Blocher, die Schweiz und die Europäische Union
26. November 1999
Die Redaktion hat eine kritische Zuschrift zum Artikel "Rechtsruck in der Schweiz" vom 30. Oktober erhalten (http://www.wsws.org/de/1999/okt1999/bloc-o30.shtml), die wir hier zusammen mit einer Antwort wiedergeben. Die Zuschrift erreichte uns in englischer Sprache. Sie wurde von der Redaktion ins Deutsche übersetzt.
Liebe Redaktion,
Ich möchte zu Eurem Artikel "Rechtsruck in der Schweiz" einige Bemerkungen machen.
Es ist stark übertrieben, von einer "scharfen Rechtswende" zu sprechen. In Wirklichkeit kamen die Wahlen einer leichten Abwendung von der EU gleich, und wenn ich den Charakter der EU in Betracht ziehe, bin ich wirklich nicht sicher, ob eine Abwendung von der EU wirklich eine Rechtswende sei. Die pro-EU-Position der "linken" Parteien stützt sich auf ihre verbreitete Illusion, dass die EU ein sozialistisches Projekt sei und die Teilnahme kleiner Länder zulasse.
Die "linken" Parteien wollen es nicht wahrhaben, dass ihr vorrangiges Ziel (ein EU-Beitritt der Schweiz) im groben Widerspruch zu all ihren anderen Slogans steht (dem Kampf gegen Arbeitslosigkeit, Neoliberalismus und Militarismus, der Unterstützung der Ökologie und der wahren weltweiten Zusammenarbeit). Dem informierten Internet-Bürger fällt dieser Widerspruch sofort ins Auge, aber die hiesigen Medien nehmen eine sehr falsch informierende pro-EU-Haltung ein.
Wie der französische Schauspieler Ives Montand einmal sagte: "Die EU Befürworter sind wie Schafe, die glauben, dass der Wolf ein Vegetarier sei." Die linken Parteien glauben, die EU sei ein sozialistisches Projekt, aber angesichts der offensichtlichen Widersprüche kann man eigentlich nicht glauben, dass sie ernsthaft dieser Meinung sind. Mir scheint eher, sie wissen, dass das nicht stimmt, können es aber nicht zugeben. Es ist ihre süße Illusion, und ihre politischen Führer träumen schon von den Top-Gehältern aus Brüssel (ich kenne zwei persönlich, deshalb weiß ich, wovon ich spreche).
Es gibt einige wenige links-grüne Bürger, die diesen Widerspruch sehen und gegen die EU sind, aber sie sind nur eine kleine Fraktion und haben unter den "linken" und "grünen" Parteien nichts zu sagen. Die wichtigste Gruppe ist das Schweizer Forum für Direkte Demokratie, dem ich als Mitglied angehöre. Ihr ausgezeichnetes Europa-Magazin hat eine Auflage von nur 3.500!
Es ist sehr traurig, dass die SVP als einzige politische Partei (außer zwei kleinen rechten Parteien, die zu vernachlässigen sind) gegen die EU ist - natürlich aus ganz anderen Gründen als wir! Aber anstatt sich mit ihren Widersprüchen auseinanderzusetzen (und eher als Ablenkung!) haben die "linken" Parteien und die Presse die SVP in der Wahlkampagne bloß dämonisiert. So ist es also keine große Überraschung, dass diejenigen Wähler, die gegen die EU sind, keine andere Wahl hatten, als für die SVP zu stimmen oder sich ganz zu enthalten.
Die EU-kritische links-grüne Minderheitsposition wurde in den Medien nicht zugelassen und auch innerhalb der "links-grünen" Parteien unterdrückt. Wenn man das im Hinterkopf behält, ist es ausgesprochen ironisch, dass die "Linke" sich nun über einen "scharfen Rechtsschwenk" beklagt. Man muss die Schuld ihrer eigenen unehrlichen pro-EU-Position geben!
Das WSWS schrieb:
"Der entscheidende Grund, warum die SVP in der Lage war, so viel Unterstützung von den unteren Mittelklasse-Schichten der Gesellschaft zu erhalten, liegt woanders. Es gab in diesem Wahlkampf keine Partei, die glaubhaft für die Interessen der Arbeiterschichten und sozial Benachteiligten eingetreten wäre und auch nur die Spur einer überzeugenden Alternative zu den vorherrschenden rechten Konzepten vorgebracht hätte."
Das ist korrekt - aber zeigt dies nicht den Bankrott der "linken" Parteien in diesem Land??? Das ist das Problem!
"Den Kommentatoren einiger Zeitungen fiel auf, dass es kaum wirklich kontroverse Debatten gab. Wenn Wahlkampf bedeutet, dass unterschiedliche politische Köpfe und Konzepte miteinander im Wettstreit liegen, - dann hat kein Wahlkampf stattgefunden, schreibt der Tagesanzeiger."
Das ist richtig, der einzige "Inhalt" dieser Wahl war die Verteufelung der anti-EU-Parteien seitens der pro-EU-Parteien, aus Mangel an glaubhaften Argumenten.
"Erst seitdem ein Teil der Bourgeoisie aus diesem Konsens ausbricht, erhält eine Partei wie Blochers SVP - ähnlich wie in Österreich Jörg Haiders FPÖ - plötzlich ihre Bedeutung."
Es ist sehr irreführend, Christoph Blocher und die SVP mit dem Österreicher Jörg Haider und der FPÖ zu vergleichen. Es ist der Unterschied zwischen Nationalismus und Faschismus. Auf jeden Fall scheint auch Haider seinen Erfolg dem Umstand zu verdanken, dass die Österreicher von der EU enttäuscht sind (die meiste EU-freundliche Propaganda hat sich als Lüge herausgestellt).
"Blocher, selbst Milliardär und Großaktionär ..., polemisiert gegen den Ausverkauf der Heimat. Er stellt die EU-Kommission als Brüsseler Vögte hin, gegen welche die Nachkommen von Tell angeblich ihre Freiheit verteidigen müssten. Die Aufrechterhaltung der schweizerischen Isolation wird als Garantie gegen die unerbittliche neo-liberale Globalisierung hingestellt."
Das ist das typische Sündenbock-Argument der links-grünen EU-Befürworter: Blocher ist ein neoliberaler Industrieller, und er ist gegen die EU, also können Grüne oder Linke nicht auch gegen die EU sein. Was sie dabei verschweigen, ist dass die EU selbst neoliberal, industriell und noch weit mehr ist (die deutsche "rot-grüne" Regierung ist ein trauriges Beispiel für diese Unehrlichkeit).
"Die jüngste und krasseste historische Verfälschung Blochers richtet sich erneut gegen die Rückgabeforderung jüdischer Opfer des Nationalsozialismus an die Schweizer Banken: Zwei Tage nach seinem Wahlerfolg verglich er in einem Interview mit der israelischen Tageszeitung Jediot Aharonot die Boykottdrohungen jüdischer Organisationen gegen Schweizer Banken in den Jahren 1997 und 1998 mit dem Boykott jüdischer Geschäfte durch deutsche Nationalsozialisten in den dreißiger Jahren."
Die Jediot Aharonot-Zeitung hat Blochers Erklärung in diesem Interview grob verfälscht, indem sie seine Aussage mit einer ganz anderen Bedeutung übersetzt hat. Ich weiß es, weil eine lokale Zeitung hier Blochers Originalerklärung und die irreführende Übersetzung von Jediot Aharonot abgedruckt hat. Solche Tricks sind böswillige Propaganda der schlimmsten Art. (Übrigens: bis jetzt war noch niemand in der Lage, den Unterschied zwischen dem "Kauft nicht bei Schweizern" der neunziger Jahre und dem "Kauft nicht bei Juden" der dreißiger Jahre zu erklären. Sind nicht beide Mottos bloß rassistische Agitation?)
[Die SVP] "verschärft die nationalistischen Spannungen, indem sie getrennte Schulklassen für Ausländerkinder fordert."
Dies geschieht, weil viele Klassen bereits über fünfzig Prozent ausländische Kinder haben, die verschiedene Sprachen sprechen, so dass die Qualität der Erziehung für alle Kids darunter leidet.
"Sie unterstützt eine Volksinitiative für eine Regelung der Zuwanderung, die eine Begrenzung des Ausländeranteils auf 18 Prozent ins Auge fasst."
Hintergrund: Heute liegt er bei ungefähr zwanzig Prozent, wobei der EU-Durchschnitt bei fünf Prozent liegt. Nicht gerade ein fremdenfeindliches Land, nicht wahr?
Mit freundlichen Grüßen, CR
Mitglied des Schweizerischen Forums für Direkte Demokratie, Mitglied des Internationalen Linken Bio-Forums
* * * * *
Sehr geehrter Herr R,
vielen Dank für Ihre Zuschrift zum Artikel über die schweizerischen Parlamentswahlen, der auf dem World Socialist Web Site veröffentlicht worden ist. Wir freuen uns sehr über Kommentare und Zuschriften. Inhaltlich stimmen wir mit Ihrem Brief allerdings nicht überein.
Sie bestreiten, dass Blochers Wahlerfolg einen Rechtsruck darstellt, und begründen dies damit, dass viele Wähler nur deshalb die SVP gewählt haben, weil sie gegen die EU sind. Wir halten diese Argumentationsweise für politisch falsch und gefährlich.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Auch wir betrachten die EU als reaktionäre Institution. Sie vertritt die Interessen der mächtigsten europäischen Konzerne und Banken gegen die Masse der Bevölkerung und ist daher zutiefst undemokratisch. Wir wissen nicht, welche "linken" Parteien in der Schweiz behaupten, die EU sei ein sozialistisches Projekt - hier in Deutschland haben wir so etwas jedenfalls noch nie gehört.
Wir zweifeln auch nicht daran, dass die berechtigte Angst vor den sozialen Folgen eines EU-Beitritts viele Wähler dazu bewogen hat, ihr Kreuz bei der SVP zu machen. Wir sind weit davon entfernt, in jedem SVP-Wähler einen Blocher en miniature zu sehen.
Aber das ändert doch nichts an der Tatsache, dass die Opposition gegen die EU gegenwärtig äußerst rechte politische Formen annimmt. Christoph Blocher ist ein Nationalist, der nicht vor rassistischer und antisemitischer Demagogie zurückschreckt. Wir können hier beim besten Willen keinen grundlegenden Unterschied zu Jörg Haider sehen. Beide würden wir zur Zeit nicht als Faschisten bezeichnen - dass aber aus ihren Parteien faschistische Bewegungen hervorgehen können, ist unübersehbar.
Wenn viele Schweizer aus Opposition gegen die EU für Blocher stimmen und dabei seine rechten Standpunkte übersehen oder bewusst in Kauf nehmen, dann ist das ein politischer Rechtsruck. Man muss das offen aussprechen, sonst kann man nicht dagegen angehen.
Es gibt eine linke und eine rechte Opposition gegen die EU. Man sollte das nicht vermischen. Die linke Opposition ist zur Zeit sehr schwach. Verantwortlich dafür sind die offiziellen Arbeiterparteien, die jeden Widerstand gegen die bürgerliche Gesellschaft aufgegeben haben und zu den wichtigsten Befürwortern der EU zählen.
Sie stimmen der Aussage in unserem Artikel zu: "Es gab in diesem Wahlkampf buchstäblich keine Partei, die glaubhaft für die Interessen der Arbeiterschichten und sozial Benachteiligten eingetreten wäre und auch nur die Spur einer überzeugenden Alternative zu den vorherrschenden rechten Konzepten vorgebracht hätte." Aber das darf uns doch nicht daran hindern, eine rechte Tendenz bei ihrem Namen zu nennen. Das ist der erste Schritt, um dagegen anzukämpfen und eine linke Alternative aufzubauen. Sie dagegen suchen nach Argumenten, um Blochers Erfolg zu verharmlosen, und enden - vielleicht ungewollt - dabei, seine Standpunkte zu beschönigen.
Es gibt einen Satz in Ihrem Brief, der uns in diesem Zusammenhang besonders schockiert hat. Sie schreiben: "Übrigens: bis jetzt war noch niemand in der Lage, den Unterschied zwischen dem Kauft nicht bei Schweizern der neunziger Jahre und dem Kauft nicht bei Juden der dreißiger Jahre zu erklären. Sind nicht beide Mottos bloß rassistische Agitation?"
Muss man diesen Unterschied wirklich erklären? Man mag über das Mittel des Boykotts denken, wie man will, aber dass der antisemitisch motivierte Boykott von unschuldigen Juden, der schließlich im Massenmord mündete, und der Boykott von Schweizer Banken, die vom Judenmord profitierten und dafür nie zur Rechenschaft gezogen wurden, zwei völlig verschiedene Dinge sind, liegt nun wirklich auf der Hand.
Wenn Sie Sich selbst, wie sie schreiben, als "Linken" betrachten, warum sind sie dann so empfindlich gegenüber Angriffen auf die Schweizer Banken? Es führt kein Weg daran vorbei, dass viele von ihnen einen beträchtlichen Teil ihres heutigen Reichtums der Tatsache verdanken, dass sie sowohl den ihnen anvertrauten Besitz verfolgter Juden nach deren Ermordung einfach einkassiert als auch große Teile des geraubten Nazi-Goldes angenommen haben, sei es zum Zweck, dieses Geld zu "waschen", sei es als Zahlung für die Waffen und Maschinen, die die Schweiz an Nazideutschland geliefert hatte.
Auch Blochers Aussagen in der Zeitung Jediot Aharonot haben wir völlig korrekt interpretiert. Blocher sagte dort, die Boykottdrohungen jüdischer Organisationen gegen Schweizer Banken seien "genauso unverständlich" wie der frühere Boykott deutscher Nationalsozialisten gegen jüdische Geschäfte. Und wir haben geschrieben, Blocher habe die Boykottdrohungen jüdischer Organisationen gegen Schweizer Banken mit dem Boykott jüdischer Geschäfte durch deutsche Nationalsozialisten "verglichen". Was ist daran falsch?
Das ist aber nicht die einzige Frage, in der Sie Blocher in Schutz nehmen.
Zu seinem "Referendum zur Regelung der Einwanderung" schreiben Sie, man müsse auch über den Hintergrund Bescheid wissen: Der Ausländeranteil liege in der Schweiz heute "ungefähr bei zwanzig Prozent, wobei der EU-Durchschnitt bei fünf Prozent liegt. Nicht gerade ein fremdenfeindliches Land, nicht wahr?"
Dazu nur Folgendes: Schon vor hundert Jahren hatte die Schweiz einen ähnlich hohen Ausländeranteil wie heute, wobei es sich damals tatsächlich überwiegend um Ausländer handelte - darunter zahlreiche politische Flüchtlinge aus Deutschland, Russland und andern Ländern -, während man sich heute, falls man zufällig nicht gerade reich ist, nur unter größten Schwierigkeiten als Ausländer in der Schweiz niederlassen kann. Ein großer Teil der heutigen "Ausländer" sind Kinder und Kindeskinder früherer Einwanderer in der zweiten und dritten Generation, die sich bisher nicht einbürgern konnten. Einen großen Teil seiner "Ausländer" verdankt die Schweiz darüber hinaus seinem für Reiche und globale Konzerne vorteilhaften Banken- und Steuersystem, ähnlich wie Luxemburg, das in Europa mit 31 Prozent den größten Ausländeranteil hat.
Auch die SVP-Forderung nach getrennten Schulklassen für schweizerische und ausländische Kinder rechtfertigen Sie: "Dies geschieht, weil viele Klassen bereit über fünfzig Prozent ausländische Kinder haben, die verschiedene Sprachen sprechen, so dass die Qualität der Erziehung für alle Kinder darunter leidet." Ist Ihnen nie in den Sinn gekommen, dass man dieses Problem auch lösen könnte, indem man an den öffentlichen Schulen mehr und besser ausgebildete Lehrkräfte einsetzt? Es sei nur nebenbei bemerkt, dass private Eliteschulen oft internationale Schulen sind.
Angesichts der Tatsache, dass sich das "Forum für direkte Demokratie", dem Sie angehören, in seinen Statuten ausdrücklich von "nationalistischen, rassistischen und fremdenfeindlichen Tendenzen" distanziert, scheint uns die entschuldigende Haltung, die Sie gegenüber vielen Standpunkten Blochers einnehmen, recht erstaunlich.
Unseres Erachtens hängt dies mit den Antworten zusammen, die das "Forum für direkte Demokratie" auf die Probleme der Globalisierung gibt. Es reagiert auf die wachsende Dominanz der internationalen Finanzmärkte und riesiger, transnationaler Konzerne über alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, die auch in der EU ihren politischen Ausdruck findet, indem es sich gegen die Schaffung einer europäischen Großmacht oder eines europäischen Bundesstaates wendet und für dezentrale politische Strukturen eintritt. Anders ausgedrückt: es fordert die Verschweizerung ganz Europas.
Aber gerade die Schweiz mit ihrem ausgeklügelten Föderalismus und ihren entwickelten Formen der direkten Demokratie ist der schlagende Beweis dafür, dass solche Strukturen keine Garantie für eine fortschrittliche gesellschaftliche Entwicklung sind. Der Föderalismus ist zum hinterwäldlerischen Kantönligeist verkommen, die direkte Demokratie zu einem Feld für Intrigen und Manöver der einflussreichsten Kreise. Das seit den dreißiger Jahren bestehende Streikverbot und die permanente Große Koalition in der Bundesregierung haben ein Klima der politischen Fäulnis und Stagnation erzeugt, das einen fruchtbaren Nährboden für rechte Demagogen wie Blocher bildet.
Um diesen Zustand zu verändern, muss man sich auf eine Entwicklung stützen, der das "Forum für direkte Demokratie" viel zu wenig Beachtung schenkt: auf die wachsende Klassenspaltung der Gesellschaft. Der Bedrohung durch die EU der Banken und Konzerne kann nicht durch die Verteidigung dezentraler Strukturen entgegengetreten werden. In der Schweiz, die im europäischen und internationalen Rahmen immer noch eine relativ privilegierte Stellung einnimmt, muss eine solche Perspektive unweigerlich Stimmungen der Absonderung und Isolation schüren. Die einzige fortschrittliche Antwort auf die EU liegt im Zusammenschluss der europäischen Arbeiter auf der Grundlage eines sozialistischen Programms. Die Arbeiter der Schweiz können dabei, wenn sie sich auf ihre Traditionen vom Beginn dieses Jahrhunderts zurückbesinnen, eine wichtige Rolle spielen.
Mit freundlichen Grüßen
Marianne Arens und Peter Schwarz