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Die Wall Street und die kommerzielle Ausbeutung des menschlichen Erbguts

Von Frank Gaglioti
19. April 2000
aus dem Englischen (10. April 2000)

Nach einem steilen Anstieg von 81 Prozent in den vorangegangenen zwei Monaten ähnelte die Kursentwicklung des NASDAQ-Indexes für Biotechnologie-Werte im März einer Achterbahn. Der Niedergang begann am 6. März, aber am 14. März, nach einer breit publizierten gemeinsamen Erklärung des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton und des britischen Premierministers Tony Blair, gingen die Biotechnologiewerte in den freien Fall über und stürzten an einem Tag um 12,5 Prozent ab. Der NASDAQ insgesamt, in den vorwiegend Technologiewerte einfließen, fiel um vier Prozent, der zweitgrößte Rückgang überhaupt.

Die Reaktion der Börse auf die Clinton/Blair-Erklärung, in der die Veröffentlichung wissenschaftlicher Erkenntnisse über das menschliche Erbgut verlangt wurde, ist sehr bezeichnend. Erstens lässt sie erkennen, wie anfällig der Wert von Technologieaktien, der von völlig überzogenen Erwartungen bestimmt ist, für jegliche auch nur vermutete Bedrohung zukünftiger Profite ist. Angesichts der zentralen Rolle, die der steigende NASDAQ für die Wall Street und die amerikanische Wirtschaft insgesamt spielt, unterstreicht sie zweitens den enormen Druck, die erstaunlichen Fortschritte der Genetik der kommerziellen Ausbeutung zu unterwerfen, auch wenn dies wissenschaftlichen und medizinischen Geboten ebenso wie ihrer möglichen Anwendung im Kampf gegen Krankheiten widerspricht.

Über ein Jahrzehnt haben Wissenschaftler mit immer höher entwickelten Methoden an der Entschlüsselung des umfangreichen und komplexen Codes des menschlichen Genoms gearbeitet - der Gesamtzahl aller Gene, die auf den Chromosomen der DNA im Zellkern eines Individuums zu finden sind. An der Entschlüsselung der einzelnen Chromosomenabschnitte arbeiten das mit öffentlichen Mitteln finanzierte Human Genom Project (HGP) sowie verschiedene private Wettbewerber. Das HGP, gegründet 1989, ist die älteste auf dem Gebiet der menschlichen Genomforschung arbeitende Organisation. Es wird vor allem von den USA und Großbritannien finanziert. Das HGP veröffentlicht seine Ergebnisse der DNA-Forschung innerhalb von 24 Stunden im Internet, so dass die Informationen für andere Forscher frei zugänglich sind.

Die meisten privaten Biotechnologiefirmen sind in den letzten Jahren in der Erwartung gegründet worden, aus der Produktion einer neuen Generation von Arzneimitteln und der Entdeckung neuer medizinischer Behandlungsmethoden enorme Gewinne zu ziehen. Sie haben versucht, ihre Informationen geheim zu halten oder sich durch ein Patent die Exklusivrechte darauf zu sichern. Die größten Verlierer an der Börse waren die am stärksten auf die genetische Forschung spezialisierten Firmen. Die Aktien der Celera Genomics Corporation, eine der führenden Biotechnologiefirmen und direkter Konkurrent des HGP, fielen um 22 Prozent. Incyte Pharmaceuticals verloren 28 Prozent.

Der ursprüngliche Einbruch der Aktienkurse am 6. März wurde durch den plötzlichen Abbruch der Gespräche zwischen HGP und Celera über die Zusammenarbeit bei der Genom-Aufschlüsselung ausgelöst. Celera bestand auf einer exklusiven Nutzung der Forschungsergebnisse bis 2005, wodurch es in der Lage gewesen wäre, die Konkurrenz wirksam zu blockieren. Celera konnte sich gegenüber HGP einen beträchtlichen Vorsprung sichern, weil es seine Erkenntnisse mit den von HGP veröffentlichten Daten abgleichen konnte.

Die Erklärung Clintons und Blairs vom 14. März wurde so interpretiert, dass private Firmen daran gehindert werden sollten, ihre grundlegenden Forschungsergebnisse zu patentieren. Es hieß dort: "Um alle Möglichkeiten dieser Forschung ausschöpfen zu können, müssen die grundlegenden Daten über das menschliche Genom, die menschliche DNA-Folge und deren Variationen allen Wissenschaftlern frei zugänglich sein... Geistige Eigentumsrechte an mit Genen in Zusammenhang stehenden Erfindungen werden auch bei der Anregung wichtiger neuer Gesundheitsprojekte eine bedeutende Rolle spielen."

Aber dies war wenig mehr als bedrucktes Papier, das die Regierungen zu nichts verpflichtete und keinerlei Änderungen an den bestehenden Patentgesetzen nach sich zog. Der Sprecher des Weißen Hauses, Jake Siewert, beeilte sich zu versichern, dass die Erklärung von Clinton und Blair die Tätigkeit der Biotechnologiefirmen nicht behindern werde. "Es geht einfach darum, die reinen Forschungsergebnisse zugänglich zu machen, damit private Firmen Innovationen einführen, neue Medikamente und Behandlungsmethoden entwickeln und Profit machen können. Man möchte den Wettbewerb fördern", sagte er. Seine Bemerkungen wurden vom Sprecher der führenden Biotechnologiefirmen bekräftigt, der bestätigte, dass ihre Patente nicht betroffen seien.

Die Clinton/Blair Erklärung war das Ergebnis hochrangiger Gespräche zwischen den USA und Großbritannien über Genpatente; in diesen beiden Ländern ist der größte Teil der Biotechnologieindustrie tätig. Am 20. September letzten Jahres veröffentlichte der Guardian Einzelheiten der Diskussionen, die Lord Sainsbury, Blairs Wissenschaftsberater, mit Neal Lane, Clintons Wissenschafts- und Technologieberater, in Kyoto in Japan und in Williamsburg in den USA während der Gipfeltreffen der Carnegie Gruppe der G8-Wissenschaftsminister geführt hatten. Die beiden Berater setzten sich eine gemeinsame Regierungsvereinbarung zum Ziel, nach der alle genetischen Informationen veröffentlicht und keine Patente vergeben werden sollten. Die Clinton/Blair Erklärung bleibt weit dahinter zurück.

Um das ganz klar zu stellen, gab das amerikanische Patentamt, das Patent and Trademark Office (PTO), am 16. März eine Erklärung ab, die bekräftigte, dass seine Patentpolitik unverändert sei. Der Chef des Patentamts, Q. Todd Dickinson, erklärte, dass "Gene und genomische Erfindungen nach wie vor patentierbar sind, solange sie die statuarischen Erfordernisse der Nutzbarkeit, Neuheit und nicht-Offensichtlichkeit erfüllten. Gene und genomische Erfindungen, die vergangene Woche patentierbar waren, sind auch diese Woche nach den gleichen Bestimmungen patentierbar."

Besonders Celera hat sozusagen vorbeugend eine große Anzahl menschlicher Gensequenzen, insgesamt fast 6.500 DNA-Sequenzen, vorläufig zur Patentierung angemeldet. Das sind provisorische Anmeldungen, die das Datum der Entdeckung angeben und der Firma ein Jahr Zeit verschaffen, einen vollgültigen Patentantrag einzureichen. Celera kann dann weiter erforschen, ob die Entdeckung profitabel angewendet werden kann. Wenn aber das HGP eine Sequenz im Internet veröffentlicht hat, bevor ein Patentantrag gestellt wurde, dann kann darauf kein Patent mehr angemeldet werden. Celera und andere Biotechfirmen befinden sich also in einem Kampf, ihre Claims auf Teile des menschlichen Genoms abzustecken, der vergleichbar ist mit dem von Bergwerksgesellschaften, die sich Teile unerforschter Territorien zu sichern versuchen.

Die Konkurrenzfirma Human Genome Sciences (HGS) hat vorläufige Ansprüche auf 7.500 Abschnitte des Genoms angemeldet. Ein Artikel in der Washington Post vom Oktober letzten Jahres behauptet, dass Celera anstrebt, vorläufige Patente auf 20.000 bis 30.000 DNA-Sequenzen zu erhalten. Der Wellcome Trust, ein wichtiger Finanzier des HGP, droht die Rechtmäßigkeit von Celera-Genompatenten vor US-Gerichten anzufechten. Der Wellcome Trust wird weitgehend von führenden Pharmaherstellern wie Wellcome Foundation Limited oder Glaxo unterstützt, die diese Informationen auch nutzen könnten und nicht dafür bezahlen wollen.

Hunderte menschlicher Gene sind jedoch bereits patentiert worden. Celera verfolgt das erklärte Ziel, bis zu 300 menschliche Gene patentieren zu lassen. HGS hat schon 117 Patente auf spezifische Anwendungen von Genen eingetragen bekommen. Incyte Pharmaceuticals besitzt 353 Patente; Smithcline Beecham 60; die US-Regierung 49; die University of California 46; und das Massachusetts Hospital in Boston 45. Diese Gene stellen nur einen winzigen Teil des gesamten menschlichen Genoms da, das aus schätzungsweise bis zu 100.000 einzelnen Genen besteht, die größtenteils noch identifiziert werden müssen.

Die bisher vergebenen Patente behindern bereits die weitere Forschung und medizinische Entdeckungen. HGS zum Beispiel hat ein Gen angemeldet, das mit einem unter dem Namen CCR5 bekannten Rezeptor verbunden ist. Seit das Patent angemeldet wurde, haben Wissenschaftler am Aaron Diamond Research Center in New York entdeckt, dass der gleiche Rezeptor vom AIDS-Virus benutzt wird, um in eine Zelle einzudringen. Möglicherweise kann ein Medikament entwickelt werden, das dem Virus den Zugang zur Zelle verwehrt. Die Forscher isolierten den betreffenden Rezeptor und das Gen, ohne zu wissen, dass HGS darauf schon ein Patent angemeldet hatte und damit in der Lage war, weitere Forschungen zu blockieren.

HGS hielt auch sein Wissen über das sequentierte Chromosom des Bakteriums Staphylococcus Aureus geheim. Dieses Bakterium, das allgemein als das Goldene Staph bekannt ist, ist für das toxische Schocksyndrom und den Tod vieler älterer Menschen und Kleinkinder verantwortlich, die mit Antibiotika-resistenten Stämmen infiziert sind. Der Medizinprofessor Gerald Pier von der Harvard Universität arbeitete an einem Impfstoff gegen das Bakterium, hatte aber keinen Zugang zu den Sequentierungsdaten, was seine Forschung regelrecht blockierte. Pier brachte an die Öffentlichkeit, dass vier verschiedene Firmen den Goldenen Staph schon sequentiert hatten, ohne ihre Daten zugänglich zu machen. Inzwischen hat Pier eine Sequenz von den amerikanischen National Institutes of Health erhalten und einen Impfstoff entwickelt, jedoch mit einer Verzögerung von zwei bis drei Jahren.

Am 24. März gab Celera zusammen mit dem öffentlich finanzierten Institute of Genomic Research das Mapping des gesamten Genoms der Drosophila Melanagaster oder der gemeinen Fruchtfliege bekannt. Aber solche Kooperationen erstrecken sich nicht auf die Humangenomik. Darüber hinaus werden die Daten der Fruchtfliege benutzt, um Anwendungen für die Identifikation von Genen in einer DNA-Sequenz zu entwickeln, die dann auch auf das menschliche Genom angewendet werden können.

Celera, ein Tochterunternehmen der Perkin Elmer Corporation, die analytische Instrumente herstellt, gab am 10. Januar bekannt, die Sequentierung des größten Teils des menschlichen Genoms vollendet zu haben und 97 Prozent der menschlichen Chromosomen in seinen Datenbanken erfasst zu haben. Die Firma behauptet, sie werde die Sequentierung bis 2001 vollendet haben. Obwohl Celera erst 1998 gegründet wurde, hat es enorme Summen in dieses Projekt investiert. Es besitzt 300 Sequentierungsmaschinen, von denen jede 300.000 Dollar kostet, und außerdem den stärksten bekannten zivilen Computer. Der Zugang zu Celeras Daten ist nur mit einem kostenpflichtigen Abonnement möglich. Der Tarif beläuft sich für Pharmakonzerne auf 50 Millionen US-Dollar pro Jahr.

Firmen wie HGS, Millenium Pharmaceuticals und Incyte Pharmaceuticals verkaufen genetische Informationen an Arzneimittelkonzerne. HGS hat mit dem britischen Pharmariesen SmithKline Beecham einen Handel geschlossen, mithilfe der Genentdeckungen kleinmolekulare Medikamente herzustellen. Millenium Pharmaceuticals hat eine Vereinbarung im Wert von einer Milliarde US-Dollar mit den Pharmagiganten Roche Holding AG, Eli Lilly & Co und der Bayer AG über die Entwicklung kleinmolekularer und biotechnologischer Medikamente für die vorbeugende Medizin getroffen. Dr. Eric Lander, der Gründer von Millenium Pharmaceuticals erklärte: "Das Spiel hat einen Schritt nach vorn gemacht. Jetzt geht es darum: wie erhöht man den Wert des Genoms?"

Der Vorsitzende der Geschäftleitung von HGS, Dr. William A. Haseltine, machte keinen Hehl aus der kommerziellen Ausbeutung des menschlichen Genoms und den Beschränkungen, die Patente der wissenschaftlichen und medizinischen Forschung auferlegen. "Jede Firma, die Gene, Proteine oder Antikörper als Medikamente nutzen will, wird sehr wahrscheinlich mit unseren Patenten in Konflikt geraten", sagte er. "Vom kommerziellen Standpunkt aus sind ihnen sehr enge Grenzen gesetzt - viel stärker, als sie es bisher bemerkt haben."