Britische Zeitung berichtet:
Nato bombardierte chinesische Botschaft in Belgrad vorsätzlich
Von Chris Marsden
26. Oktober 1999
aus dem Englischen (19. Oktober 1999)
Nach einem Bericht in der britischen Tageszeitung Observer vom 17. Oktober gibt es erdrückende Beweise dafür, dass die Nato während ihres Luftkriegs gegen Serbien am 7. Mai die chinesische Botschaft in Belgrad absichtlich bombardierte.
Das Reporterteam John Sweeney, Jens Holsoe von der dänischen Tageszeitung Politiken und Ed Vulliamy zitiert Informanten aus hohen Militär- und Geheimdienstkreisen in Europa und den USA. Aus diesen Quellen geht hervor, dass die Botschaft bombardiert wurde, nachdem das elektronische Aufklärungssystem der Nato (Elint) entdeckt hatte, dass sie zur Übertragung von Informationen durch das jugoslawische Militär genutzt wurde.
Diese Annahme wird durch die Äußerungen von drei anderen Nato-Offizieren unterstützt - von einem Mitarbeiter der Flugkontrolle in Neapel, einem Offizier des Geheimdienstes, der den jugoslawischen Funkverkehr von Mazedonien aus überwachte, und von einem hochrangigen Mitarbeiter des Nato-Hauptquartiers in Brüssel.
Alle drei berichten, dass sie im April wussten, dass die chinesische Botschaft als Relaisstation für die jugoslawische Armee diente. Die Botschaft stand auch unter dem Verdacht, die Cruise-Missiles-Angriffe der Nato auf Belgrad zu überwachen, mit der Absicht effektive Gegenmaßnahmen zu entwickeln.
Der Geheimdienstoffizier aus Mazedonien sagte: "Die Nato jagte die Sender in Belgrad. Als die Residenz des Präsidenten [Milosevic] am 23. April bombardiert wurde, verschwanden die Signale für 24 Stunden. Als sie wieder da waren, stellten wir fest, dass sie aus dem Botschaftskomplex kamen." "Die chinesische Botschaft hatte ein elektronisches Profil, das die Nato lokalisierte und bombardierte", fügte der ungenannte Mitarbeiter der Luftkontrolle dazu.
Die Nato hatte behauptet, dass die Bombardierung, bei der drei chinesische Journalisten getötet und 20 Diplomaten verletzt wurden, ein "Versehen" gewesen wäre. Die Schuld wurde auf die ungenaue Aufklärungsarbeit der CIA geschoben. Es wurde erklärt, dass die drei Raketen, die in dem Botschaftsgebäude einschlugen, eigentlich die jugoslawische Bundesstelle für Versorgung und Beschaffung (FDSP) hätten treffen sollen. Der amerikanische Verteidigungsminister William Cohen behauptete: "Eines unserer Flugzeuge griff das falsche Ziel an, weil die Befehle zur Bombardierung auf der Grundlage eines veralteten Stadtplans gegeben worden waren."
Der Observer kommentiert: "Später sagte eine Quelle im staatlichen Amt für Bild- und Kartenmaterial der USA, dass die Geschichte von der falschen Karte eine verdammte Lüge war." Die Untersuchungen der Zeitung enthüllen auch, dass es an dem Ort, der von CIA-Chef George Tenet genannt wurde, niemals eine Versorgungs- und Beschaffungsstelle der jugoslawischen Armee gegeben hat.
"Das Büro für Versorgung der VJ [jugoslawischen Armee] - das Tenet FDSP nennt - liegt von der Adresse, die er angab, etwa 500 Meter weiter die Straße hinunter entfernt. Es wurde später bombardiert", merkt der Observer an. "Weiterhin haben die CIA und andere Geheimdienste der Nato-Staaten, wie der britische MI6 und die Entschlüsselungsspezialisten beim GCHQ, die gesamte Kommunikation der chinesischen Botschaft selbstverständlich abgehört, seit sie im Jahre 1996 an diesen Ort zog."
Der Observer zitiert einen Nato-Offizier der Flugkontrolle in Neapel, der bestätigt, dass eine Liste von Nicht-Angriffszielen, darunter Kirchen, Krankenhäuser und Botschaften, existierte. Die chinesische Botschaft war auf dieser Karte korrekt eingezeichnet und nicht dort, wo sie bis 1996 ihren Sitz hatte, so wie es von den USA und der Nato behauptet worden war.
Der britische Außenminister Robin Cook und mehrere Nato-Sprecher haben den Bericht des Observers lautstark geleugnet und versucht, ihn als Hirngespinst darzustellen. "Mir ist kein einziges Beweisstück bekannt, das diese ziemlich wilde Geschichte unterstützen würde", sagte Cook. Gleichzeitig behauptete er, dass das Ziel der Raketen das nah gelegene Quartier des serbischen Milizenführers Zeljho Raznatovic ("Arkan") gewesen wäre.
Die Enthüllungen des Observers bestätigen voll und ganz die Haltung, die das World Socialist Web Site unmittelbar nach der Bombardierung der Botschaft durch die Nato eingenommen hatte. Wir schrieben am 10. Mai: "Nach verschiedenen Darstellungen in den letzten zwei Tagen ist die unglaubwürdigste Erklärung für die Bombardierung der chinesischen Botschaft durch die Nato diejenige, dass es ein reiner Zufall war."
Das WSWS ging auf die sich ständig ändernden Erklärungsversuche der Nato ein - insbesondere auf die Behauptung, die CIA habe ungenaues Kartenmaterial geliefert - und kommentierte: "Es ist praktisch unmöglich, diesen Erklärungen Glauben zu schenken. Die chinesische Botschaft war seit vier Jahren in diesem Gebäude untergebracht. Ihr Sitz war in Stadtplänen für Touristen, die international - und auch in englischer Sprache - verkauft werden, eingezeichnet. Die Botschaft war vielen Journalisten, Diplomaten und anderen Besuchern Belgrads wohl bekannt. Ihre Adresse stand im Telefonbuch von Belgrad. Es ist einfach nicht glaubwürdig, dass der CIA so ein elementarer, grober Fehler unterläuft. Abseits von den öffentlich verfügbaren Stadtplänen hat der amerikanische Geheimdienst Zugang zu Aufklärungssatelliten und anderen Hi-Tech-Überwachungsgeräten, für die pro Jahr etwa 29 Milliarden Dollar im Staatshaushalt veranschlagt werden.
Außerdem soll man glauben, dass ein solcher Fehler während eines umfangreichen Prozesses der Zielauswahl, Bestätigung und Erlaubnis zur Bombardierung unentdeckt blieb... Zahlreiche Militärexperten haben den westlichen Nachrichtenagenturen erzählt, dass die CIA nicht die einzige Quelle der Zielinformation gewesen sein kann."
Der Bericht des Observers vermutet, dass die chinesische Botschaft Aufklärung und andere geheimdienstliche Arbeit zugunsten der serbischen Regierung betrieb und dies der Grund ist, warum die Botschaft bombardiert wurde. Hier stellen sich allerdings weitere Fragen. Die Entscheidung, die politische und diplomatische Residenz einer neutralen Macht vorsätzlich zu bombardieren, ist nicht nur ein Kriegsverbrechen; dies hätte leicht eine militärische Antwort von China provozieren können, mit nicht kalkulierbaren Folgen.
Das World Socialist Web Site deutete auf weitergehende politische Überlegungen hin, die eine solch gefährliche Entscheidung erklären könnten - an erster Stelle ein verzweifelter Versuch, einen Verhandlungsfrieden um jeden Preis zu verhindern. Das WSWS bemerkte, die Bombardierung "kam nur wenige Tage nach dem Außenministertreffen der G8-Staaten, das einen Vertragsentwurf verabschiedet hatte, der scheinbar eine Verkürzung des Krieges zum Ziel hatte, und inmitten von intensiven Aktivitäten der deutschen und russischen Regierung, um eine Übereinkunft mit der Milosevic-Regierung durchzusetzen. Eine Vereinbarung auf Grundlage des G8-Modells hätte dem UN-Sicherheitsrat vorgelegt werden müssen, in dem China Vetorecht besitzt... Die Bombardierung unterband diese Bemühungen umgehend."