WSWS : WSWS/DE : Geschichte

Neu im Arbeiterpresse Verlag

Trotzkis Schriften zum Nationalsozialismus

Von Wolfgang Weber
29. September 1999

Der Arbeiterpresse Verlag hat in diesen Tagen eine Auswahl der Schriften Leo Trotzkis zu Deutschland neu herausgebracht, die seit längerem vergriffen waren. Der Sammelband mit dem Titel "Porträt des Nationalsozialismus" enthält zehn Artikel und Briefe, die Trotzki zwischen 1930 und 1934 verfasste. Wir dokumentieren im folgenden das Vorwort der neuen Ausgabe.

Nicht wenige Bücher findet man heute auf dem Markt, die versuchen, über das vergangene Jahrhundert Bilanz zu ziehen, es zu deuten, seine offenen Fragen aufzuzeigen: Ein Jahrhundert des beispiellosen wissenschaftlichen und technischen Fortschritts, ein Jahrhundert, das an seinem Ende die rasante Entwicklung weltumspannender Kommunikationstechnologien, den Einsatz von Computern in allen Bereichen der Produktion und Forschung erlebt hat. Auf der anderen Seite aber ein Jahrhundert, das den faschistischen Terror der Naziherrschaft, den Holocaust und zwei Weltkriege hervorgebracht hat. An seinem Ende sind die Schatten dieser gesellschaftlichen Katastrophen nicht verschwunden; ungelöst steht dieselbe brennende Frage, welche die Menschheit seitdem bewegt hat, auch an der Schwelle des neuen Jahrhunderts: Wie konnte es zu dieser Barbarei kommen? Weshalb konnte sie nicht verhindert werden? War der Aufstieg Hitlers unvermeidlich?

Die vorliegende Auswahl von Schriften Leo Trotzkis über Deutschland gibt eine Antwort auf diese Fragen. Trotzkis Untersuchungen zur Geschichte und aktuellen damaligen Lage in Deutschland, zum Wirtschaftsprogramm des Nationalsozialismus, zu seinen sozialen Wurzeln, psychologischen und politischen Mechanismen legen eine analytische Schärfe und politische Weitsicht an den Tag, die den Leser auch heute noch mit Bewunderung und Betroffenheit erfüllen. Sie sind Meisterwerke des Marxismus, ganz in der Tradition der klassischen Analysen aus der Feder eines Karl Marx oder Friedrich Engels.

Trotzki schrieb die hier dokumentierten Briefe und Artikel nicht einfach, um Vergangenes, Unabänderliches zu erklären, sondern um in die aktuelle politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung in Deutschland einzugreifen, um die voraussehbare und von ihm vorausgesehene Katastrophe zu verhindern. Er tat dies mit der gewaltigen Erfahrung und Autorität, über die er als Wegbereiter und Führer der Oktoberrevolution von 1917 und als Haupt der internationalen marxistischen Opposition gegen Stalin verfügte.

Alles hing davon ab, die größte und stärkste soziale Kraft, die organisierte Arbeiterschaft, gegen die faschistische Gefahr zu vereinen.

Die Gewerkschaften waren damals Massenorganisationen, SPD und KPD Arbeiterparteien mit Millionen von Mitgliedern. Daran muss heute erinnert werden angesichts der Verwandlung, welche diese Organisationen und Parteien seit jener Zeit bis zu ihrer Unkenntlichkeit durchlaufen haben. Freilich hatte sich die SPD schon 1914, als sie den Kriegskrediten zustimmte, und 1918/19, als sie gemeinsam mit der Reichswehr und faschistischen Freikorps die Revolution niederschlug, in den Augen fortschrittlicher Arbeiter und Intellektueller diskreditiert. Aber die Mehrzahl ihrer Mitglieder waren damals immer noch Arbeiter, die sozialistischen Zielen anhingen. Sie zu gewinnen, war die Verantwortung der KPD, die 1919 mit dem Programm des internationalen Sozialismus als revolutionäre Alternative zur SPD gegründet worden war. Würde sich die KPD dieser Aufgabe gewachsen zeigen, obwohl sie nach der Ermordung von Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Leo Jogiches ihrer erfahrensten politischen Führer beraubt war? Welches Programm und welche Taktik sollte sie dazu verfolgen?

Trotzki trat dafür ein, dass die KPD die Initiative ergreife und den SPD-Führern und Gewerkschaften ein gemeinsames Handeln zur Verteidigung aller Organisationen, Parteien und Rechte der Arbeiterbewegung gegen den Nazi-Terror vorschlage. Das ungeheuer rasche Anwachsen der Nazipartei war kein unaufhaltsamer, schicksalshafter Prozess. Als marxistischer Dialektiker und Führer der Revolutionen von 1905 und 1917 in Russland wusste Trotzki genau, wie rasch in einer umfassenden gesellschaftlichen Krise die politische Stimmung der Massen umschwingen kann. Vor allem war er sich darüber im klaren, wie entscheidend es unter solchen Bedingungen für eine revolutionäre Partei ist, dass sie eine korrekte, an den objektiven Bedürfnissen der Arbeitermassen orientierte politische Linie und Taktik verfolgt. Nur so kann sie die Mehrheit der Arbeiter hinter sich sammeln. Dies aber ist die Voraussetzung dafür, dass sie auch beträchtliche Teile der kleinbürgerlichen Schichten, die sich sonst der Reaktion bzw. Hitler zuwenden würden, auf die Seite der Arbeiter ziehen kann.

Aber in der Kommunistischen Internationale gaben zu dieser Zeit nicht mehr Marxisten den Ton an, nicht mehr politische und theoretische Führer der Oktoberrevolution wie Leo Trotzki, sondern Stalin und die konservative Schicht von Bürokraten. Moskau verordnete der KPD, nicht eine Einheitsfront anzustreben, sondern SPD und Gewerkschaften als "sozialfaschistisch" zu "brandmarken". Ungeachtet aller ultralinken Phrasen machte die KPD auf diese Weise mit den rechten sozialdemokratischen Führern gemeinsame Sache. Diese lehnten nämlich ihrerseits ebenfalls jede Zusammenarbeit mit der KPD gegen die Braunhemden ab und unterstützten die bürgerliche Republik auch dann noch, als sie sich längst als Steigbügel für den Faschismus erwiesen hatte.

Je länger sich die Arbeiterparteien unfähig zeigten, vereint dem faschistischen Terror entgegenzutreten, desto leichter konnten Hitler und seine Banden eine wachsende Schar von verzweifelten und deklassierten Elementen aus dem Kleinbürgertum und dem Lumpenproletariat sammeln und in Stoßtruppen für die Errichtung ihrer Diktatur und die Zerschlagung der Arbeiterbewegung verwandeln.

Leo Trotzki analysiert in seinen Schriften die verhängnisvolle Linie und Taktik der KPD, alle ihre Drehungen und Windungen, warnt vor ihren Folgen. Er weist nach, dass diese Politik - eine Mischung aus bombastischen, ultraradikalen Phrasen, Blindheit und Feigheit - den sozialen Instinkten und politischen Anschauungen der herrschenden Kreise in der Sowjetunion entsprang und den Interessen der internationalen Arbeiterklasse direkt zuwiderlief. Der Preis dafür in Deutschland war hoch: Hitler kam ohne einen Schuss an die Regierung und konnte unangefochten seine Macht festigen und für den Krieg rüsten.

Die Analysen Trotzkis, seine Warnungen und Vorschläge für eine programmatische Alternative zum Kurs der Komintern und KPD unterstreichen die Haltlosigkeit und Hohlheit der Thesen von Daniel Goldhagen. Hitler kam nicht an die Macht, weil das deutsche Volk in seiner Mehrheit von einem unbändigen Drang beseelt war, Juden zu töten. Er verdankte seinen Aufstieg der vernagelten und verräterischen Politik von SPD und KPD, welche die Arbeiterbewegung politisch lähmte und zunehmend auch ihre ideologischen Widerstandskräfte gegen das Gift des Rassismus und Antisemitismus unterhöhlte.

Goldhagen steht freilich mit seinen Ansichten nicht allein. Er trieb nur die Anschauungen, die in Schulbüchern und bei den meisten Historikern weit verbreitet sind, bis zur Absurdität: Wenn das Phänomen Hitler überhaupt erklärt werden könne, dann nur durch die Kurzsichtigkeit des Menschen im Allgemeinen oder durch die böse Natur - und daher kollektive Schuld - der Deutschen im Besonderen. Weit verbreitet ist die Vorstellung, dass die wachsende Arbeitslosigkeit und Verelendung im Gefolge der Weltwirtschaftskrise zwangsläufig die Masse der Deutschen in die Arme Hitlers getrieben hätten, der Brot und Arbeit versprach. "Nach drei Jahren Depression" sei "die deutsche Gesellschaft intolerant geworden", schreibt der britische Historiker Ian Kershaw in seiner jüngst erschienenen Hitler-Biographie. Die Hitler-Diktatur sei somit "Deutschland nicht aufgezwungen worden", sondern "aus den Erwartungen und Motivationen der deutschen Gesellschaft" erwachsen. Gleichzeitig werden in dem 900 Seiten starken Band SPD und KPD kaum erwähnt, ihre politische Evolution nicht im Geringsten einer Untersuchung wert gehalten.

Solche Erklärungsmuster ignorieren die sozialen Gegensätze und Kämpfe, welche die Gesellschaft in verschiedene Klassen von Deutschen zerrissen hat. Hinter Hitler standen nicht die Millionen, sondern die Millionäre, wie John Heartfield schon damals in einer berühmten Fotocollage festgehalten hatte. Hitler war auch nicht durch einen Sieg bei Parlamentswahlen, sondern durch Manöver und Intrigen innerhalb der herrschenden Cliquen von Industriellen, Bankiers, Großgrundbesitzern und Militärs an die Macht gekommen. Angefangen von seiner 1924 verfassten Propagandaschrift "Mein Kampf" bis hin zu seiner berüchtigten Rede im Düsseldorfer Industrieclub Anfang 1932 hatte er diesen Kreisen immer wieder eines versprochen: die Diktatur nach innen und den Krieg nach außen. Die Zerschlagung der Arbeiterbewegung sollte den Weg frei machen für die Eroberung der Sowjetunion im Osten und für die Revanche gegen die Sieger des vorangegangenen Weltkriegs im Westen.

Die Nazis waren mit diesem Programm auf den erbitterten Widerstand von Seiten der Arbeiterbewegung gestoßen, so dass sie gezwungen waren, ihre Herrschaft auf die hemmungslose Gewalt der SA-Banden und, nach der Machteroberung, auf die Gestapo, auf die Mordjustiz der deutschen Richter und auf Konzentrationslager für politische Gegner zu stützen. Bei den Parlamentswahlen im November 1932, den letzten vor Hitlers Machtübernahme, erhielten SPD und KPD zusammen über eine halbe Million mehr Stimmen als die Nazis, die ihrerseits gegenüber den vorangegangenen Wahlen zwei Millionen Anhänger verloren hatten. Erneut hatte sich die Arbeiterbewegung mit ihren Parteien als überaus gewaltiger, ja entscheidender politischer Faktor erwiesen. Die von Leo Trotzki verfassten historischen und politischen Analysen, seine Vorschläge für eine Politik gemeinsamer praktischer Kampfbündnisse zwischen SPD und KPD gegen die Nazis waren nicht nur absolut richtig, sondern auch völlig realistisch.

Die Nazis hätten so gestoppt, Holocaust und Weltkrieg verhindert werden können! Eine Einheitsfront wäre, wie Leo Trotzki schrieb, der Todesstoß für den Faschismus gewesen, hätte das politische Regime der Bourgeoisie, Junker und Generäle erheblich geschwächt, die organisierte Arbeiterschaft hingegen und den Einfluss der KPD gestärkt. Sie hätte eine Periode revolutionärer Klassenkämpfe eröffnet, in deren Verlauf die Arbeiterbewegung mit einer marxistischen Führung in der Lage gewesen wäre, sich einen sozialistischen Ausweg aus der Krise der Gesellschaft zu schaffen.

Dies lässt die Bedeutung ermessen, welche der Sieg Stalins über Trotzki und die internationale Linke Opposition für die gesamte Weltgeschichte hatte. Zehn Wochen nach ihrer Wahlniederlage vom November 1932 waren die Nazis an der Macht, und die Katastrophe nahm ihren Lauf. Die politische Spaltung und Desorientierung, die von der Politik der KPD und SPD seit Jahren ausgegangen war, hatte den Widerstand der Arbeiter wirkungslos verpuffen lassen. Den bewusstesten Vertretern der Bourgeoisie war dies nicht verborgen geblieben. Sie waren zu der Auffassung gekommen, sie könnten jetzt auf die Karte Hitler setzen, ohne den Ausbruch großer Kämpfe zu riskieren, die den Gang der Geschäfte stören und in ihrem Ausgang nicht kalkulierbar sein würden.

Auch nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler sahen sich die Führer der Komintern und der KPD nicht veranlasst, ihre eigene Politik kritisch zu überdenken und zu korrigieren. Im Gegenteil: sie stürzten die Arbeiter vom Regen des ultralinken "Kampfs gegen den Sozialfaschismus" in die Traufe der ultrarechten Volksfrontpolitik in Frankreich und Spanien, der offenen Unterordnung unter bürgerliche Parteien und Regierungen. Hätten KPD und Komintern statt dessen auf der Grundlage von Trotzkis marxistischen Analysen mit der Politik Stalins gebrochen - das Jahrhundert hätte einen völlig anderen Verlauf genommen.

Stalin hatte sich gegen Trotzki durchgesetzt, nicht kraft besserer Argumente, sondern kraft des sozialen Übergewichts, welches die Bürokratie in der Sowjetunion und damit auch in der Kommunistischen Internationale erlangt hatte. Mit jeder Niederlage revolutionärer Erhebungen außerhalb der Sowjetunion - 1923 in Deutschland, 1927 in China -, die durch Stalins Politik herbeigeführt worden war, wurde die Position der Arbeiter auch in der Sowjetunion geschwächt. Die Bürokratie dagegen fühlte sich dadurch in ihrer Stellung umso sicherer und trat immer selbstbewusster auf. Stalin ging daran, mit den Revolutionären im eigenen Land aufzuräumen: erst durch den Ausschluss der von Trotzki geführten Marxisten aus der Partei, dann durch Verbannung, und schließlich, nachdem in Deutschland Hitler die Arbeiterbewegung zerschlagen hatte und die Gefahr einer sozialistischen Revolution vorläufig gebannt war, durch den Massenmord an Kommunisten im Verlaufe der Moskauer Prozesse.

Eine der großen und verhängnisvollen geistigen Fehlleistungen des zu Ende gehenden Jahrhunderts war die Konzeption, dass der Kampf gegen Faschismus und Krieg die Unterstützung der sowjetischen Regierung unter Stalin erfordere. Nur so könnten, lautete das Argument, die Errungenschaften der Oktoberrevolution gegen den Hauptfeind verteidigt werden. Man müsse ein Bündnis mit der Moskauer Führung schließen oder zumindest jede Kritik an ihr hinunterschlucken. Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann, Bert Brecht seien stellvertretend für die breite Schicht von Künstlern und Intellektuellen genannt, die in den dreißiger und vierziger Jahren diesem Trugschluss aufgesessen waren. Sie alle hatten ihre Liebe zur Sowjetunion zu einem Zeitpunkt entdeckt, als dort Stalin fest im Sattel saß und die Ideale der Oktoberrevolution im politischen und kulturellen Mief der bürokratischen Herrschaft längst erstickt waren. Talentierte, ja herausragende Persönlichkeiten verwandelten sich durch diese opportunistische Anpassung in politische Jammergestalten und verloren oft genug auch an künstlerischer Größe und Kraft.

In Wirklichkeit ebnete Stalin mit seiner Politik dem Faschismus und Krieg den Weg. Er führte eine soziale und politische Gegenbewegung gegen die Oktoberrevolution, eine Restauration innerhalb der Sowjetunion an. Diese lief mit der terroristischen Reaktion bürgerlicher und kleinbürgerlicher Schichten außerhalb der Sowjetunion auf die Oktoberrevolution und auf revolutionäre Arbeiterkämpfe in Ländern wie Deutschland oder Italien nicht nur zeitlich parallel, sondern hing eng mit ihr zusammen. Fünfzig Jahre später, nach der Vollendung des Restaurationsprozesses durch die Wiedereinführung der Marktwirtschaft und die Auflösung der Sowjetunion, nimmt die Gefahr von neuen imperialistischen Kriegen und faschistischen Bewegungen erneut Gestalt an. Um sich von dieser Tatsache zu überzeugen, genügt es, einen Blick auf den Balkan zu werfen, auf die innere Entwicklung der ehemaligen Sowjetunion und auf den Wettlauf der westlichen Großmächte um die Aufteilung der Beute im Osten.

So findet der Leser in den Schriften Leo Trotzkis einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis des vergangenen Jahrhunderts und auch entscheidende Lehren, wie das kommende anders gestaltet und die Menschheit vor einem erneuten Absturz in die Barbarei bewahrt werden kann.

Siehe auch:
Web Site des Arbeiterpresse Verlags