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Günther Grass: Mein Jahrhundert

Göttingen: Steidl, 1999; DM 48.- (die vom Autor illustrierte Prachtausgabe: 98.-DM)

Von Sybille Fuchs
6. Oktober 1999

Auch wenn einige Literaturkritiker, die regelmäßig eine gemeinsame Fernsehsendung machen, es als ein "misslungenes Buch" bezeichnet haben, sollte sich kein Leser abschrecken lassen, Mein Jahrhundert zur Hand zu nehmen und es zu lesen. Es ist ein Geschichten- und Lesebuch im besten Sinne und sein Anspruch, ein Jahrhundertbuch zu sein, besteht keineswegs zu unrecht.

Es gab auch einige Kritik an der Wahl des Titels, denn der Autor Grass selbst spielt keineswegs die Hauptrolle darin. Das Buch ist alles andere als ein Memoirenwerk von Günther Grass. Zwar ist er 1927 geboren und hat immerhin den größten Teil dieses Jahrhunderts erlebt. Dennoch ist der Titel noch aus einem anderen Grund richtig gewählt. Es ist wirklich sein Jahrhundert, das er in diesem Buch erzählt, genauso wie es das Jahrhundert seiner Leser ist, und durch dieses Buch hat er es sich und uns auf eine Weise persönlich und bewusst gemacht, wie es kein noch so akribisch verfasstes Geschichtswerk könnte.

Das erste Viertel des Jahrhunderts (das Grass noch nicht selbst erlebt hat) mit seinen bedeutenden und auch den weniger menschheitserschütternden Ereignissen hat mehr oder weniger den Rest dieses Jahrhunderts bestimmt und das Leben der allermeisten Menschen stark geprägt, ob sie jetzt unmittelbare Zeitgenossen dieses ersten Viertels waren oder Nachgeborene.

Angefangen vom Boxeraufstand, den er aus der Sicht eines jungen niederbayerischen Soldaten schildert, der aufgestachelt von der "Hunnenrede" seines Kaisers sich freiwillig für diese imperialistische Strafaktion gemeldet hatte, über die Massenstreiks und Kämpfe der Arbeiter bis zum Ersten Weltkrieg und seinen Folgen, haben die Ereignisse dieses Vierteljahrhunderts die Menschen mit Haut und Haar in einer Weise in die Geschichte einbezogen, wie es vorher nur in Ausnahmesituationen der Fall war.

So beginnt Grass denn auch seine erste Erzählung mit den Worten: "Ich ausgetauscht gegen mich bin Jahr für Jahr dabeigewesen. Nicht immer in vorderster Linie, denn da alleweil Krieg war, zog sich unsereins gerne in die Etappe zurück." Der Erzähler schlüpft in zahlreiche, sehr unterschiedliche Rollen, durch die er wesentliche Erfahrungen und Schlüsselerlebnisse der Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts ausdrückt und die großen und kleinen Begebenheiten seinem Publikum entweder in Erinnerung zurückruft oder - seinen jüngeren Leser - überhaupt erst bekannt macht.

Das gilt keineswegs nur für die großen politischen Ereignisse, deren Stellenwert im Leben der Zeitgenossen durch die recht kurzen, präzisen Berichte der Männer, Frauen und Kinder, die er zu Wort kommen lässt, auch für die Leser selbst plötzlich eine Bedeutung bekommen, die sie allein durch Geschichtsschreibung oder gar durch den derzeit üblichen, meist sehr dürftigen Geschichtsunterricht an den Schulen nie bekommen könnten.

So erfährt eine junge Frau an ihrem Hochzeitstag im Frankfurter Römer, weil sie versehentlich in eine falsche Etage des Gebäudes gerät, zum ersten Mal etwas vom Auschwitz-Prozess, der sie von da nicht mehr loslässt. Sie hat eigentlich nichts damit zu tun, aber sie verfolgt den Prozess, sucht nach Möglichkeiten, sich die Dimensionen der Verbrechen vorzustellen und setzt ihr Leben und das ihrer Familie, die weder zu den Opfern noch zu den Tätern gehört, dazu in Beziehung. Diese Geschichte (andere auch) ist eine Art Metapher für Grass‘ Art Geschichte(n) zu erzählen und für die Intentionen, die er offenbar damit verbindet.

Seine Art der Geschichtsschreibung hat nichts Dozierendes. Durch die Art, wie er dem Leser Gelegenheit gibt, sich mit den erzählenden Personen zu identifizieren oder sich an ihnen zu reiben, sich mit ihnen auseinander zu setzen, ermöglicht er einen Zugang zur Geschichte dieses Jahrhunderts wie ihn sonst vielleicht nur die unmittelbaren Erzählungen der eigenen Eltern oder Großeltern, wenn auch nicht so ausgeklügelt und gezielt, ermöglichen.

Das Literarische Quartett hat Grass Oberflächlichkeit oder Harmonisierung vorgeworfen, weil z.B. Erzählungen über das dritte Reich die gleiche Länge haben wie die übrigen und somit die historischen Ereignisse nicht politisch korrekt gewichtet worden seien. Aber dieser Vorwurf ist absurd. Gerade die bereits erwähnte Geschichte zum Auschwitz-Prozess ist Beweis dafür. Ebenso die Geschichte von dem Maler Max Liebermann, der mit seiner Frau vom Dach seines Hauses am Pariser Platz aus die Massenaufmärsche der Nazis am 30. Januar 1933 anschaut und erklärt: "Ick kann gar nicht soviel fressen, wie ick kotzen möchte".

Zu den großartigsten Geschichten gehört meiner Meinung nach die Erzählung der Hamburger Arbeiterfrau, die ihre drei Söhne verliert (1928). Der älteste, ein sozialdemokratischer Polizist, der als einziger den Krieg "überlebt", aber im Polizeibataillon "ein par schlimme Sachen mitgemacht haben mag", über die er nicht spricht, stirbt 1953 an Krebs. Während der mittlere zuerst Kommunist wird, aber durch den Zickzackkurs der KPD und ihre Sozialfaschismustheorie völlig die Orientierung verliert und dann Nazi wird, geht der jüngste gleich zu den Nazis. Beide fallen im Krieg. In dieser Geschichte spiegelt sich die ganze Verwirrung und Tragik der deutschen Arbeiterklasse, das Versagen und der Verrat ihrer sozialdemokratischen wie der kommunistischen Führung, die schließlich den Nationalsozialisten die Bahn frei machten. "Ich bin ein aufsässiger Knecht der Geschichte", sagt der Autor von sich und mit diesem Buch hat er es erneut bewiesen.

Grass' Geschichten sind sehr unterschiedlich im Charakter, einige ernster, andere ausgesprochen humorvoll, witzig und voller Anspielungen oder auch (Selbst)ironie und die Tatsache, dass sie jeweils nur drei bis vier Seiten lang sind, schadet ihnen in keiner Weise. Gerade weil sie so kurz sind, hat der Autor oft einen sehr präzisen Stil gefunden und sozusagen den Nagel auf den Kopf getroffen.

Aber darüber hinaus hat er sich für komplexere Ereignisse, über die schon viel gesagt und geschrieben wurde, wie z. B. die beiden Weltkriege einige Kunstgriffe einfallen lassen, durch die er in der Lage ist, einen verfremdeten Blick auf diese so vielfach geschilderten Großereignisse zu werfen, bzw. die Gedanken des Lesers in einer neuen Weise anzustoßen.

Für die Jahre des Ersten Weltkriegs lässt er Ernst Jünger mit Erich Maria Remarque auftreten. Das Gespräch führt eine junge Schweizer Historikerin, die im Auftrag eines Rüstungskonzerns den beiden alten Herren angesichts neuer, bevorstehender Kriege ihre Ansichten über den Verlauf der Materialschlachten entlocken soll. Dieser Einfall ist nicht schlecht, den Verherrlicher der "Stahlgewitter" und den pazifistischen Autor von "Im Westen nichts Neues" miteinander diskutieren zu lassen, aber interessanter finde ich andere Geschichten aus dieser Zeit z. B die von 1919, 1922 oder1923.

1939 bis 1945 lässt der Autor Anfang der sechziger Jahre auf der stürmischen Insel Sylt ehemalige Kriegsberichterstatter über ihre Arbeit im Zweiten Weltkrieg diskutieren, und im Laufe dieses "ganz normalen Kameradschaftstreffens" wird dieses für zahllose Menschen so verhängnisvolle Ereignis "eher angetippt als erzählt" und nebenbei sehr viel über die historische Kontinuität des Dritten Reichs und seiner Funktionsträger in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit offenbart.

Grass schlägt historische Bögen und spielt mit den Erzählperspektiven. Manchmal erzählt er von einer fiktiven Gegenwart aus ein länger zurückliegendes Ereignis, manchmal sind seine Ich-Erzähler(innen) noch vollkommen Teil der Ereignisse, wie etwa die Hausfrau im Steckrübenwinter 1919, die sich über die Kriegsgewinnler beklagt, sich im Frauenrat für Ernährungsfragen engagiert und die Verbreitung der "Dolchstoßlegende" durch die Rechten anprangert.

Aber der Autor begnügt sich keineswegs mit dem politischen Geschehen, auch für die rasante technologische Entwicklung und die sportlichen und kulturellen Ereignisse erfindet er Geschichten, aus denen deutlich wird, in welcher Weise sie das Leben der Menschen, ihre Arbeit, ihren Alltag und ihre Freizeit bestimmen und verwandeln.

Die Technik spielt eine große Rolle und hat das Leben der Menschen sehr grundlegend verändert. Schallplatte, Rundfunk, Fernsehen raffiniert gleichzeitig als Spiegel der Zeitläufte. Fünfziger Jahre: Familie Schölermann als Überlebensstrategie einer Gastwirtschaftsfamilie, denn nur wenige konnten sich damals einen eigenen Fernseher leisten. Achtziger Jahre: Die Sendung Lindenstraße ist wirklicher als das wirkliche Leben.

Der Autor tritt gelegentlich auch selbst auf mit seinen Ehefrauen und einigen seiner Bücher, Kapitel, die eher zu den schwächeren gehören (außer das letzte, in dem er seine kaschubische Mutter zum Leben erweckt, die einigermaßen optimistisch in die Zukunft blickt, "wenn nur nicht Krieg ist wieder... Erst da unten und dann überall..."). Sicher ist es nicht so furchtbar interessant, wenn er erzählt, wie er zur Feier anlässlich des Erscheinens dieses Bestsellers mit seiner Frau Anna tanzt. Aber es ist keineswegs überheblich, wenn er sich und seinen Roman Die Blechtrommel zusammen mit denen seiner Kollegen Böll und Johnson nennt und erklärt: "Jetzt ist sie endlich da, die deutsche Nachkriegsliteratur."

Die Blechtrommel, nach Meinung der Rezensentin immer noch sein stärkstes Buch, hat wirklich in der deutschen Nachkriegsliteratur eine herausragende Bedeutung und taucht von daher auch vollkommen berechtigt in Mein Jahrhundert auf. Auch mit seinem vorletzten Buch Ein weites Feld hat er kritisch aus der Sicht eines wiedergeborenen Fontane den Prozess der deutschen Einigung mit seiner Vor- und Nachgeschichte kritisch beleuchtet, was ihm viele Politiker und Kritiker sehr übel nahmen, auch wenn sie ihn heute bejubeln als jüngsten Empfänger des Nobelpreises für Literatur.