"Massengräber": Amerikanische Medien suchen nach einer Rechtfertigung für den NATO-Krieg
Von der Redaktion
24. Juni 1999
aus dem Amerikanischen (18. Juni 1999)
Während die NATO-Truppen ihren Zugriff auf das gesamte Kosovo ausdehnen, bemühen sich die amerikanischen und britischen Medien, die öffentliche Meinung aufzuputschen und eine nachträgliche Rechtfertigung des Krieges gegen Jugoslawien zu liefern. Im Zentrum der Propaganda steht eine Reihe von Berichten über Massengräber, die NATO-Soldaten und UCK-Guerilleros angeblich gefunden hätten.
Die beiden einflußreichsten amerikanischen Tageszeitungen, die New York Times und die Washington Post, veröffentlichten am vergangenen Mittwoch wortreiche und grauenvolle Berichte über das Ausmaß des Blutbads, das während der zehn Wochen zwischen Beginn des NATO-Bombardements und der Kapitulation Jugoslawiens im Kosovo angerichtet worden sei. Ähnliche Berichte erschienen im amerikanischen Fernsehen.
Die Pressekampagne über die angeblichen serbischen Greueltaten soll die Behauptungen der Clinton-Regierung, die amerikanischen Kriegsflugzeuge hätten aus "humanitären" Gründen einige zehntausend Tonnen an Bomben auf Jugoslawien geworfen, stützen. Außerdem schafft sie einen Vorwand, um die Vertreibung von 200.000 in der Provinz Kosovo ansässigen Serben zu rechtfertigen. Dieser Prozeß hat bereits begonnen. Zehntausende serbischer Zivilisten sind geflohen, als die UCK-Truppen Städte im Süden und Osten des Kosovo übernahmen.
Über die Flucht der Serben wird nur wenig berichtet. Sie wird noch eskalieren, wenn die NATO- und UCK-Truppen in die stärker von Serben bewohnten Gebiete im Nordosten Kosovos und entlang der nördlichen Grenze zu Montenegro und dem serbischen Kernland eindringen werden.
Bezeichnend ist auch der Verzicht auf jegliche Medienberichte über die Opfer der NATO-Bomben in Serbien. Schließlich könnte man jedem herzzerreißenden Artikel über den Tod von albanischen Zivilisten im ethnischen Bürgerkrieg im Kosovo eine genauso bewegende Darstellung des Todes serbischer Zivilisten durch NATO-Bomben an die Seite stellen.
Zudem werden sich Leiden und Tod in Serbien fortsetzen, wenn die Langzeitwirkung der Zerstörung von Elektrizitätswerken, Wasserversorgung, Straßen, Brücken, Krankenhäusern und grundlegender Infrastruktur zum Tragen kommt. Die Auswirkung der Umweltverschmutzung durch zerstörte Erdölraffinerien und Treibstofflager oder durch die Strahlung der mit Uran angereicherten amerikanischen Raketen läßt sich noch kaum abschätzen.
Die NATO- und US-Propaganda gibt sich keinerlei Mühe, die täglich neuen Geschichten über Greueltaten mit denen von gestern in Einklang zu bringen. Ein treffendes Beispiel ist die am letzten Donnertag vom britischen Außenministerium veröffentlichte Schätzung, es seien 10.000 Kosovo-Albaner in insgesamt 130 Massakern getötet worden. Diese Darstellung wurde weltweit verbreitet.
David Gowan, der für die Untersuchungen über die Kriegsverbrechen im Kosovo zuständige Sprecher der britischen Regierung, sagte: "Es ist sehr schwierig, eine Gesamtzahl zu nennen, aber klar ist, daß sich ein wesentlich schlimmeres Bild ergibt, als wir es erwartet hatten." Dieser Kommentar kann nur als Versuch gewertet werden, die derzeit gezeigten Bilder aus dem Kosovo möglichst intensiv zu Propagandazwecken zu nutzen. Immerhin stellt die britische Schätzung schon eine Reduzierung der Zahlen auf mindestens ein Zehntel früherer Angaben während des Krieges dar, als US- und NATO-Vertreter die an den Haaren herbeigezogene Behautpung aufstellten, zwischen 100.000 und 225.000 albanische Männer seien vermißt und wahrscheinlich ermordet worden.
Auch jetzt gibt es keinen Grund zu glauben, daß die Darstellung von 10.000 Toten zutreffend ist. Die Darstellung der britischen Behauptung in der Presse kaschierte die Tatsache, daß die Regierung diese Schätzung vor einigen Wochen vorbereitete und sich dabei auf "Militär- und Medienberichte sowie Interviews mit Flüchtlingen in Albanien und Mazedonien" stützte. Mit anderen Worten, die Darstellung von 10.000 Toten basiert nicht auf irgendeiner Auflistung von Gräbern oder Leichen, die tatsächlich im Kosovo gefunden wurden, obwohl die Medienberichte diesen Eindruck vermitteln.
Offizielle amerikanische Erklärungen über die angebliche Anzahl der Todesopfer im Kosovo sind gleichermaßen suspekt. Pentagon-Sprecher Mike Doubleday sagte, daß NATO-Soldaten "seit ihrem Einmarsch in das Kosovo am Samstag auf 90 Stätten, an denen Massengräber vermutet werden, gestoßen sind oder davon gehört haben". In diesem Satz finden sich genug wertende Ausdrücke, um die Alarmglocken läuten zu lassen. Was auf den ersten Blick wie ein bedeutsamer Beweis für den Tod einiger Tausend aussieht, entpuppt sich mehr als Gerücht und Spekulation, denn als Tatsache: es sind "vermutete" Massengräber, von einigen hatte man nur "gehört", oder Truppen sind auf sie "gestoßen" - d.h. sie haben sie nicht untersucht.
Ein "vermutetes" Massengrab entsteht oftmals als Behauptung oder Verdacht, geäußert von einem UCK-Offizier, -Soldaten oder -Dolmetscher gegenüber einem NATO-Kommandeur, der dies dann wiederum an einen amerikanischen oder britischen Reporter weitergibt. Keiner in dieser Informationskette ist ein objektiver Beobachter. Alle haben ein begründetes Interesse, die Bedingungen im Kosovo so schwarz und belastend wie möglich zu zeichnen, um den NATO-Krieg zu rechtfertigen.
Die Methode der Verdrehung
Es lohnt sich, einen Leitartikel der New York Times vom vergangenen Mittwoch über die Massengräber von John Kifner und Ian Fisher zu analysieren. Der Artikel berichtet über die Stadt Djakovica im Südwesten des Kosovo nahe der albanischen Grenze und beruft sich auf Behauptungen, wonach 1.000 albanische Männer von Serben festgenommen, abgeführt und vermutlich ermordet wurden.
Während der Artikel durchgängig den Eindruck vermittelt, die Ereignisse im Kosovo seien das Ergebnis einer vorsätzlichen Kampagne ethnischer Säuberung, angetrieben vom völkermörderischen Haß der Serben gegen die Albaner, legen doch einige der angeführten Tatsachen eine andere Erklärung nahe.
Kifner und Fisher schreiben: "Djakovica ist seit langem ein Zentrum des albanischen Nationalismus. Die ganze Region, auf beiden Seiten der Grenze als Has bekannt, wird von den miteinander verwandten albanischen Clans auf beiden Seiten der Grenze als eine Einheit betrachtet."
Und weiter unten: "Die Stützpunkte der UCK liegen auf der anderen Seite der zerklüfteten Berge, im gesetzlosen Nordalbanien, und ihre Nachschubwege verlaufen von den Bergpässen hinunter in diese Täler. Daher hat die Stadt eine enorme strategische Bedeutung. ... Taktisch gesehen liegt das Gebiet an der Hauptverbindungsstraße nahe der Grenze."
Diese Umstände lassen vermuten, daß es in Djakovica zu besonders brutalen militärischen Auseinandersetzungen zwischen der jugoslawischen Armee und den Sezessionisten der UCK kam. In einem Bürgerkrieg dieser Art begeht jedes Land Greueltaten, insbesondere gegen Zivilisten, die mit Guerillakämpfern in Verbindung stehen.
Aber anstelle dieser Schlußfolgerung fügen die Autoren ohne jegliche Begründung hinzu: "In den ersten Tagen der sorgfältig geplanten Kampagne der Serben verbreiteten Massenmorde Angst und Schrecken, führten zur Entvölkerung der grenznahen Dörfer und ermutigten andere ihrem Beispiel zu folgen."
Dann werden vier oder fünf Beispiele von vermuteten Massengräbern mit nahezu 200 Opfern angeführt, ohne einen Beweis dafür, daß es sich bei den Begrabenen um Zivilisten und nicht um UCK-Kämpfer handelt, oder daß dort überhaupt Leichen begraben sind. Ein Beispiel ist ein "Fleck aufgewühlter Erde", auf den UCK-Soldaten aufmerksam machten und sagten, dort seien bis zu 100 Menschen begraben.
Die Worte des Artikels sind mit Bedacht gewählt. Die albanischen Toten seien das Ergebnis von "Massakern". Daß Albaner - und Serben - im Zuge der Kämpfe zwischen UCK und serbischen Truppen insbesondere in dieser Stadt von anerkannter "enormer strategischer Bedeutung" getötet worden sein könnten, wird nirgendwo in Betracht gezogen.
Der Artikel stellt die Greueltaten im Kosovo als eine schockierende Neuigkeit dar. Er ist in einem Ton moralischer Empörung geschrieben, den man in Artikeln der New York Times nicht antrifft, wenn es sich um den Tod zum Beispiel von Palästinensern auf der West Bank, Kurden in der Türkei, Tamilen in Sri Lanka oder Opfer amerikanischer Militärgewalt im Irak, Panama und Somalia handelt.
Wie in den Berichten der New York Times, so finden sich in der gesamten amerikanischen Medienlandschaft regelmäßig Behauptungen, das Milosevic-Regime habe einen vorsätzlichen Plan zur Vertreibung der albanischen Bevölkerung aus dem Kosovo durchgeführt, um die serbische Kontrolle über das Territorium sicherzustellen. Solche Theorien, für die es keinerlei Beweis gibt, stoßen auf ein zentrales Problem - die Tatsache, daß die Massenflucht der Kosovo-Albaner nicht vor dem Beginn der NATO-Bombardements am 24. März einsetzte.
Gemäß amerikanischer bzw. NATO-Version der Ereignisse hat die Bombardierung bei der Flucht der Kosovaren keine Rolle gespielt. Dies fällt schwer zu glauben, wenn man in Betracht zieht, daß die Bombardierung in Serbien zu einer Verdrängung von schätzungsweise einer Million serbischer Zivilisten geführt hat - eine Tatsache, die in den amerikanischen Medien praktisch nicht erwähnt wird.
Aber selbst wenn man davon ausgehen würde, daß die NATO keine Verantwortung für den Exodus der Kosovo-Albaner trage, drängt sich eine andere Schlußfolgerung auf. Nachdem die Massenvertreibungen solange nicht stattfanden, bis das NATO-Bombardement begann und die 2.000 Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) abgezogen wurden, hat Milosevic offensichtlich seinen Plan der "ethnischen Säuberung" für den Beginn eines Luftkrieges gegen sein Land angesetzt. Daraus müßte man aber logischerweise schließen, Milosevic habe sich die Zerstörung durch NATO und USA herbeigewünscht und den Luftkrieg vorsätzlich provoziert, um unter diesem Vorwand seinen Plan der ethnischen Säuberungen verwirklichen zu können.
Je länger man die Unterstellung eines serbischen Gesamtplans zur Säuberung des Kosovo von Albanern durchdenkt, desto weniger läßt sie sich aufrechterhalten. Eine andere Erklärung wird überzeugender. Das Milosevic-Regime hatte Pläne für eine militärische Offensive gegen die UCK, in denen eine Zwangsräumung albanischer Zivilisten in bestimmten Gebieten vorgesehen war, besonders nahe der Grenze zu Albanien und der Hauptnachschubrouten der UCK. Ähnliche Methoden wurden buchstäblich in jedem Krieg zur "Aufstandsbekämpfung" des 20. Jahrhunderts angewandt, und nirgendwo brutaler als von den USA in Vietnam.
Die Kombination von verschärftem Bürgerkrieg und NATO-Bombardierung löste eine Blutorgie aus, in der die fanatischsten und brutalsten Elemente unter den serbischen Nationalisten, insbesondere paramilitärische Gruppen wie die "Weißen Adler", eine entscheidende Rolle spielten. Dies würde erklären, warum in einigen Regionen schreckliche Greueltaten begangen wurden, während in vielen anderen Gebieten die albanische Bevölkerung wesentlich weniger zu leiden hatte, nämlich dort, wo der serbische Bevölkerungsanteil größer und sicherer war und die UCK weniger Einfluß ausübte.
Mittwoch vergangener Woche erschien in der New York Times, an weniger prominenter Stelle, ein wichtiger Bericht, der diese Analyse stützt. Der Artikel stammt von Steven Erlanger, der während der Bombardierungen Korrespondent der Times in Belgrad war und zu den wenigen westlichen Journalisten gehört, die hin und wieder mit einem gewissen Grad an Objektivität geschrieben haben.
Erlanger besuchte Pec, die zweitgrößte Stadt des Kosovo im Westen der Provinz, und führte ein Interview mit einer albanischen Frau, die für die OSZE-Beobachter gearbeitet hatte. Sie sagte: "Als die NATO mit den Bombardierungen begann, fingen die Polizisten und Paramilitärs an, alles zu zerstören, was albanisch war." Der Reporter beschreibt detailliert die Zerstörungen in der Stadt "durch serbische Truppen und Paramilitärs, die ihre Rachegelüste austobten, als die NATO im März Jugoslawien zu bombardieren begann". Diese Charakterisierung legt nahe, daß das NATO-Bombardement eine entscheidende Rolle beim Auslösen der Gewaltwelle gegen die Albaner spielte.
Das nächste Kosovo
Die politische Motivation dieses Trommelfeuers von Horrorgeschichten in den amerikanischen Medien wird in dem Editorial der New York Times vom vergangenen Donnerstag deutlich. Unter der Überschrift "Die Lehren aus dem Balkankrieg" bemerken die Herausgeber unheilverkündend: "Dies war der erste militärische Konflikt seit dem Ende des Kalten Krieges, der in erster Linie für humanitäre Zwecke geführt wurde. Es wird sicherlich nicht der letzte sein."
Die New York Times erklärte, die Intervention in Jugoslawien "ist ein mächtiges Zeichen für andere Tyrannen, daß die Anstiftung zu ethnischer Gewalt auch innerhalb der eigenen Landesgrenzen einen Punkt erreichen kann, den die Welt nicht mehr tolerieren wird." Dies ist die Sprache des Kolonialismus. Eine Handvoll der mächtigsten imperialistischen Länder tritt die Souveränität und nationalen Rechte schwächerer Länder mit Füßen und maßt sich sogar an, für "die Welt" zu sprechen. Im 19. Jahrhundert wurden die militärischen Interventionen und die Besetzung großer Teile Afrikas und Asiens durch Großbritannien, Frankreich, Belgien, Deutschland, Holland und Italien unter dem Deckmantel moralischer Phrasen wie "die Bürde des weißen Mannes" durchgeführt. Beim Eintritt in das 21. Jahrhundert hat sich die Rhetorik verändert, doch der Inhalt ist im Grunde gleichgeblieben.
Die New York Times nennt nicht die Länder, die zum nächsten Kosovo werden könnten, aber die Manipulation ethnischer Gegensätze würde einen ähnlichen Vorwand für amerikanische Interventionen in einem breiten Gürtel von Südosteuropa über den Kaukasus bis nach Zentralasien bieten. Dies sind alles Gebiete, die früher zur Sowjetunion oder ihrem Einflußbereich gehörten.
Der New York Times zufolge "bestand die unmittelbare Gefahr im Kosovo in einem teuflischen Angriff auf die Prinzipien der zivilisierten Gesellschaft. Die NATO bombardierte Serbien 78 Tage lang, um tödliche ethnische Säuberungen zu bekämpfen, die Vertreibung von mehr als einer Million ethischer Albaner aus ihrer Heimat rückgängig zu machen und Slobodan Milosevic davon abzuhalten, den Balkan zu terrorisieren."
Weiter wird im Editorial erklärt: "Die Massengräber, geplünderten Gebäude und niedergebrannten Bauernhäuser des Kosovo sind nicht die unvermeidbare Folge eines militärischen Konflikts. Sie sind das Ergebnis eines bewußt geführten Angriffs von Herrn Milosevic gegen die ethnischen Albaner."
An anderer Stelle haben wir den komplexen historischen Hintergrund des Jugoslawienkrieges untersucht, der in keinerlei Beziehung zu der platten Version der New York Times steht. Wir wollten vor allem festhalten, daß vor Beginn der NATO-Bombardierungen weder "tödliche ethnische Säuberungen" noch eine Flucht der Kosovaren stattgefunden haben. Was Milosevic und den Balkan angeht, so hat der serbische Herrscher niemals außerhalb der Grenzen des ehemaligen Jugoslawien militärisch eingegriffen. Es waren die USA und die NATO, die im Verlauf des Krieges Bulgarien bombardierten, den Schiffsverkehr in Rumänien blockierten, Albanien, Mazedonien, Ungarn und Griechenland in militärische Aufmarschgebiete und den gesamten Balkan in eine Kriegszone verwandelten.
Der Balkankrieg von 1999 wurde mit Bedacht geführt. Es handelte sich um eine vorsätzliche Attacke auf ein kleines Land mit elf Millionen Einwohnern durch eine Koalition der 19 reichsten und mächtigsten Länder der Welt, angeführt vom schlimmsten Rowdy der Welt, den Vereinigten Staaten von Amerika.