomen) nicht umkehrbar waren." [21]

Wieder einmal treffen wir auf die gewohnte Figur des wohlmeinenden aber geschlagenen Denkers, der sich in seine Berghütte zurückzog. Wenigstens bleibt uns diesmal eine weitere Rückkehr aus Syrakus erspart. Es sollte betont werden, dass es selbst in Safranskis Buch keine Grundlage zu dem Schluss gibt, dass sich Heidegger "nach einem Jahr hektischer Propaganda und Organisierung", seiner Zeit als Rektor in Freiburg, aus dem politischen Kampf zurückzog. Was Safranski sagt, ist, dass Heidegger in einer Periode von mehreren Jahren, nach seinem Rücktritt als Rektor bis 1945, schrittweise seine Verbindungen zum Nationalsozialismus lockerte, ohne damit völlig zu brechen.

Es hat sich herausgestellt, dass Heidegger auch außerhalb der Legion der französischen Dekonstruktionisten Verteidiger hat. Rorty repräsentiert eine Tendenz, die in den vergangenen Jahren unter den amerikanischen Pragmatikern entstanden ist; eine Tendenz, die den Pragmatismus mit Elementen der europäischen Philosophie zu verbinden versucht. In seiner Funktion als so etwas wie ein Sprecher des amerikanischen Pragmatismus hat Rorty vor allem versucht, die Anhänger Heideggers für diesen Zweck zu gewinnen. Im folgenden Teil der Artikelserie werden wir kurz die philosophische Grundlage für diese merkwürdige Verbindung von zwei augenscheinlich unvereinbaren Traditionen untersuchen. Doch selbst eine sehr flüchtige Untersuchung zeigt, dass Rorty, wenn er seinen Blick auf die Beziehung zwischen Heideggers Politik und seiner Philosophie richtet, uns nur eine weitere Version des inzwischen vertrauten Themas liefert, den unbeabsichtigt an die Nazis geratenden Heidegger.

In einem Essay, das 1989, also eine ganze Weile nach dem Erscheinen von Farías Buch, überarbeitet wurde, schrieb Rorty, dass "[...] Heidegger nur zufällig ein Nazi war". In einer Fußnote führt er diesen Gedanken weiter aus: "Sein [Heideggers] Denken war in der Tat im wesentlichen antidemokratisch. Aber viele Deutsche standen der Demokratie und der Moderne zweifelnd gegenüber und wurden keine Nazis. Heidegger wurde es, weil er sowohl ein skrupelloserer Opportunist als auch ein größerer politischer Ignorant war als die Mehrheit der deutschen Intellektuellen, die diese Zweifel hegten." [22]

Obwohl Rorty einige scharfe Worte in Heideggers Richtung schleudert, nämlich seine Charakterisierung Heideggers als "Ignorant" und "Opportunist", ist der Kern seiner Schilderung eine weitere Karikatur des naiven Philosophen, dem die Dinge über den Kopf wachsen. Zu diesem Zeitpunkt sind wir mit dieser Argumentation bereits ziemlich vertraut. Wir haben Variationen davon kennengelernt: Heideggers eigene Verteidigungsschrift für seine Zeit als Rektor, die orthodoxen Verteidiger Heideggers in Frankreich, die Betrachtungen von persönlichen Freunden wie Hannah Arendt und die umgekehrte profaschistische Form in Noltes Biografie. Dass dieses Argument auch angesichts der wachsenden Menge an Belegen dafür, dass Heideggers Beziehung zum Nationalsozialismus mehr als zufällig war, bis zum Erbrechen wiederholt wird, zeigt, dass wir es hier nicht mit einer objektiven, wissenschaftlichen Einschätzung zu tun haben, sondern mit böser Absicht und Apologetik.

Die Debatte in Frankreich hielt nach der Veröffentlichung von Farías Buch 1987 etwa zwei Jahre lang an. Heutzutage hört man sehr wenig in Frankreich über Heideggers politische Einstellung. Im Gegensatz dazu wurde die Diskussion seit Beginn der 90-er Jahre unvermindert in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und den englischsprachigen Ländern fortgesetzt. Tatsächlich sind seit 1997 drei verschiedene Bücher zu dem Thema erschienen. Unter diesen steht Julian Youngs Buch Heidegger, Philosophy, Nazism unerschütterlich in der Tradition der Ehrenrettung Heideggers. Tatsächlich kündigt der Autor sein Anliegen gleich zu Beginn an, er sagt im Vorwort: "Dieses Werk setzt sich zum Ziel, was man als ‚Entnazifizierung‘ Heideggers beschreiben könnte." [23]

Tom Rockmore fasste die Essenz von Youngs Buch kürzlich in einer Rezension zusammen. Rockmore schreibt: "Zusammengefasst stellt sich nach Young, trotz der vielen Texte, die das Gegenteil belegen (zum Beispiel das Spiegel-Gespräch, in dem Heidegger das demokratische Ideal in Frage stellt), der Philosoph als mehr oder weniger einer wie du und ich heraus: nämlich als ein Vertreter der liberalen Demokratie. Dies ist allerdings kein glaubwürdiges, sondern ein unglaubliches Bild von Heidegger." [24]

Es ist offensichtlich, dass ein Vierteljahrhundert nach Heideggers Tod die Verschleierung weiter anhält. Gleichzeitig soll damit nicht suggeriert werden, dass es keine gegenläufigen Tendenzen gegeben habe, die sich der Aufdeckung von Heideggers politischer Überzeugungen widmeten. Tatsächlich wurde erst im vergangenen Jahr die vielleicht wichtigste Untersuchung von Heideggers Philosophie im Kontext seiner politischen Überzeugung veröffentlicht, nämlich Johannes Fritsches Werk Historical Destiny and National Socialism in Heideggers Being and Time. Im folgenden Teil der Artikelserie werden wir auf dieses Buch eingehen.

Teil 3: Geschichte, Philosophie und Mythologie

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1 Martin Heidegger, Brief an den Rektor der Universität Freiburg vom 4. November 1945, In: Richard Wolin, The Heidegger Controversy - A Critical Reader, Cambridge 1998, S. 61 (zurückübersetzt aus dem Englischen, da der Brief im deutschen Original nie veröffentlicht wurde. Wolin zitiert ihn nach einer unveröffentlichten Dissertation: August Moehling, Martin Heidegger an the Nazi Party - An Examination, Northern Illinois University 1972.)

2 Martin Heidegger, Brief an den Rektor der Universität Freiburg vom 4. November 1945, a.a.O., S.64

3 Martin Heidegger, Brief an den Rektor der Universität Freiburg vom 4. November 1945, a.a.O., S. 64ff.

4 Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung von 1935, zit. nach: Victor Farías, Heidegger und der Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1989, S. 303

5 Vgl. Thomas Sheehan, Heidegger and the Nazis, in: New York Review of Books vom 16. Juni 1988

6 Vgl. Thomas Sheehan, Heidegger an the Nazis, a.a.O.

7 Vgl. Denis Donoghue, The Strange Case of Paul De Man, in: New York Review of Books vom 29. Juni 1989

8 Zit nach: Richard Wolin, French Heidegger Wars, in: Richard Wolin, The Heidegger Controversy - A Critical Reader, 1998, S. 282 (aus dem Englischen übertragen)

9 Hannah Arendt, Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt, in: Günther Neske und Emil Kettering (Hg.), Antwort - Martin Heidegger im Gespräch, Tübingen 1988, S. 243f.

10 Vgl. Hannah Arendt, Martin Heidegger at Eighty, in: New York Review of Books vom 21. Oktober 1971. Obwohl der Wortlaut der Würdigung identisch ist mit dem auf deutsch veröffentlichten, hat Arendt beim Erscheinen des Essays in den USA im Jahre 1971 die kommentierende Fußnote geändert. In der englischen Fassung heißt es: "[...] the point of matter is that Heidegger, like so many other German intellectuals, Nazis and anti-Nazis, of his generation never read Mein Kampf." In der 1969 in Deutschland veröffentlichten Fußnote heißt es: "Wer außer Heidegger ist schon auf die Idee gekommen, in dem Nationalsozialismus ‘die Begegnung der planetarisch bestimmten Technik und des neuzeitlichen Menschen' zu sehen - es sei denn, er hätte statt Hitlers Mein Kampf einige Schriften der italienischen Futuristen gelesen, auf die sich der Faschismus im Unterschied zum Nationalsozialismus hie und da berufen hat." (Hannah Arendt, Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt, a.a.O., S. 245. Vgl. auch: Bernd Martin (Hg.), Martin Heidegger und das ‘Dritte Reich', Darmstadt 1989, S. 142f.)

11 Tom Rockmore, On Heidegger's Nazism and Philosphy, Berkley 1992, S. 6 (Aus dem Englischen übertragen)

12 Hannah Arendt, Martin Heidegger at Eighty, a.a.O. (aus dem Englischen übertragen) In der deutschen Fassung heißt es: "Diesen ‚Irrtum' hat Heidegger zwar nach kurzer Zeit eingesehen und dann erheblich mehr riskiert, als damals an den deutschen Universitäten üblich war. Aber das Gleiche kann man nicht von den zahllosen Intellektuellen und sogenannten Wissenschaftlern behaupten, die nicht nur in Deutschland es immer noch vorziehen, statt von Hitler, Auschwitz, Völkermord und dem ‘Ausmerzen' als permanenter Entvölkerungspolitik, sich je nach Einfall und Geschmack an Plato, Luther, Hegel, Nietzsche oder auch an Heidegger, Jünger oder Stefan George zu halten, um das furchtbare Phänomen aus der Gosse geisteswissenschaftlich uns ideengeschichtlich aufzufrisieren." (Hannah Arendt, Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt, a.a.O., S. 245)

13 Alan Milchman und Alan Rosenberg, Heidegger, Planetary Technics and the Holocaust, 1996, S. 222 (Aus dem Englischen übertragen)

14 Alan Milchman und Alan Rosenberg, a.a.O., S. 224

15 Hans-Georg Gadamer, Zurück von Syrakus?, in: Jürg Altwegg (Hg.), Die Heidegger Kontroverse, Frankfurt am Main 1988, S. 176-179

16 Ernst Nolte, Vergangenheit, die nicht vergehen will, in: FAZ vom 6. Juni 1986, zit. nach: Ernst Nolte, Das Vergehen in der Vergangenheit - Antwort an meine Kritiker im Historikerstreit, Frankfurt am Main 1987, S. 177

17 Ernst Nolte, Martin Heidegger - Politik und Geschichte im Leben und Denken, Berlin 1992, S. 296

18 Ernst Nolte, Martin Heidegger - Politik und Geschichte im Leben und Denken, a.a.O., S. 277

19 Vgl. Thomas Sheehan, A Normal Nazi, New York Review of Books vom 14. Januar 1993

20 Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Martin Heidegger und seine Zeit, München 1994, S. 484

21 Richard Rorty, Besprechung von Rüdiger Safranskis Ein Meister aus Deutschland - Martin Heidegger und seine Zeit, in: New York Review of Books vom 3. Mai 1998 (aus dem Englischen übertragen)

22 Richard Rorty, Philosophy as Science, Metaphor, Politics, in: ders, Essays on Heidegger an Others, Philosophical Papers, Bd. 2, Cambridge 1991, S. 19 (aus dem Englischen übertragen)

23 Julian Young, Heidegger, Philosophy, Nazism, Cambridge 1997, S.1 (aus dem Englischen übertragen)

24 Tom Rockmore, Recent Discussion of Heidegger and Politics: Young, Beistegui, Fritsche, in: Graduate Faculty Philosophy Journal, Bd. 21,2, 1999, S. 53 (aus dem Englischen übertragen)