Nach der Schlächterei: Politische Lehren aus dem Balkankrieg
Von David North
16. Juni 1999
aus dem Englischen (14. Juni 1999)
An der Wende zum neuen Jahrhundert
Mit der Kapitulation Serbiens vor dem Angriff der NATO unter Führung der USA endet die letzte bedeutende strategische Erfahrung des zwanzigsten Jahrhunderts. Dieser blutige Abschluß verleiht dem Jahrhundert eine gewisse tragische Symmetrie. Es begann mit der Niederschlagung des Boxer-Aufstandes gegen die Kolonialherrschaft in China. Es endet mit einem Krieg, der den Balkan auf den Status eines neokolonialen Protektorats der wichtigsten imperialistischen Mächte herabdrückt.
Es ist noch zu früh, um das volle Ausmaß der Verwüstung Serbiens und des Kosovo durch die Marschflugkörper und Bomben der USA zu ermessen. Schätzungen gehen von 5000 gefallenen serbischen Soldaten aus. Dazu sollen noch etwa doppelt so viele Verwundete kommen. Mindestens 1.500 Zivilisten wurden getötet. Im Verlauf von beinahe 35.000 Einsätzen vernichtete die Luftwaffe der USA - mit Unterstützung ihrer europäischen Verbündeten - einen großen Teil der industriellen und sozialen Infrastruktur Jugoslawiens. Die NATO schätzt, daß 57 Prozent der Treibstoffreserven des Landes beschädigt oder vernichtet worden sind. Beinahe sämtliche wichtigen Straßen, Eisenbahnstrecken und Brücken sind mehrfach bombardiert worden. Die Umspannwerke, zentralen Kraftwerke und Wasserwerke, ohne die moderne Großstädte nicht auskommen können, sind nur noch zu einem Bruchteil ihrer Vorkriegs-Kapazitäten funktionsfähig. Mehrere Hunderttausend Arbeiter haben ihre Lebensgrundlage verloren, weil ihre Betriebe und Fabriken bombardiert worden sind. Mehrere große Krankenhäuser sind durch das Bombardement schwer beschädigt worden. Die Schulen von insgesamt 100.000 Kindern wurden beschädigt oder zerstört.
Die Schätzungen über die Kosten des Wiederaufbaus dessen, was die NATO zerstörte, schwanken zwischen 50 und 150 Milliarden Dollar. Selbst die niedrigere Summe liegt weit jenseits der Möglichkeiten Jugoslawiens. Man erwartet, daß das Bruttosozialprodukt des Landes in diesem Jahr um 30 Prozent zurückgehen wird. Während der vergangenen beiden Monate sanken die Verbraucherausgaben um beinahe zwei Drittel. Wirtschaftliche Berechnungen ergaben bereits, daß Jugoslawien 45 Jahre brauchen würde, nur um zu dem bescheidenen Wohlstand zurückzukehren, den das Land 1989 kannte!
Die Bombardierung Jugoslawiens enthüllte die wahren Beziehungen zwischen dem Imperialismus und kleinen Nationen. Die großen Anklagen gegen den Imperialismus, die in den Anfangsjahren des zwanzigsten Jahrhunderts - von Hobson, Lenin, Luxemburg und Hilferding - verfaßt wurden, lesen sich wie zeitgenössische Dokumente. In ökonomischer Hinsicht sind die kleinen Nationen den Kreditinstituten und Finanzinstitutionen der großen imperialistischen Mächte ausgeliefert. In politischer Hinsicht setzen sie sich mit jedem Versuch, unabhängige Interessen anzumelden, der Gefahr fürchterlicher militärischer Rache aus. Immer häufiger wird kleinen Staaten die nationale Souveränität aberkannt; sie werden gezwungen eine ausländische Militärbesatzung hinzunehmen und sich Herrschaftsformen zu unterwerfen, die im wesentlichen kolonialen Charakter tragen. Die Auflösung der alten Kolonialreiche während der vierziger, fünfziger und sechziger Jahre erscheint im Lichte der jüngsten Ereignisse allmählich als vorübergehende Episode in der Geschichte des Imperialismus.
Den Angriff auf Jugoslawien muß man eher als Massaker, denn als Krieg bezeichnen. Mit dem Begriff Krieg verbindet sich eine Kampfsituation, in der beide Seiten einem beachtlichen Risiko ausgesetzt sind. Noch niemals zuvor hat es in der Geschichte einen militärischen Konflikt gegeben, in dem das Kräfteverhältnis zwischen den Gegnern derart ungleich war. Selbst Hitlers blutige, einseitige Angriffe auf Polen, Holland und Norwegen hatten die deutschen Truppen einer gewissen Gefahr ausgesetzt. Dieses Element des militärischen Risikos war für die USA im jüngsten Krieg nicht gegeben. Ohne auch nur einen einzigen Soldaten, und sei es durch einen Querschläger, zu verlieren, legten die NATO-Piloten und das Steuerungspersonal der Marschflugkörper einen großen Teil Jugoslawiens in Schutt und Asche.
Das Ungleichgewicht der militärischen Ressourcen war ein bestimmendes Merkmal dieses Krieges. Zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts verfügen die imperialistischen Mächte aufgrund ihrer wirtschaftlichen Ressourcen über eine derartige technologische Überlegenheit, daß sie militärisch über ungeheure Vorteile verfügen. In diesem internationalen Rahmen haben sich die USA als die wichtigste imperialistische Unterdrückernationen erwiesen. Sie setzen ihre technologische Spitzenposition im Bereich der Präzisionswaffen ein, um praktisch wehrlose kleine, weniger entwickelte Länder, die ihnen aus irgend einem Grund in den Weg geraten, einzuschüchtern, zu terrorisieren oder zu zerstören.
Vom militärischen Standpunkt her führte das Bombardement erneut das Vernichtungspotential der US-amerikanischen Kriegsmaschinerie vor. Die beauftragte Rüstungsindustrie läßt die Sektkorken knallen und leckt sich begierig die Lippen in Erwartung der reichen Einnahmen, die nun bevorstehen, wenn das Pentagon sein Waffenarsenal wieder auffüllt. Dennoch ist die Kapitulation Serbiens ein Pyrrhussieg. Die Vereinigten Staaten haben ihre kurzfristigen Ziele auf dem Balkan zu einem langfristig enorm hohen politischen Preis erreicht. Ungeachtet der bombastischen Propaganda-Kampagne, mit der die Zerstörung Jugoslawiens als humanitäres Werk dargestellt werden sollte, hat das internationale Ansehen der USA irreparablen Schaden genommen. In der Atmosphäre der politischen Verwirrung, die mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion einherging, war das Prestige der USA gestiegen, wie seit den glorreichen Jahren des Zweiten Weltkriegs nicht mehr. Die Illusionen über die "demokratische" und "humanitäre" Rolle Amerikas waren allgegenwärtig.
Doch im Verlaufe dieses Jahrzehnts hat sich vieles geändert. Die endlose Serie von Cruise-Missile-Angriffen auf wehrlose Gegner hat die Abscheu breiter Massen hervorgerufen. Überall auf der Welt hält man die USA für einen brutalen, gefährlichen Rüpel, der vor nichts haltmacht, um seine Interessen zu sichern. Die Empörung, die sich nach dem Beschuß der chinesischen Botschaft auf den Straßen Pekings Luft machte, war nicht nur das Werk der chauvinistischen Propaganda, wie sie das stalinistische Regime betrieb. Nein, man war sich in breiten Kreisen darüber im klaren, daß die heutigen Angriffe auf Belgrad in den nächsten Jahren auch Peking treffen könnten. Etwas klügere Vertreter des amerikanischen Imperialismus fürchten, daß die Verschlechterung ihres internationalen Images die Vereinigten Staaten noch teuer zu stehen kommen wird. In einer Diskussionssendung des Fernsehsenders ABC, Nightline, unmittelbar nachdem Milosevics Annahme der NATO-Bedingungen gemeldet worden war, äußerte der frühere Außenminister Lawrence Eagleburger die Ansicht: "Wir haben dem Rest der Welt das Bild eines skrupellosen Henkers geboten, der einfach auf den Knopf drückt. Draußen sterben Menschen, aber für uns fallen nur die Kosten für das Missile an... das wird in den kommenden Jahren im Umgang mit dem Rest der Welt noch schwer auf uns zurückfallen."
Selbst unter den Verbündeten der NATO herrscht Nervosität angesichts der internationalen Appetite der USA und ihrer Bereitschaft, diese unter Einsatz aller Methoden zu befriedigen. In der Öffentlichkeit beugen die Präsidenten und Premierminister unterwürfig das Knie und beteuern ihre ewige Freundschaft mit Amerika. Wenn sie hinter verschlossenen Türen unter sich sind und sich vor den Abhörwanzen des CIA vergleichsweise sicher wähnen, stellen sie jedoch durchaus die Frage, wen die Vereinigten Staaten als nächstes ins Visier nehmen werden. Was wird geschehen, wenn einmal die Interessen Europas in direkten Widerspruch zu jenen der USA geraten? Im vergangenen Jahr trugen die Titelseiten von Time und Newsweek Fahndungsfotos von Saddam Hussein. Dieses Jahr war Slobodan Milosevic an der Reihe. Wer wird es nächstes Jahr sein? Wen wird CNN zum neuen internationalen Verbrecher, zum ersten "Hitler" des nächsten Jahrhunderts küren?
Weitaus bedeutsamer als die Solidaritätsbekundungen mit der NATO war die vom Europäischen Rat am Tage der Kapitulation Jugoslawiens veröffentlichte Erklärung, daß die Regierungschefs die Europäische Union in eine eigenständige Militärmacht verwandeln würden. Die Union müsse, heißt es in der Verlautbarung des EU-Gipfels, "die Fähigkeit zu autonomem Handeln, gestützt auf glaubwürdige militärische Fähigkeiten, sowie die Mittel und die Bereitschaft besitzen, dessen Einsatz zu beschließen, um - unbeschadet von Maßnahmen der NATO - auf internationale Krisensituationen zu reagieren." Diese Erklärung beruht auf der Überzeugung der europäischen Regierungschefs, daß die Fähigkeit des europäischen Kapitalismus, es auf Weltebene mit den Vereinigten Staaten aufzunehmen - also zu überleben - von einer glaubwürdigen militärischen Schlagkraft abhängt, mit der sie ihre eigenen internationalen Interessen sichern und verteidigen können. Es ist für die europäische Bourgeoisie unannehmbar, daß nur die Vereinigten Staaten über die Fähigkeit verfügen sollten, sich mit militärischen Mitteln geopolitische strategische Vorteile zu sichern und ihre ökonomischen Interessen zu befördern. Die Konkurrenz zwischen den großen imperialistischen Mächten wird nun, unmittelbar im Gefolge des Überfalls auf Jugoslawien, unweigerlich offen militaristische Züge annehmen.
Weit entfernt davon, einen humanitären Bruch mit der Vergangenheit darzustellen, kündet der Balkankrieg des Jahres 1999 von einer virulenten Rückkehr ihrer bösartigsten Erscheinungen: die Rechtfertigung des rücksichtslosen Einsatzes nackter militärischer Gewalt gegen kleine Länder zugunsten strategischer "Großmachtsinteressen", die zynische Verletzung des Prinzips der nationalen Souveränität und die de-facto-Rückkehr kolonialistischer Unterwerfung, sowie das Wiederaufleben von Gegensätzen zwischen den Imperialisten, welche die Saat eines neuen Weltkriegs bergen. Die bösen Geister, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ihr Debüt gaben, konnte die internationale Bourgeoisie dem Imperialismus nicht austreiben. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert suchen sie die Menschheit noch immer heim.
Die Medien und der Krieg gegen Jugoslawien
Die Propaganda spielt in allen Kriegen eine entscheidende Rolle. Der Propagandaminister der Nazis, Joseph Goebbels, bezeichnete die Presse einst als eine große Klaviatur, auf der die Regierung spielen könne. Doch das Ausmaß, die technologische Perfektion und die Wirkung der modernen Propaganda übersteigen die kühnsten Vorstellungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Sämtliche das Denken abtötende Techniken der Werbe- und Unterhaltungsindustrie gipfeln in der "Vermarktung" des Krieges für das Massenpublikum. Die Wirksamkeit dieses schmutzigen Unterfangens beruht auf dem Einsatz eines einzigen, emotionsgeladenen Schlagwortes, das die Öffentlichkeit verläßlich in die Irre leiten wird. Während der Bombardierung des Irak 1998-99 waren es die "Massenvernichtungswaffen". Um die öffentliche Meinung für den Angriff auf Jugoslawien zu gewinnen, wurden alle Widersprüche, Komplexitäten und Ambivalenzen des Balkan in einem einzigen Schlagwort ersäuft, das Tag und Nacht wiederholt wurde: "ethnische Säuberung". Die amerikanische und internationale Öffentlichkeit wurde mit der immer gleichen Botschaft bombardiert: Der Krieg wird geführt, um den Massenmord zu beenden. Die Videoaufnahmen von albanischen Flüchtlingen, die den Kosovo verließen, wurden in einer Weise verbreitet, die den Betrachter über die historischen und politischen Hintergründe dieser Bilder völlig im Dunklen ließ. Die Tatsache, daß die Verluste an Menschenleben im Kosovo zumindest im Vergleich zu ähnlichen Konflikten in anderen Teilen der Welt verhältnismäßig gering ausfielen, bis das Bombardement einsetzte, wurde einfach übergangen. Und was die Anzahl der Kosovo-Albaner angeht, die tatsächlich von serbischem Militär und paramilitärischen Verbänden getötet wurden, so beruhten die Angaben der US-Regierung und der NATO-Sprecher, die sie mit 100.000 bis 250.000 bezifferten, auf rein willkürlichen Spekulationen ohne Bezug zur Realität.
Die ständigen Vergleiche zwischen dem Kosovo-Konflikt und dem Holocaust waren obszön; jene zwischen Serbien und Nazideutschland einfach absurd. Als der internationale Gerichtshof endlich seine politisch motivierte Anklage gegen Milosevic vorlegte, belief sich die Anzahl der Toten, für die man ihn persönlich verantwortlich machte, auf 391. Natürlich ist Milosevic kein Vertreter des Humanitätsgedankens, aber andere Leute haben mehr Menschenleben auf dem Gewissen, nicht zuletzt der Amerikaner Henry Kissinger, der immerhin den Friedensnobelpreis erhielt. Bisweilen schien die gesamte Propagandakamapgne unter dem Gewicht ihrer eigenen Verlogenheit und Hirnverbranntheit zu wanken. Dennoch gaben selbst jene Medienvertreter, die hie und da schüchterne Fragen über das Bombardement zu stellen wagten, niemals zu, daß der Krieg andere als die offiziellen humanitären Gründe hatte.
Die Medien unternahmen nicht den geringsten Versuch, den historischen Hintergrund des Konflikts zu beleuchten. Entscheidende Fragen, wie beispielsweise die Beziehung zwischen der Wirtschaftspolitik, die Jugoslawien vom Internationalen Währungsfonds aufoktroyiert worden war, und dem Wiederaufleben ethnischer und religiöser Spannungen wurden in der Öffentlichkeit nicht thematisiert. Man fand auch keine kritische Auseinandersetzung mit dem katastrophalen Beitrag der deutschen und amerikanischen Politik in den frühen neunziger Jahren - insbesondere der Anerkennung der slowenischen, kroatischen und bosnischen Unabhängigkeit - zum Ausbruch des Bürgerkriegs auf dem Balkan. Ob die politischen und wirtschaftlichen Folgen der Auflösung Jugoslawiens - eines Staates, der immerhin seit 1918 bestanden hatte - der serbischen Seite vielleicht tatsächlich Anlaß zu Beschwerden boten, wurde überhaupt nicht zur Debatte gestellt. Die Vereinigten Staaten und die westeuropäischen Mächte lieferten keine Erklärung für den schreienden Gegensatz zwischen ihrer Haltung gegenüber den Gebietsansprüchen und der Minderheitenpolitik Kroatiens, Sloweniens und Bosniens auf der einen und gegenüber jenen Serbiens auf der anderen Seite. Weshalb haben die USA beispielsweise 1995 die "ethnische Säuberung" Kroatiens von den 250.000 Serben aus der Provinz Krajina aktiv unterstützt? Man durfte keine Antwort erwarten.
Allgemein gesprochen unterschlugen die Medien jegliche Informationen, die geeignet schienen, dem Vorgehen der serbischen Regierung auch nur den Hauch einer Berechtigung zu verleihen. Das berüchtigtste Beispiel bewußter Fälschung war die Darstellung der Vorgänge in Rambouillet. Erst wurde ständig gemeldet, die Serben hätten das Rambouillet- Abkommen abgelehnt - obwohl jeder, der die Angelegenheit verfolgt hatte, sehr wohl wußte, daß es in Rambouillet weder Verhandlungen noch ein Abkommen gegeben hatte. Was die Serben abgelehnt hatten, war ein nicht verhandelbares Ultimatum gewesen.
Noch unaufrichtiger war die Art und Weise, wie die amerikanischen und westeuropäischen Medien wichtige Informationen zurückhielten, aufgrund derer sich die öffentliche Meinung möglicherweise gegen den Angriff auf Jugoslawien gewendet hätte. Es wurde schlicht unterschlagen, daß das "Abkommen" einen Annex enthielt, in dem verlangt wurde, daß die Serben den NATO-Truppen nicht nur im Kosovo, sondern in ganz Jugoslawien Bewegungsfreiheit einräumten. Die Bedeutung dieses Anhangs lag auf der Hand: die Vereinigten Staaten stellten Milosevic gezielt ein Ultimatum, das er überhaupt nicht annehmen konnte. Selbst nachdem diese Information über das Internet ans Licht gekommen war, wurde sie in den Massenmedien noch weitgehend verschwiegen. Erst in ihrer Ausgabe vom 5. Juni, nach der Kapitulation Serbiens, berichtete die New York Times schließlich über das entscheidende Kodizill und zitierte es. Jetzt gibt man sogar zu, daß seine Streichung aus den Bedingungen, die Tschernomyrdin und Ahtisaari formulierten, entscheidend dazu beitrug, Milosevic zum Abzug der serbischen Truppen aus dem Kosovo zu bewegen.
Der Imperialismus und der Balkan
In dem Maße, wie die Medien ausschließlich auf das Thema der ethnischen Säuberungen fixiert waren, lenkten sie von einer Untersuchung der tieferen und wesentlicheren Gründe ab, aus denen heraus sich die Clinton-Regierung zum Angriff auf Jugoslawien entschlossen hatte. Leider zeigten die amerikanischen akademischen Experten auf den Gebieten Geschichte des Balkan und internationale Politik wenig Neigung, der Propagandakampagne öffentlich entgegenzutreten. Sie verliehen der humanitären Pose der US-Regierung sogar eine gewisse Glaubwürdigkeit, indem sie jeden Gedanken daran, daß auf dem Balkan bedeutsame materielle Interessen im Spiel sein könnten, weit von sich wiesen.
Dabei ergibt schon ein flüchtiges Studium der Region, daß dies nicht zutrifft. Der Kosovo ist reich an marktfähigen Ressourcen. Nach langem Schweigen zu diesem Thema brachte die New York Times - eine Säule des US-Außenministeriums - am 2. Juni schließlich einen Artikel unter der Überschrift: "Der Preis: Die Frage, wer die reichhaltigen Minen des Kosovo kontrolliert". Er begann mit den Worten: "Eine Reihe inoffizieller Teilungspläne für den Kosovo werden entworfen, die alle die Frage aufwerfen, wer eine wichtige Bergbauregion im Norden kontrollierten wird. Aufgrund des Bombardements war es schwierig, an aktuelle Produktionsziffern heranzukommen. Experten zufolge handelt es sich um große Vorkommen von Kohle neben Nickel, Blei, Zink und anderen Mineralien."
Natürlich bildet das Vorkommen solcher Ressourcen an und für sich noch keine hinreichende Erklärung für den Krieg. Es wäre eine unzulässige Simplifizierung der komplexen strategischen Variablen, wollte man die Entscheidung zum Krieg lediglich mit bestimmten Rohstoffen im angegriffenen Land erklären. Der Begriff der materiellen Interessen umfaßt jedoch mehr, als eine unmittelbare finanzielle Ausbeute für die eine oder andere Branche. Die Finanz- und Industrie-Elite der imperialistischen Länder beurteilt ihre materiellen Interessen im Rahmen internationaler geopolitischer Überlegungen. In manchen Fällen gilt ein kahler Landstrich, der hinsichtlich eigener Rohstoffvorkommen überhaupt nichts hergibt, dennoch - sei es aufgrund geographischer Gegebenheiten oder den Wechselfällen internationaler politischer Beziehungen und Verpflichtungen - als strategischer Besitz von unschätzbarem Wert. Ein Beispiel hierfür ist Gibraltar, das eigentlich nur aus einem großen Felsen besteht. Andere Regionen sind an sich schon von einem so außerordentlich hohen Wert - das gilt insbesondere für den Persischen Golf -, daß die imperialistischen Mächte vor nichts haltmachen werden, um sie zu kontrollieren.
Der Balkan schwimmt nicht auf einem Meer von Öl und ist auch keine kahle Wüste. Dennoch ist seine strategische Bedeutung seit jeher ein Faktor in der imperialistischen Machtpolitik. Sei es nur wegen seiner geographischen Lage zwischen Westeuropa und dem Osten, oder als Puffer gegen die Ausdehnung Rußlands (später der UdSSR) in Richtung Süden, der Balkan spielte stets eine entscheidende Rolle im internationalen Machtgefüge. Die Ereignisse auf dem Balkan führten zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, weil das Ultimatum Österreich-Ungarns an Serbien im Juli 1914 (das in mancher Hinsicht das Ultimatum der USA und der NATO 85 Jahre später vorwegnahm) das empfindliche Kräftegleichgewicht zwischen den großen europäischen Staaten zu erschüttern drohte.
Die Haltung der USA gegenüber dem Balkan ist während des gesamten zwanzigsten Jahrhunderts von weitergehenden internationalen Erwägungen geprägt gewesen. Während des Ersten Weltkriegs trat Präsident Woodrow Wilson zum Teil deshalb als Vorkämpfer für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen auf, weil er die nationalen Bestrebungen der Balkanvölker gegen das österreich-ungarische Reich einsetzen wollte. In einem der berühmten "14 Punkte", die Wilson als Grundlage für ein Ende des Weltkriegs formulierte, wurden die Rechte Serbiens hochgehalten und ihm sogar ein Zugang zum Meer versprochen (den die USA heute durch die Förderung des Sezessionismus in Montenegro bedrohen). Nach dem Zweiten Weltkrieg bildete die zunehmende Konfrontation mit der Sowjetunion den entscheidenden Faktor, der die amerikanische Politik gegenüber der neuen Belgrader Regierung unter Marschall Tito bestimmte. Der Ausbruch des heftigen Konflikts zwischen Stalin und Tito 1948 hatte dramatische Auswirkungen auf die Rolle, die Washington Jugoslawien in der Weltpolitik zugedachte. Die USA sahen in Titos Regime ein Hindernis für die sowjetische Expansion in Richtung Mittelmeerraum (und damit nach Südeuropa als auch in den Nahen Osten), so daß sie sich entschieden für die Einheit und territoriale Unversehrtheit Jugoslawiens stark machten.
Die Auflösung der Sowjetunion änderte Washingtons Beziehungen zu Belgrad. Ohne das Gespenst der sowjetischen Expansion sahen die Vereinigten Staaten keine Notwendigkeit mehr, sich weiterhin für einen einheitlichen jugoslawischen Staat zu verwenden. Die amerikanische Politik widerspiegelte jetzt neue Bestrebungen, die mit der raschen Reorganisierung der Wirtschaft in der ehemaligen UdSSR und den einstmals stalinistisch regierten Ländern Osteuropas auf kapitalistischer Grundlage zusammenhingen. Nach anfänglichem Zögern rangen sich die maßgeblichen Figuren in der amerikanischen Politik zu der Ansicht durch, daß das Aufbrechen der alten zentralisierten Staatsstrukturen, die in den nach sowjetischem Muster bürokratisch gelenkten Wirtschaften eine große Rolle gespielt hatten, die Privatisierung und das Eindringen westlichen Kapitals erleichtern würde. Die Vereinigten Staaten und ihre westeuropäischen Verbündeten nahmen folgerichtig die Zerlegung des einheitlichen jugoslawischen Bundesstaates in Angriff. Dies geschah ganz einfach durch die offizielle Anerkennung der Republiken der alten Föderation - beginnend mit Slowenien, Kroatien und dann Bosnien - als unabhängige souveräne Staaten. Die Resultate dieser Politik waren katastrophal. Professor Raju G.C. Thomas, ein führender Balkanexperte, schrieb dazu:
"Vor der einseitigen Unabhängigkeitserklärung Sloweniens und Kroatiens und deren anschließender Anerkennung durch Deutschland und den Vatikan, gefolgt vom Rest Europas und den Vereinigten Staaten, hatte es in Jugoslawien keine Massenmorde gegeben. Vor der Anerkennung Bosniens hatte es auch in Bosnien keine Massenmorde gegeben. Der Erhalt des alten jugoslawischen Staates hätte sich wahrscheinlich als das geringste aller Übel erwiesen. Die Probleme setzten ein, als es zur Anerkennung bzw. zum Drängen nach Anerkennung kam. Das ehemalige Jugoslawien hatte keine Aggression gegen seine Nachbarländer begangen. Die eigentliche Aggression in Jugoslawien begann eindeutig mit der westlichen Anerkennung Sloweniens und Kroatiens. Die territoriale Integrität eines Staates, der auf freiwilliger Grundlage entstanden war und seit dem Dezember 1918 existiert hatte, wurde beiseite gewischt.1991 wurde die Anerkennung neuer Staaten zu einer politischen Methode, um lange bestehende souveräne unabhängige Staaten zu zerstören. Wenn mehrere reiche und mächtige Staaten beschließen, einen souveränen unabhängigen Staat vermittels der Anerkennungspolitik zu zerlegen, wie soll sich dieser Staat dann verteidigen? Gegen diese Form der internationalen Staatszerstörung ist keine Abwehr oder Verteidigung möglich. Man muß sagen, daß der Westen unter der Führung Deutschlands und später der USA Jugoslawien vermittels der Politik der staatlichen Anerkennung aufgespalten hat." (1)
Ein weiterer Grund, weshalb die Vereinigten Staaten und die NATO die Zerteilung der alten jugoslawischen Föderation vorantrieben, liegt in den internationalen strategischen Implikationen der Auflösung der UdSSR. Die Vereinigten Staaten hatten es eilig, das nach dem sowjetischen Kollaps entstandene Machtvakuum auszunutzen, um ihre Macht Richtung Osten auszudehnen und sich die Kontrolle über die riesigen unerschlossenen Öl- und Gasvorkommen in den nunmehr unabhängigen zentralasiatischen Republiken der ehemaligen UdSSR zu sichern. In dieser neuen geopolitischen Sachlage gewann der Balkan außerordentliche strategische Bedeutung als logistischer Stützpunkt für die Ausdehnung der imperialistischen Macht, insbesondere jener der USA, in Richtung Zentralasien. Hier lag der eigentliche Grund für den Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten und dem Milosevic-Regime. Mit Sicherheit war Milosevic nicht gegen die Einführung der Marktwirtschaft in Jugoslawien. Er hatte auch nichts gegen gute Arbeitsbeziehungen zu den wichtigen imperialistischen Mächten. Doch entgegen seiner ursprünglichen Erwartungen wirkte sich die Auflösung der jugoslawischen Föderation zu Ungunsten Serbiens aus.
Man muß nicht mit dem Programm Milosevics sympathisieren, um zu erkennen, daß die imperialistische Politik auf dem Balkan scheinheilig zweierlei Maß anlegte, um Serbien zu schwächen und die gesamte serbische Bevölkerung in den übrigen Teilen der ehemaligen Föderation in Gefahr zu bringen. Während Maßnahmen der kroatischen und bosnisch-muslimischen Truppen - darunter auch Aktionen, die als "ethnische Säuberungen" bekannt wurden - weitgehend als legitime Schritte zur nationalen Selbstverteidigung gewertet wurden, verurteilte man jene der Serben als nicht hinnehmbare Verstöße gegen internationales Recht. Die Logik der Auflösung Jugoslawiens lief darauf hinaus, jede Maßnahme Serbiens zur Verteidigung seiner nationalen Interessen innerhalb des neuen Staatensystems zu kriminalisieren.
Die Anerkennung Sloweniens, Kroatiens und Bosniens verwandelte die jugoslawische Armee in den Augen der imperialistischen "internationalen Gemeinschaft" in einen Aggressor, der die Unabhängigkeit und Souveränität der neuen unabhängigen Staaten bedrohte. Das Handeln der serbischen Minderheit außerhalb der Grenzen der Rumpf-Föderation wurde ebenso als Beispiel für jugoslawische Aggression angeführt. Insoweit die Unzufriedenheit der serbischen Seite über die erfolgte Aufteilung der Balkanhalbinsel den weitgefaßten strategischen Zielen des amerikanischen Imperialismus zuwiderlief, beschwor sie den Zorn Washingtons herauf. Dort kam man zu dem Schluß, daß Serbien eine Lektion erteilt werden müsse, die es niemals wieder vergessen werde.
Der weltweite Ausbruch des US-Imperialismus und das zweite "amerikanische Jahrhundert"
Der Angriff auf Jugoslawien ging von den kombinierten Kräften der NATO aus. Seiner Planung und Ausführung nach war der Krieg jedoch ein amerikanisches Unterfangen. Nicht einmal die einigermaßen komische Thatcher-Pose des britischen Premiers Tony Blair konnte die Tatsache verwischen, daß die USA in diesem Krieg den Ton angaben. Als am 24. März die ersten Marschflugkörper gegen Jugoslawien abgeschossen wurden, war es das vierte Mal innerhalb eines knappen Jahres, daß die Vereinigten Staaten ein anderes Land bombardierten. Zuvor hatte die Clinton-Regierung bereits im selben Jahr ein heftiges Bombardement gegen den Irak in Gang gesetzt, auf der Jagd nach Saddam Husseins imaginären "Massenvernichtungswaffen". Die Bombardierung des Irak ist mittlerweile buchstäblich zur Routine der amerikanischen Außenpolitik geworden. Die Bilanz der militärischen Aktivitäten Amerikas muß jeden objektiven Beobachter in Erstaunen und Schrecken versetzen. Ein Land, das bis zum Erbrechen seine Friedensliebe beteuert, führte beinahe ununterbrochen militärische Schläge jenseits der Grenzen der Vereinigten Staaten. Es gab nicht weniger als sechs größere Missionen, bei denen Bodentruppen eingesetzt wurden und/oder bombardiert wurde: Panama (1989), Persischer Golf (I) (1990-91), Somalia (1992-93), Bosnien (1995), Persischer Golf (II) (1999) und Kosovo-Jugoslawien (1999) Dazu kommen eine Reihe von Besetzungen - Haiti (1994-), Bosnien (1995-) und Mazedonien (1995-). Hunderttausende Menschen haben aufgrund der amerikanischen Militäraktionen während der vergangenen zehn Jahre ihr Leben verloren. Natürlich ist jede dieser Episoden von der amerikanischen Regierung und den Medien als wohltätiger Friedenseinsatz dargestellt worden. In Wirklichkeit handelte es sich um objektive Manifestationen des zunehmend militaristischen Charakters des amerikanischen Imperialismus.
Es besteht ein offenkundiger und unbestreitbarer Zusammenhang zwischen dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Arroganz und Brutalität, mit der die Vereinigten Staaten während der neunziger Jahre ihre internationalen Ziele verfolgt haben. Beträchtliche Teile der amerikanischen herrschenden Elite sind zu der Schlußfolgerung gelangt, daß die Abwesenheit jedes nennenswerten Gegenspielers auf internationaler Ebene, der den USA Widerstand leisten könnte, den Vereinigten Staaten die historisch einmalige Gelegenheit verschafft, vermittels ihrer militärischen Macht eine unanfechtbare globale Vormachtstellung zu erlangen. Im Unterschied zu dem Traum vom "amerikanischen Jahrhundert" nach dem Zweiten Weltkrieg, der an den Grenzen scheiterte, welche die Sowjetunion durch ihre bloße Existenz den globalen Begehrlichkeiten der USA setzte, argumentieren die politischen Strategen in Washington und Denkfabriken im ganzen Land heute, daß die überwältigende militärische Überlegenheit Amerikas das 21. Jahrhundert zu dem seinigen machen werde. Ungehindert durch äußere Schranken oder nennenswerte innere Opposition bestehe die Mission der Vereinigten Staaten darin, alle Hindernisse niederzureißen, die der Reorganisierung der Weltwirtschaft auf der Grundlage der marktwirtschaftlichen Prinzipien, so wie sie die amerikanischen transnationalen Konzerne verstehen und diktieren, noch entgegenstehen.
Dazu müßten die Vereinigten Staaten, so wird argumentiert, lediglich jede verbliebene Scheu vor dem Einsatz militärischer Gewalt ablegen. Thomas Friedman schrieb kurz nach Ausbruch des Krieges in der New York Times: "Die unsichtbare Hand des Marktes wird niemals ohne die verborgene Faust wirken können - ohne McDonnell Douglas, den Produzenten der F-15, kann McDonald's nicht florieren. Und die verborgene Faust, welche die Welt für die Technologie des Silicon Valley sichert, heißt United States Army, Air Force, Navy und Marine Corps... Ohne Amerika auf der Wacht gibt es kein America Online." (2)
Die Zukunft des Krieges und der Kult um die Präzisionswaffen
Eine ungenierte und detaillierte Ausführung dieser Perspektive findet man in dem jüngst erschienenen Titel "The Future of War" ("Die Zukunft des Kriegs") von George und Meredith Friedman. Das Hauptargument der Friedmans - beide Experten in strategischer Wirtschaftsspionage - lautet, daß Amerikas Arsenal von computergesteuerten Präzisionswaffen ihm eine derartige militärische Überlegenheit verleihe, daß seine weltweite Vormachtstellung auf Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte hinaus gesichert sei. Sie schreiben:
"Zwar wird das internationale System auch weiterhin von Kriegen dominiert und definiert werden, doch die Art der Kriegsführung erfährt einen dramatischen Wandel, der die amerikanische Macht erheblich steigern wird. Das 21. Jahrhundert wird durch die überwältigende und dauerhafte Macht der Vereinigten Staaten geprägt werden. Wir vertreten die Ansicht, daß der Aufstieg der amerikanischen Macht nicht einen Aspekt eines globalen System darstellt, das fünfhundert Jahre umfaßt, sondern in Wirklichkeit ein gänzlich neues globales System eröffnet. Wir befinden uns in einer grundlegend neuen Epoche, in der die Welt, die sich um Europa drehte, von einer Welt abgelöst wird, die sich um Nordamerika dreht." (3)
Die Friedmans meinen, daß sich diese welthistorische Verlagerung der globalen Macht im Golfkrieg von 1991 angekündigt habe. "Während der Operation Wüstensturm geschah etwas Außergewöhnliches", verkünden sie. "Die bloße Einseitigkeit des Sieges, die Zermalmung der irakischen Armee im Vergleich zu einer Handvoll Opfer auf amerikanischer Seite, weist auf eine qualitative Verlagerung der Militärmacht hin." Der Grund für den überwältigenden Sieg Amerikas war der Einsatz von Präzisionswaffen, der ersten Geschosse, deren Flug nicht von den Gesetzen der Schwerkraft und der Ballistik abhängt. Diese Waffen. die ihren eigenen Kurs korrigieren und gewissermaßen von ihren Zielen angezogen werden, "haben die statistischen Grundlagen des Krieges und damit die Berechnung der politischen und militärischen Macht verwandelt." Die Friedmans erklären, die Einführung dieser Waffen sei "als bestimmendes Moment in der menschlichen Geschichte von gleicher Bedeutung wie die Einführung der Feuerwaffen, der Phalanx und des Streitwagens". Da Europa seinerzeit "die Welt mit dem Gewehr erobert hat", bedeute die Entwicklung der computergesteuerten Präzisionswaffen den Anbruch einer neuen, von Amerika dominierten Geschichtsepoche. (4) Die Friedmans schlußfolgern:
"Das 21. Jahrhundert wird das amerikanische Jahrhundert sein. Das mutet auf den ersten Blick seltsam an, denn man hält allgemein das 20. Jahrhundert für das amerikanische Jahrhundert und meint, mit dessen Ende neige sich die amerikanische Vorherrschaft ihrem Abschluß zu. Doch die Periode, seit Amerikas Intervention den Ersten Weltkrieg entschied, war nur ein Prolog. Nur die groben Umrisse der amerikanischen Macht sind in den vergangenen hundert Jahren erkennbar geworden, nicht voll ausgereift und immer verdeckt durch vorübergehende Probleme und triviale Herausforderungen - Sputnik, Vietnam, Iran, Japan. Rückblickend wird deutlich werden, daß Amerikas Unbeholfenheit und Rückschläge lediglich das - vorübergehende und wenig relevante - Straucheln eines Heranwachsenden waren." (5)
Ganz unabhängig davon, ob die Friedmansche Einschätzung über die historische Bedeutung der Präzisionswaffen richtig ist, kommt allein der Tatsache, daß ihre Ansichten das Denken einer bedeutenden Schicht der politischen Entscheidungsträger in den USA widerspiegeln, eine erhebliche objektive Bedeutung zu. Nichts ist gefährlicher als eine schlechte Idee, deren Zeit gekommen ist. Bereits die Entscheidung, Jugoslawien vor das Ultimatum "Kapitulation oder Vernichtung" zu stellen, hat gezeigt, daß die Strategen des amerikanischen Imperialismus zu der Überzeugung gelangt sind, der Krieg sei durch diese neue Waffengattung zu einer effektiven, tragfähigen und risikoarmen Politikoption geworden.
Der Gedanke, daß militärische Gewalt den ausschlaggebenden Faktor der Geschichte darstelle, ist nicht gerade neu. Wenn man ihn theoretisch hinterfragt, so bringt er ein vulgäres und simplifiziertes Verständnis der tatsächlichen Kausalbeziehungen im historischen Prozeß zum Ausdruck. Die Politik des Krieges und die Waffentechnologie sind nicht die entscheidenden Faktoren der Geschichte. In Wirklichkeit basieren beide auf wesentlicheren sozioökonomischen Faktoren. Natürlich kann die Einführung einer neuen Waffengattung den Ausgang der einen oder anderen Schlacht, oder je nach Umständen sogar eines Krieges bestimmen. Im breiteren Rahmen der Geschichte ist sie jedoch ein untergeordneter Begleitfaktor. Die Vereinigten Staaten verfügen gegenwärtig über einen "Wettbewerbsvorteil" in der Waffenbranche. Doch weder dieser Vorteil noch die Produkte dieser Industrie können ihnen die Weltherrschaft sichern. Ungeachtet ihres ausgefeilten Waffenarsenals basiert die vorherrschende Rolle der USA im Weltkapitalismus heute auf einer weitaus dürftigeren finanziellen und industriellen Grundlage, als vor 50 Jahren. Ihr Anteil an der Weltproduktion ist dramatisch zurückgegangen. Ihr internationales Handelsdefizit wächst jeden Monat um Milliarden Dollar. Die Vorstellung hinter dem Kult um die computergesteuerten Präzisionswaffen - daß Meisterschaft auf dem Gebiet der Waffentechnologie diese grundlegenderen wirtschaftlichen Indikatoren nationaler Stärke außer Kraft setzen könne - ist eine gefährliche Täuschung. Überdies unterliegen - bei aller Explosionskraft - Finanzierung, Produktion und Einsatz der Cruise Missiles und anderer "intelligenter" Bomben den Gesetzen des kapitalistischen Marktes und sind seinen Widersprüchen ausgeliefert. Die Produktion dieser Waffen verschlingt außerordentliche Mittel; und immerhin schafft ihr Einsatz keine Werte, sondern zerstört sie. Auf Jahre hinaus werden durch produktive Arbeit geschaffene Werte benutzt werden, um die Kredite abzuzahlen, die für den Bau der Bomben, die im Balkan explodierten, aufgenommen werden mußten.
Wir bezweifeln, daß Frau Albright sich um solche Feinheiten Gedanken macht. Immerhin ist die Befriedigung über die "Wunder" der Waffentechnologie weit verbreitet unter den herrschenden Eliten, die, ob sie es wissen oder nicht, in einer historischen Sackgasse angelangt sind. Angesichts eines komplexen Knäuels internationaler und innerer sozioökonomischer Widersprüche, die sie schwerlich begreifen und für die es keine konventionellen Lösungen gibt, halten sie Waffen und Krieg für das Mittel, mit dem sie ihre Probleme einfach aus dem Weg sprengen können.
Unter dem Aspekt der praktischen politischen Beziehungen erscheint der ergebene Glaube an Präzisionswaffen gefährlich und unbedacht. In keiner Geschichtsperiode hat es bisher eine so rasche Entwicklung der Technologie gegeben. Jeder Fortschritt, wie spektakulär er auch sein mag, bereitet nur die Bühne für seine eigene rasche Verdrängung durch noch erstaunlichere Neuerungen in Design und Funktion. Die revolutionären Fortschritte der Kommunikations- und Informationstechnologie sorgen für eine mehr oder weniger rasche Verbreitung des Wissens und der Fähigkeiten, auf denen die Präzisionswaffen beruhen. Das US-Monopol auf die Atomwaffen - das Präsident Truman und seine Leute 1945 für die militärische Grundlage des "amerikanischen Jahrhunderts" hielten, das sie zum Ende des Zweiten Weltkriegs versprachen - währte keine fünf Jahre. Es gibt keinen Anlaß davon auszugehen, daß die Technologie der neuen Waffensysteme das ausschließliche Eigentum der USA bleiben wird. Und selbst wenn es den USA gelingt, bei der Entwicklung der Präzisionswaffen die Führung zu behalten, bietet dies keine Garantie, daß die Kriege des nächsten Jahrzehnts für die Amerikaner so unblutig verlaufen werden, wie jene der neunziger Jahre. Die Greueltaten der Vereinigten Staaten erhöhen unweigerlich den Druck auf jene Staaten, die sich bedroht fühlen, einen größeren Gegenschlag vorzubereiten. Selbst dort, wo sich Entwicklung oder Erwerb der Präzisionswaffen-Technologie aus Kostengründen verbieten, wird man billigere, aber durchaus todbringende chemische, biologische und auch nukleare Alternativen finden. Rußland besitzt bereits reichlich Vorräte an all diesen Alternativen. China, Indien, Pakistan und natürlich Israel verfügen ebenfalls über beträchtliche Arsenale tödlicher Waffen.
Wenn auch die Ressourcen der wirtschaftlich rückständigen Länder nicht ausreichen, um es auf dem Gebiet der High-Tech-Waffen mit den USA aufzunehmen, so verfügen Europa und Japan durchaus über hinreichend Mittel. Obwohl sie ihre eigenen Erklärungen mit Bedacht so abfassen, daß keinerlei Feindseligkeit gegenüber den USA durchscheint, betonen die europäischen Analysten die Notwendigkeit einer deutlichen Erhöhung der EU-Militärausgaben. "Die Abhängigkeit Europas von den USA", schrieb die britische Financial Times am 5. Juni, "ist auf unangenehme Weise enthüllt worden." Es sei "dringend", so die FT, daß die Europäische Union ihr eigenes Militärprogramm auflege: "Nicht, daß Europa versuchen sollte, mit den USA Missile für Missile und Kampfjet für Kampfjet gleichzuziehen. Doch es sollte über die Technologie, die industrielle Basis und die professionellen militärischen Fähigkeiten verfügen, um sicherzustellen, daß es zumindest Seite an Seite mit den USA, und nicht nur als armer Verwandter agieren kann."
Zurück in die Zukunft: Der Imperialismus im 21. Jahrhundert
Die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde Zeuge der schrecklichsten Vergeudung von Menschenleben in der Weltgeschichte. Man schätzt, daß im Verlauf des Ersten (1914-1918) und des Zweiten Weltkriegs (1939-45) mehr als 100 Millionen Menschen getötet wurden. Die Ursachen dieser Kriege lagen, wie die großen revolutionären Marxisten jener Zeit erklärten, in den grundlegenden Widersprüchen des Weltkapitalismus: zwischen der Anarchie der Marktwirtschaft, die sich auf das Privateigentum an den Produktionsmitteln stützt, und der objektiv gesellschaftlichen Produktion, zwischen der stark integrierten Weltwirtschaft und dem Nationalstaatensystem, in dem die bürgerliche Klassenherrschaft historisch verwurzelt ist. Den Weltkriegen gingen Konflikte zwischen den herrschenden Klassen verschiedener imperialistischer Länder um Märkte, Rohstoffe und damit zusammenhängende strategische Interessen voraus. Die Vereinigten Staaten gingen als die vorherrschende kapitalistische Macht aus dem Zweiten Weltkrieg hervor. Deutschland, Italien und Japan waren besiegt. England und Frankreich waren durch die Kriegskosten ruiniert. Die alten Gegensätze zwischen den Imperialisten verschwanden zwar nicht, wurden aber angesichts des Kalten Krieges zwischen den USA und der Sowjetunion im Zaum gehalten.
Der Zusammenbruch der UdSSR 1991 beseitigte die politischen Beschränkungen, die den Konflikten zwischen den Imperialisten auferlegt worden waren. Die konkurrierenden Bestrebungen der Vereinigten Staaten, Europas und Japans können nicht auf ewig friedlich versöhnt werden. Die Geschäftswelt ist eine Welt unablässigen und rücksichtslosen Wettbewerbs. Konzerne, die es aus dem einen oder anderen Grund für geboten halten, heute an einem gemeinsamen Projekt zu arbeiten, können sich unter geänderten Umständen morgen an die Kehle gehen. Der unnachgiebige Konkurrenzkampf der Konzerne im Weltmaßstab - der ewige Krieg aller gegen alle - findet im offenen militärischen Konflikt seinen entwickeltsten und todbringendsten Ausdruck. Die globale Integration der Produktion schwächt den Konflikt zwischen imperialistischen Mächten nicht ab, sondern steigert ihn paradoxerweise noch. Wie schreiben doch die Friedmans, ausnahmsweise zutreffend: "Wirtschaftliche Zusammenarbeit erzeugt gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit. Abhängigkeit erzeugt Reibereien. Die Suche nach dem wirtschaftlichen Vorteil ist ein verwegenes Spiel, das Nationen zu Verzweiflungstaten treibt. Diese Tatsache kann man historisch belegen." (6)
Die zunehmende Häufigkeit militärischer Ausbrüche während der neunziger Jahre ist ein objektives Anzeichen für den kommenden weltweiten Zusammenstoß. Sowohl dem Ersten als auch dem Zweiten Weltkrieg ging eine Reihe lokaler oder regionaler Konflikte voraus. Während die wichtigen imperialistischen Mächte bemüht sind, ihren Einfluß auf die Regionen auszuweiten, die mit dem Zusammenbruch der UdSSR für das kapitalistische Eindringen offenstehen, nimmt die Wahrscheinlichkeit von Konflikten zwischen ihnen zu. Die größeren Auseinandersetzungen - die sich beispielsweise zwangsläufig aus der Verteilung der Öl-Ausbeute des kaspischen und kaukasischen Raumes ergeben müssen - werden um weltweite Machtpositionen ausgetragen werden, die über Leben oder Untergang entscheiden. Solche Fragen lassen sich naturgemäß keiner friedlichen Lösung zuführen. Die Grundtendenz des Imperialismus führt unerbittlich in Richtung eines neuen Weltkriegs.
Der Balkankrieg und die öffentliche Meinung in Amerika
Ungeachtet aller Bemühungen der Medien, Unterstützung für den Krieg zu erzeugen, reagierte die amerikanische Arbeiterklasse - also die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung - außerordentlich zurückhaltend. Es gab zwar keine bedeutenden Äußerungen von Opposition gegen den Krieg. Eben so wenig fand man jedoch nennenswerte Bekundungen verbreiteter Zustimmung zu dem Angriff auf Jugoslawien. Im Gegensatz zu der ungezügelten Kriegsbegeisterung der Medienvertreter legten arbeitende Menschen zumeist Verwirrung und Mißtrauen an den Tag. Der Krieg war kein beliebtes Gesprächsthema. Auf die Frage, wie sie zu dem Krieg stünden, antworteten abhängig Beschäftigte im allgemeinen, daß sie nicht verstünden, worum es dabei überhaupt gehe. Natürlich gefiel ihnen nicht, was sie da über "ethnische Säuberungen" hörten. Doch gleichzeitig vermuteten die Arbeiter, daß die Ursachen für die Kämpfe im Kosovo und im gesamten ehemaligen Jugoslawien komplizierter waren, als die Medien ihnen weismachen wollten. Weit entfernt, patriotische Begeisterung auszulösen, steigerten der offenkundig ungleiche Charakter des Konflikts und die Auswirkungen der amerikanischen Bomben das allgemeine Unbehagen der breiten Öffentlichkeit. Für diese Einschätzung sprechen auch die Maßnahmen der Clinton-Regierung im Zusammenwirken mit den Medien, so wenig wie möglich über den Tod und die Zerstörung zu berichten, die das amerikanische Bombardement anrichteten. Die Entscheidung zum Beschuß des wichtigsten jugoslawischen Fernsehsenders in Belgrad fiel nach dessen Berichterstattung über die ersten NATO-Treffer, die zu größeren Verlusten unter der Zivilbevölkerung geführt hatten. In der Woche nach dem blutigen Vorfall stellten die amerikanischen Korrespondenten praktisch jegliche Berichterstattung über die Auswirkungen der gesteigerten Bombardierung Jugoslawiens ein. Die Fernsehberichte Brent Sadlers, des vielleicht letzten CNN-Korrespondenten mit einem Rest persönlicher Integrität, wurden eingestellt. Die Regierung wollte eindeutig verhindern, daß die Öffentlichkeit allzu gründlich über den Einsatz von Streubomben und anderen wirklichen "Massenvernichtungswaffen" gegen die serbische Bevölkerung informiert wurde.
Ein weiteres wichtiges Anzeichen dafür, wie die Clinton-Regierung die Stimmung der Bevölkerung einschätzte, war ihre offenkundige Überzeugung, daß die Öffentlichkeit nicht gewillt war, in Jugoslawien amerikanische Menschenleben aufs Spiel zu setzen. Natürlich ist ein solcher Zustand des allgemeinen Bewußtseins, in dem der Mord an der Bevölkerung eines anderen Landes hingenommen wird, so lange es keine Amerikaner das Leben kostet, nicht besonders erbaulich. Dennoch kann eine Regierung bei einem Krieg, für den die Bevölkerung keinerlei Opfer zu bringen bereit ist, nicht auf große öffentliche Unterstützung bauen. Man erinnere sich, daß in Vietnam mehr als 25.000 Soldaten getötet und mehrere hunderttausend verwundet worden waren, bevor sich die öffentliche Meinung entschieden gegen diesen Krieg wandte.
Nichts zeugt von größerer geistiger Öde und politischer Oberflächlichkeit, als jener Pseudo-Radikalismus, der das Sprücheklopfen für eine Analyse hält und ein solch komplexes und widersprüchliches Phänomen wie die öffentliche Meinung der Masse unbedingt in naiv-"revolutionären" Begriffen interpretieren zu müssen glaubt. Es wäre eine Fehleinschätzung und Selbsttäuschung, das relative Ausbleiben von Kriegsbefürwortung - d.h. die Stimmung passiver Hinnahme, die während des Bombardements vorherrschte - mit einer politisch bewußten Opposition gegen den imperialistischen Angriff auf Jugoslawien zu verwechseln. Nicht weniger falsch wäre es jedoch, aus dem gegenwärtigen, verwirrten Zustand des allgemeinen Bewußtseins pessimistische Schlußfolgerungen zu ziehen und die sehr reale Möglichkeit zu übersehen, daß sich die politische Orientierung der Arbeiterklasse ändern wird. Nicht oberflächlicher Pessimismus oder Optimismus sind gefragt, sondern eine Untersuchung des objektiven Zustands der Klassenbeziehungen, die die Reaktion der verschiedenen gesellschaftlichen Schichten auf den Balkankrieg geprägt haben.
Der Finanzboom und die neue Gefolgschaft des Imperialismus
Eine der bemerkenswertesten Begleiterscheinungen des Angriffs auf Jugoslawien war die führende Rolle von Personen, die sich einst gegen den Vietnamkrieg gestellt und an anti-imperialistischen Protestbewegungen beteiligt hatten. Mit der Ausnahme des britischen Premierministers Tony Blair - der praktisch überhaupt keine politische Geschichte hat und einfach von Rupert Murdoch zum Führer der Labour Party erkoren wurde - hatten sich alle übrigen Regierungschefs der NATO-Kriegsländer einst als Gegner des Imperialismus verstanden. Präsident Clinton entzog sich, wie jedermann weiß, der Wehrpflicht, schmauchte Marihuana und tat öffentlich seinen Haß auf das US-Militär kund. Javier Solana, der Sozialdemokrat, der einst gegen den Eintritt Spaniens in die NATO auftrat, ist heute Generalsekretär des Militärbündnisses. Der deutsche Kanzler Gerhard Schröder warf einst als Juso-Vorsitzender mit marxistischen Phrasen um sich und protestierte noch vor 15 Jahren gegen die Stationierung der Pershing-Mittelstreckenraketen. Sein Außenminister Joschka Fischer führte in den siebziger Jahren einen Trupp "revolutionärer" Straßenkämpfer an und bekannte sich später als Führungspersönlichkeit der Grünen zum konsequenten Pazifismus. Die New York Times veröffentlichte vor kurzem ein Porträt des deutschen Außenministers, in dem es hieß: "Joschka Fischer verteidigt lautstark eben jene Politik, die er einst bekämpfte, und brachte die Fundamentalisten in seiner eigenen Grünen-Partei gegen sich auf." Massimo D'Alema, der italienische Premierminister, saß einst der Kommunistischen Partei vor, bevor sich diese in die Demokratische Partei der Linken umwandelte. Die politische Laufbahn dieser Leute bestätigt nicht nur das bekannte französische Sprichwort: "Bis 30 ein Revolutionär, danach ein Schwein." Sie ist auch typisch für die Entwicklung einer ganzen Schicht in der heutigen bürgerlichen Gesellschaft.
Die Gesellschaftsstruktur und die Klassenbeziehungen sämtlicher wichtiger kapitalistischer Länder sind durch den Börsenboom, der zu Beginn der achtziger Jahre einsetzte, stark beeinflußt worden. Ständig steigende Aktienkurse, insbesondere der explosionsartige Anstieg der Marktbewertungen seit 1995, haben einer bedeutenden Schicht der Mittelklasse - insbesondere unter der akademisch gebildeten Elite - den Zugang zu einem Reichtum ermöglicht, wie sie sich ihn zu Beginn ihrer Karriere kaum hätte träumen lassen. Diejenigen, die wirklich reich geworden sind, machen einen relativ geringen Prozentsatz der Bevölkerung aus. In absoluten Zahlen jedoch stellen die "Neureichen" eine nicht unbedeutende, politisch einflußreiche soziale Schicht dar. Die kapitalistischen Regierungen wenden viel Zeit und Energie auf, um deren wachsende Appetite und noch ausschweifenderen Gelüste zu befriedigen. Von allen gängigen Sorgen um die eigene Haushaltskasse und Einkünfte befreit, schwelgen die Neureichen in einem privaten Überfluß, den die überwiegende Masse der Bevölkerung nur aus Film, Fernsehen und Illustrierten kennt.
Die New York Times brachte kürzlich eine interessante Studie über einen wichtigen neuen Trend auf dem Immobilienmarkt der USA: "Das Eigenheim im Wert einer - oder, in einigen Städten, auch mehr als einer - Million Dollar entwickelt sich zum angesehenen Markenzeichen der goldenen späten neunziger Jahre, und zwar nicht nur bei den traditionellen Geldsäcken, sondern auch in mittleren amerikanischen Städten wie Memphis, wo solche Häuser bisher eher selten waren."
Diese Eigenheime, so die Times, "zeugen von einer wirtschaftlichen Spaltung: der Reichtum, den der Ende 1995 einsetzende Boom hervorbrachte, streifte zwar viele Menschen, floß aber in unverhältnismäßigen Anteilen und riesigen Mengen zu den reichsten 5 Prozent der Haushalte unseres Landes. Diese erhielten den Löwenanteil der Einnahmen aus dem Börsenboom, der über Nacht Tausende von Multimillionären schuf. Und diese haben wohlweislich einen großen Batzen ihrer Einkünfte in Häuser gesteckt."
Unter Hinweis auf eine Studie des Wirtschaftswissenschaftlers Edward N. Wolff von der New York University berichtet die Times weiter: "Selten hat die Geschichte derart rasch reiche Leute erzeugt... Die Gesamtzahl amerikanischer Haushalte wuchs während jener dreijährigen Periode um drei Prozent, die Anzahl der Haushalte mit Millioneneinkünften schnellte um 36,6 Prozent nach oben. Setzt man die Reichtumsgrenze bei zehn Millionen Dollar an, so fielen 1998 275.000 Haushalte in diese Kategorie, während es 1995 noch 190.000 waren - eine Steigerung um 44,7 Prozent."
Die Kehrseite dieses Prozesses ist die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage für die überwiegende Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung. "Aus seiner Analyse von Statistiken der Zentralbank", schreibt die New York Times, "zieht Mr. Wolff eine weitere Erkenntnis: "Während das Netto-Vermögen der reichsten zehn Prozent der Haushalte in den letzten Jahren anstieg, verloren die übrigen neunzig Prozent an Boden." (7)
Diese Darstellung ist nur eine Momentaufnahme der im heutigen Amerika allgegenwärtigen sozialen Ungleichheit. Die immer tiefere Spaltung der amerikanischen Gesellschaft nähert sich rasch - oder hat ihn vielleicht schon erreicht - dem Punkt, an dem auch nur der Anschein eines breiten gesellschaftlichen Konsens, der sich auf elementare demokratische Werte stützt, nicht länger aufrechterhalten werden kann. Diese Sachlage ergibt sich nicht nur aus dem bloßen Ausmaß der Unterschiede zwischen dem Durchschnittseinkommen der obersten zehn Prozent und jenem der übrigen Bevölkerung. Der spezifische Charakter des Prozesses, der diesen Reichtum hervorbringt - die Bereicherung durch steigende Aktienkurse - erzeugt auf ganz natürlichem Wege soziale und politische Einstellungen, die zutiefst arbeiterfeindlich und pro-imperialistisch geprägt sind. Die Politik, die das explosive Ansteigen der Aktienwerte ermöglicht hat - der unaufhörliche Druck auf die Lohnniveaus, die ständigen Forderungen nach größerer Produktivität, die massiven Sozialkürzungen, die erbarmungslose "Verschlankung" im Interesse der Konzernprofitabilität - hat die soziale Stellung der Arbeiterklasse in den Vereinigten Staaten unterhöhlt.
Für die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung, die in weniger entwickelten Ländern lebt, hatte jene Politik, die den Dow Jones und den NASDAQ auf nie erreichte Höhen trieb, überaus tragische Folgen. Der Aktienboom wurde in erster Linie durch die deflationäre Umgebung befeuert und aufrechterhalten, die sich aus dem anhaltenden Niedergang der Rohstoffpreise speiste. Dieser Niedergang ergab sich nicht aus bloßen objektiven Wirtschaftsprozessen, sondern aus der rücksichtslosen Politik der wichtigen imperialistischen Mächte. Diese zielte darauf ab, den Produzenten der "dritten Welt" Preiserhöhungen unmöglich zu machen. Dem OPEC-Ölkartell wurde die Fähigkeit zur Preisfestlegung geraubt, wobei der Golfkrieg von 1990-91 keine geringe Rolle spielte. Dieses Beispiel zeigt besonders deutlich, wie die Anhäufung von Reichtum in den imperialistischen Ländern mit der verstärkten Ausbeutung der weniger entwickelten Länder zusammenhängt. Jene Schichten in den fortgeschrittenen Ländern, deren Wohlstand von steigenden Aktienkursen abhängt, haben direkt von diesem Prozeß profitiert. Das heißt natürlich nicht, daß jedes Individuum, das Geld in Aktien angelegt hat, automatisch die imperialistische Politik unterstützt. Dennoch sind die allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Implikationen dieser objektiven ökonomischen Prozesse und Beziehungen nicht von der Hand zu weisen.
Während des Ersten Weltkriegs stellte Lenin die Überprofite, die der Imperialismus aus der Ausbeutung der Kolonien zog, in Zusammenhang mit der politischen Korruption eines Teils der Mittelklasse und der Arbeiterbürokratie. Zwar sind die wirtschaftlichen Umstände und die internationalen Beziehungen von 1999 mit Sicherheit nicht identisch mit jenen des Jahres 1917, dennoch spielte sich ein analoger gesellschaftlicher Prozeß ab. Die objektive Wirkungsweise und die sozialen Folgen des anhaltenden Aktienbooms haben den Imperialismus in die Lage versetzt, unter Teilen der oberen Mittelklasse eine neue, treue Gefolgschaft zu gewinnen. Das reaktionäre, konformistische und zynische geistige Klima, das in den USA und Europa vorherrscht - gefördert von den Medien und abgestimmt auf eine weitgehend servile und korrumpierte akademische Gemeinde - widerspiegelt die gesellschaftliche Einstellung einer äußerst privilegierten Bevölkerungsschicht, die nicht das geringste Interesse daran hat, daß die ökonomischen und politischen Grundlagen ihres neu erworbenen Reichtums kritisch hinterfragt werden.
Der Zustand der amerikanischen und internationalen Arbeiterbewegung
Die wachsende Kluft zwischen der privilegierten Schicht, aus der sich die herrschende Elite des Kapitalismus rekrutiert, und der breiten Masse der arbeitenden Bevölkerung spricht für ein objektiv hohes Maß an sozialen und klassenbedingten Spannungen. Auf den ersten Blick könnte man meinen, diese Einschätzung werde durch das Fehlen militanter Arbeiterkämpfe in den Vereinigten Staaten widerlegt. Doch das geringe Niveau an Streikaktivitäten und anderen Formen sozialer Massenproteste ist kein Anzeichen gesellschaftlicher Stabilität. Der geringe Umfang offener Klassenkonflikte trotz rasch zunehmender sozialer Ungleichheit deutet vielmehr darauf hin, daß die bestehenden politischen und gesellschaftlichen Institutionen der USA die Fähigkeit eingebüßt haben, auf die angestaute Unzufriedenheit der Arbeiterklasse zu reagieren. Etablierte Organisationen wie die Gewerkschaften fungieren nicht einmal mehr in beschränktem Maße als Vermittler von Anliegen der Bevölkerung. Die Parteien der Demokraten und der Republikaner, die praktisch keinen direkten Kontakt zur Masse der Bevölkerung haben, leugnen mittlerweile die bloße Existenz der grundlegenden Schwierigkeiten des Arbeiterlebens, von Lösungen ganz zu schweigen. Je länger die Beschwerden der Arbeiterklasse übergangen und abgebügelt werden, desto explosiveren Charakter nehmen sie schließlich an. Irgendwann wird die Spannung in der Gesellschaft den "kritischen Punkt" erreichen, an dem sie an die Oberfläche durchbricht.
Der lange Nieder- und Untergang der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung gehört zu den grundlegendsten Veränderungen im sozialen Leben der USA während der vergangenen zwei Jahrzehnte. Noch in den sechziger Jahren konnte die Johnson-Regierung den Krieg gegen Vietnam nicht führen, ohne auf Schritt und Tritt die Auswirkungen ihrer Politik auf die Arbeiterklasse zu berücksichtigen. Präsident Lyndon Johnson widerstand den Forderungen der Zentralbank und der Großunternehmen, die steigenden Kriegskosten durch Sozialkürzungen zu finanzieren. Er fürchtete, daß jede Austeritätspolitik die ohnehin ausgeprägten Klassenkonflikte und sozialen Unruhen noch verstärken werde. Im Jahr 1971 versuchte die Nixon-Regierung, den Forderungen der Arbeiter nach besseren Lebensbedingungen durch die Schaffung einer Lohnbehörde entgegenzutreten, die bei 5,5 Prozent Lohnerhöhung ein oberes Limit setzte. Um einen Eindruck vom gesellschaftlichen Klima jener Zeit zu vermitteln, wollen wir daran erinnern, daß sogar ein Mann wie George Meany - der über siebzigjährige Präsident des AFL-CIO, der als die rechteste Figur in der amerikanischen Arbeiterbewegung galt - Nixons Bemühungen um eine Begrenzung der Lohnerhöhungen als "ersten Schritt in Richtung Faschismus" bezeichnete. Anschließend erklärte sich Meany ungeachtet seiner Rhetorik zur Zusammenarbeit mit der Lohnbehörde bereit. Dennoch war er angesichts der überwältigenden Opposition in der Bevölkerung und einer wachsenden Streikwelle gezwungen, wieder daraus auszuscheiden, womit Nixons Pläne insgesamt gescheitert waren.
Beginnend in den siebziger Jahren setzten jedoch wirtschaftliche und politische Entwicklungen ein, mit denen sich das innenpolitische und internationale Umfeld von Grund auf zugunsten der amerikanischen herrschenden Klasse wandelte. Als erstes beendeten die großen weltweiten Rezessionen von 1973-75 und 1979-81 den langen Boom nach dem Zweiten Weltkrieg. Vor dem Hintergrund wachsender Arbeitslosigkeit - von der Regierung durch bis dahin beispiellose Zinssteigerungen begünstigt - ergriffen die Unternehmer die Gelegenheit zu einer Großoffensive gegen die Gewerkschaften. Das Angriffssignal kam im August 1981, als Präsident Ronald Reagan 11.000 streikende Fluglotsen feuerte. Obwohl die Lotsen Massenunterstützung in der Bevölkerung fanden - im September 1981 demonstrierten 500.000 Arbeiter in Washington, DC - unternahm der AFL-CIO nichts, um die Wiedereinstellung der Streikenden zu erzwingen. Dieses Muster sollte sich während der achtziger und neunziger Jahre ständig wiederholen. Die Gewerkschaftsbürokratie, die eine militante Basis längst als Bedrohung ihrer eigenen privilegierten Stellung auffaßte, begrüßte die Niederlagen als Gelegenheit zur Vertiefung ihrer direkten Zusammenarbeit mit den Arbeitgebern. Ende der neunziger Jahre, nach einer ununterbrochenen Niederlagenserie in einer Branche nach der anderen, waren die Gewerkschaften keine Verteidigungsorganisationen der Arbeiterklasse mehr, zumindest nicht im annähernd eigentlichen Sinne des Wortes. Die Streikaktivität, bis Mitte der achtziger Jahre ein ständiges und explosives Merkmal des gesellschaftlichen Lebens in Amerika, fiel Jahr um Jahr auf neue Rekordtiefen. Lohnsenkungen und Massenentlassungen, die zuvor traditionell auf bitteren Widerstand gestoßen waren, wurden nun in der gesamten US-Industrie alltäglich.
Zwar war die amerikanische Arbeiterbewegung von gewissen historischen Schwächen gezeichnet, die sie für diesen Angriff besonders anfällig gemacht hatten - das Fehlen einer unabhängigen politischen Organisation, die Abwesenheit jeder nennenswerten sozialistischen Tendenz, das allgemein niedrige Niveau des Klassenbewußtseins und, last not least, das skandalöse Ausmaß der Korruption und Gangsterwirtschaft in der Gewerkschaftsbürokratie. Dennoch war der Zusammenbruch der Gewerkschaften in den Vereinigten Staaten Bestandteil eines breiteren internationalen Phänomens. Überall auf der Welt traten die alten politischen Parteien und Gewerkschaften der Arbeiterklasse von Mitte der achtziger Jahre an in das Endstadium ihrer Todeskrise ein. Welche objektive Ursache lag diesem weltweiten Fäulnisprozeß zugrunde?
Die Entstehung des transnationalen Konzerns
Die weltweiten Rezessionen der siebziger und frühen achtziger Jahre lösten eine tiefgreifende Veränderung in den grundlegenden Formen der kapitalistischen Produktion aus. Während der internationale Handel nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs immens zugenommen hatte, bewegte sich der Produktionsprozeß größtenteils noch im nationalen Rahmen. Multinationale Konzerne waren zwar in vielen Ländern aktiv, aber ihre einzelnen Produktionsstätten operierten auf nationaler Grundlage. So verfügten US-Konzerne wie Ford und General Motors über Betriebe in verschiedenen Ländern, aber diese Betriebe bauten Autos für den Markt an ihrem jeweiligen Standort. Revolutionäre Veränderungen im Transportwesen und der computergestützten Kommunikationstechnologie haben eine historische Veränderung der Organisation und Technik der kapitalistischen Produktion ermöglicht.
Die multinationale Form der Unternehmensorganisation wurde von der transnationalen abgelöst. Die wesentliche Bedeutung dieser Veränderung lag darin, daß es möglich geworden war, Produktion und Dienstleistung unmittelbar auf internationaler Grundlage zu organisieren und zu koordinieren. Aufgrund massiver täglicher Kapital- und Informationsbewegungen waren die transnationalen Konzerne erstmals in der Lage, global integrierte Produktionssysteme zu schaffen. Dies ermöglichte ihnen, an den Arbeitskräften in ihrem "nationalen Heimatland" vorbei regionale und kontinentale Unterschiede bei Löhnen und Sozialleistungen effektiv auszunutzen.
Keine der bestehenden Massenorganisationen der Arbeiterklasse war darauf vorbereitet oder dazu befähigt, effektiv auf die revolutionären Fortschritte der Technologie und deren weitreichende Folgen für die kapitalistische Produktionsweise zu reagieren. Unabhängig von ihren offiziellen Titeln und ihrer formalen politischen Zugehörigkeit - ob sie sich als Sozialisten, Kommunisten, Sozialdemokraten oder, wie in den USA, als loyale Anhänger des Kapitalismus und der Parteien des Großkapitals verstanden - stützten sich die alten Arbeiterorganisationen auf den Nationalstaat als unverrückbaren Rahmen der Produktion. Die Gewerkschaften hielten ihre eigene Stellung für unantastbar, da sie die Abhängigkeit der kapitalistischen Konzerne von den national direkt verfügbaren Arbeitskräften als unveränderliche Konstante voraussetzten. In dem Maße, in dem sie den Vorrat an Arbeitskräften im nationalen Rahmen kontrollierten, würden sie daher auf ewig ihre Fähigkeit beibehalten, den Unternehmern Zugeständnisse abzuringen. Die gesamte reformistische Ideologie der Arbeiterbewegung beruhte auf dieser selbstgerechten nationalistischen Perspektive.
Diese nationalreformistische Perspektive wiederum wurzelte in den materiellen Interessen der Bürokratie. Ihr Scheitern untergrub daher nicht im geringsten die Loyalität und Unterwürfigkeit der Bürokratie gegenüber dem Kapitalismus. Vielmehr widmete sich die Bürokratie mit aller Kraft dem Erhalt ihrer eigenen Privilegien innerhalb des Nationalstaats, indem sie sich bemühte, der Arbeiterklasse einen niedrigeren Lebensstandard aufzuzwingen.
Der Zusammenbruch der UdSSR
Der Zerfall der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und der Zusammenbruch der UdSSR waren lediglich die extremsten und explosivsten Ausdrucksformen des allgemeinen Scheiterns der alten bürokratischen und reformistischen Parteien der Arbeiterklasse. Natürlich stellte die Sowjetunion eine weitaus größere historische Errungenschaft der internationalen Arbeiterklasse dar, als die Gewerkschaften Westeuropas und der Vereinigten Staaten. Die KPdSU verfügte über die Staatsmacht und regierte auf der Grundlage der verstaatlichten Eigentumsverhältnisse, die infolge der Oktoberrevolution von 1917 geschaffen worden waren. Doch trotz dieses bedeutenden Unterschieds entsprachen Programm und Ideologie der herrschenden stalinistischen Bürokratie - die der Arbeiterklasse bereits seit geraumer Zeit die politische Macht entrissen und die gesamte Generation von Marxisten aus der Führung der sozialistischen Revolution vernichtet hatte - in beiden grundlegenden Aspekten jenen der Arbeiterbürokratien in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern.
Zum ersten war die offizielle sowjetische Doktrin der "friedlichen Koexistenz" die Kreml-Version der Klassenzusammenarbeit, wie sie die Arbeiterbürokratien im Westen praktizierten. Ungeachtet der hysterischen Propaganda der amerikanischen Medien spielte der Marxismus in der Politik der stalinistischen Führer der UdSSR keinerlei Rolle. Schon auf den bloßen Gedanken an revolutionäre Aufstände - sei es innerhalb oder außerhalb der Grenzen der UdSSR - reagierte der typische Sowjetbürokrat mit einer Mischung aus persönlicher Angst und politischem Abscheu. Der Herzenswunsch der stalinistischen Führer bestand darin, in Ruhe des Luxus zu frönen, zu dem sie ihr Rang in der Bürokratie berechtigte. Nicht den Sturz des Weltimperialismus, sondern ein Arrangement mit ihm strebten sie an.
Zum zweiten stellte die von der Bürokratie betriebene Wirtschafts- und Sozialpolitik eine spezielle Version des Nationalismus dar, den auch ihre reformistischen Gegenstücke im Westen praktizierten. Der sogenannte "Sozialismus", den das Kreml-Regime vor sich hertrug, stützte sich hauptsächlich auf die Ressourcen innerhalb der UdSSR. Die stalinistische Bürokratie setzte sich kein höheres Ziel, als eine sowjetische Version des nationalen Wohlfahrtsstaats. Der grundlegende Fehler dieses Programms lag darin, daß die Entwicklung der sowjetischen Wirtschaft in letzter Hinsicht von den Ressourcen der Weltwirtschaft und der internationalen Arbeitsteilung abhing. Es war nicht möglich, auf der Grundlage der nationalen Selbstversorgung einen tragfähigen Sozialstaat zu schaffen, von einer entwickelten sozialistischen Gesellschaft ganz zu schweigen. Die Einführung der global integrierten Produktion vergrößerte die Kluft zwischen den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern und der Sowjetunion. Dabei handelte es sich nicht um ein bloß technologisches Problem: das stalinistische System ließ einfach keinen Raum für transnationale Produktionsformen. Selbst die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der UdSSR und den stalinistischen Regimen Osteuropas kamen nicht über ein äußerst primitives Niveau hinaus. Als Michail Gorbatschow 1985 die Regierung übernahm, verfügte er über keine bessere Antwort auf die Herausforderung, die mit der Globalisierung der kapitalistischen Produktion entstanden war, als seine Gegenstücke in den Bürokratien der amerikanischen und westeuropäischen Arbeiterbewegung. Seine verzweifelten Versuche, den immer ausgeprägteren gesellschaftlichen und politischen Problemen mit improvisierten Lösungen beizukommen, scheiterten allesamt. Das katastrophale stalinistische Experiment mit dem "Sozialismus in einem Land" - von Anfang an eine Zurückweisung der Prinzipien des sozialistischen Internationalismus, auf denen die Oktoberrevolution beruht hatte - fand mit der Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 seinen fatalen Abschluß.
Eine Krise der Führung und der Perspektiven
Man kann die gegenwärtige politische Fehlorientierung der Arbeiterklasse viel besser verstehen, wenn man sie im Zusammenhang mit den weltweiten wirtschaftlichen Umwälzungen, politischen Katastrophen und organisatorischen Fiaskos der vergangenen zwei Jahrzehnte sieht. Man stelle sich eine Armee von Soldaten vor, die auf allen Seiten von mächtigen Feinden umringt ist. Inmitten des Kampfes sind ihre Anführer samt Waffen und Nachschub desertiert. In einer solchen Lage befindet sich die Arbeiterklasse. Von den Parteien und Organisationen, die sie unterstützte und auf die sie sich verlassen hatte, ist sie verraten worden. Kompliziert wird die Angelegenheit dadurch, daß die Nichtsnutzigkeit der alten Organisationen und Führer nicht nur auf subjektive Fehler und persönliche Korruption zurückzuführen ist, sondern durch objektive ökonomische Prozesse bedingt ist, die sowohl die Produktionsweise als auch die Klassenbeziehungen stark verändert haben. Was die Arbeiterklasse daher braucht, ist nicht ein bloßes Auswechseln der Köpfe in den alten Organisationen - oder vielmehr in deren Überresten. Die todgeweihten und reaktionären bürokratischen Gewerkschaftsorganisationen und Parteien der Vergangenheit können nicht wieder wachgeküßt werden. Je früher sie beiseite geworfen werden, desto besser. Was die Arbeiterklasse jetzt braucht, ist eine neue, revolutionäre internationale Organisation, deren Strategie, Perspektiven und Programm den objektiven Tendenzen der Weltwirtschaft und der historischen Entwicklung entspricht.
Es gibt, wie wir sehr wohl wissen, natürlich Legionen von Pessimisten, die fest davon überzeugt sind, daß der Aufbau einer solchen internationalen revolutionären Bewegung vollkommen ausgeschlossen ist. Es fällt auf, daß die unverbesserlichsten dieser Pessimisten gerade unter jenen Kreisen zu finden sind, die vor nicht allzu langer Zeit uneingeschränktes Vertrauen in die Gewerkschaften setzten und treu an die Unerschütterlichkeit der Sowjetunion glaubten. Gestern waren sie davon überzeugt, daß der bürokratisch verwaltete Reformismus ewig währen werde. Heute glauben sie mit nicht weniger Hingabe an den ewigen Triumph der kapitalistischen Reaktion. Hinter dem flatterhaften Optimismus von gestern und dem demoralisierten Pessimismus von heute steht geistige und politische Oberflächlichkeit. Ihre Träger zeichnen sich dadurch aus, daß sie weder fähig noch willens sind, die Ereignisse in ihrem gegebenen historischen Rahmen zu untersuchen, und über die Widersprüche hinwegsehen, die hinter der höchst irreführenden äußeren Stabilität der Gesellschaft am Werk sind. Weitere Eigenschaften - insbesondere bei jenen, die ihr Gehalt aus Universitätskassen beziehen - tragen verschlimmernd zu diesen Schwächen bei, namentlich ein gewisser Mangel an persönlichem Mut, Integrität und schlichter Ehrlichkeit.
Zuversicht hinsichtlich der revolutionären Rolle der Arbeiterklasse und der objektiven Möglichkeit des Sozialismus ist keine Glaubensfrage, sondern stützt sich auf theoretische Einsicht in die objektiven Gesetze der kapitalistischen Entwicklung und auf die Kenntnis der Geschichte, insbesondere jener des zwanzigsten Jahrhunderts. Es hat in den vergangenen 99 ½ Jahren nicht an revolutionären Kämpfen der Arbeiterklasse gemangelt - in Rußland, Deutschland, Spanien, Portugal, Griechenland, China, Chile, Argentinien, Vietnam, Ungarn, Österreich, Südafrika, Ceylon und durchaus auch Amerika. Diese kurze Liste ist alles andere als vollständig.
Worin besteht also an der Wende zum 21. Jahrhundert die Grundlage für ein Wiederaufleben revolutionärer Kämpfe der Arbeiterklasse? Paradoxerweise haben dieselben Veränderungen in den objektiven Prozessen des Weltkapitalismus, die zur Desorientierung und Schwächung der Arbeiterklasse während der vergangenen zwei Jahrzehnte beitrugen, auch die Grundlage für eine Erneuerung des Klassenkampfs gelegt, und zwar auf weitaus breiterer Grundlage, als er früher möglich gewesen war. Die Hauptschwäche der früheren Formen des Klassenkampfs lag in ihrer nationalen Begrenztheit. Selbst wenn die internationale Einheit des Proletariats proklamiert und gefeiert wurde, wirkten die objektiven Umstände der Entwicklung des Klassenkampfs zu einem vereinigten internationalen Prozeß entgegen. Doch die global integrierte Produktion bietet die Möglichkeit, diese Begrenztheit zu überwinden. Diese Weiterentwicklung des Kapitalismus stellt die Arbeiterklasse nicht nur vor die objektive Notwendigkeit, ihre Kämpfe auf internationaler Grundlage zu führen; die ökonomischen Umwälzungen haben auch die objektiven Mittel hervorgebracht, um diese internationale Einheit zu schmieden. Erstens haben die Tätigkeit der transnationalen Konzerne und die Beweglichkeit des globalen Kapitals die Arbeiterklasse auf internationaler Ebene enorm anwachsen lassen. In Ländern und Regionen, wo es noch vor 30 Jahren kaum eine Arbeiterklasse gab, ist das Proletariat mittlerweile zu einer Massenkraft geworden. Das Proletariat Ostasiens, das vor einer Generation nur einen Bruchteil der Bevölkerung ausmachte, zählt jetzt nach Dutzenden von Millionen. Zweitens wird die Kommunikationstechnologie, die der transnationalen Produktion zugrunde liegt, die Koordination des Klassenkampfs auf globaler Ebene - in den Bereichen Strategie und Logistik - unbedingt erleichtern.
Internationalismus und Nationalismus
Die Hindernisse, die der Globalisierung des Klassenkampfs und der internationalen Vereinigung der Arbeiterklasse entgegenstehen, sind weniger technischer, als politischer und ideologischer Natur. Die anhaltende Krise der internationalen Arbeiterbewegung hat im Aufschwung des Nationalismus ihren wohl reaktionärsten politischen Niederschlag gefunden. Der Verlust an politischem Vertrauen in die revolutionären Fähigkeiten der Arbeiterklasse und in die Aussichten auf eine sozialistische Revolution haben zum Wiederaufleben nationalistischer Programme und Ideologien beigetragen. In vielen Fällen verbarg sich der historisch rückschrittliche Charakter dieser Tendenz hinter pseudolinker Demagogie über "nationale Selbstbestimmung" und "nationale Befreiung". Im Zuge ihres Ausweichens vor dem schwierigen Kampf gegen alle Formen des Chauvinismus - auf sprachlicher, religiöser oder ethnischer Grundlage - und für den Zusammenschluß aller Arbeiter in Ländern mit heterogener Bevölkerungsstruktur sind unzählige kleinbürgerliche Tendenzen auf die eine oder andere nationale Gruppe verfallen. Der zynische und weitgehend unwissende Gebrauch eines marxistischen Jargons ändert nichts an der Tatsache, daß der wesentliche Inhalt ihrer Politik darin besteht, die nationale oder ethnische Identität über dem Klassenbewußtsein anzusiedeln und davon ausgehend die objektiven Interessen der Arbeiterklasse den politischen und finanziellen Interessen der nationalen Bourgeoisie und Kleinbourgeoisie unterzuordnen.
Manches deutet darauf hin, daß die nationalistische Welle bereits ihren Zenit erreicht hat. Die Ereignisse in Jugoslawien müssen unbedingt dazu beitragen, das Prestige des Nationalismus und die politische Glaubwürdigkeit der Forderung nach Selbstbestimmung zu untergraben. Die Schrecken der nationalistischen Bruderkriege auf dem Balkan haben die reaktionären Implikationen des Nationalismus entlarvt. Was ist durch die Auflösung Jugoslawiens erreicht worden? Die finsteren Machenschaften Milosevics in Serbien, Tudjmans in Kroatiens, Kucans in Slowenien und Izetbegovics in Bosnien haben Zehntausende das Leben gekostet. Wofür? Das gesamte ökonomische und kulturelle Niveau des Balkan ist stark gesenkt worden. Das "unabhängige" Bosnien ist ein erbärmliches imperialistisches Protektorat. Das "unabhängige" Kroatien lebt von den Krumen, die ihm von den Imperialisten zugestanden werden. Serbien ist in Schutt und Asche gelegt worden. Und der Kosovo wurde in mehrere Besatzungszonen aufgeteilt. Seiner "nationalen Befreiungsbewegung", der UCK, steht bestenfalls eine Zukunft als Polizeitruppe im Dienst der Vereinigten Staaten bevor. Alle nationalen und religiösen Gruppen sind Opfer der Bürgerkriege geworden. Die Ereignisse, die mit der Auflösung Jugoslawiens einhergingen, sind ein einziges bitteres Urteil über den Nationalismus.
Die jugoslawische Erfahrung hat noch einen anderen Aspekt, aus dem die internationale Arbeiterklasse bestimmte Lehren ziehen muß. Die Einseitigkeit des militärischen Konflikts wird den Mythos untergraben, der einst die Perspektive der nationalen Befreiungskriege umgab - daß nämlich die Niederlage des Imperialismus in erster Linie durch militärische Konflikte, und weniger mit den Methoden der sozialistischen Weltrevolution herbeigeführt werden müsse. Kleinbürgerlich-radikale Romantiker berauschten sich einst an Guevaras Ausspruch über "ein, zwei, viele Vietnams". Diese Selbsttäuschung entpuppt sich heute als "ein, zwei, viele Iraks". Und wie steht es um Vietnam? Die vietnamesischen Massen konnten trotz ihrer heroischen Opfer in den mehr als 30 Jahre dauernden nationalen Befreiungskriegen die imperialistische Vorherrschaft nicht abschütteln. Beinahe 25 Jahre nach der Einnahme Saigons kann der IWF mehr Einfluß auf die Politik Hanois ausüben, als jemals Nixon und Kissinger mit den amerikanischen B-52-Bombern.
So lange der Imperialismus fortbesteht, werden unterdrückte Nationen bewaffnete Kämpfe führen. Aber die grundlegende und ausschlaggebende Form des Kampfes gegen den Imperialismus ist der revolutionäre politische Kampf der Arbeiterklasse. In diesem Rahmen ist die Betonung der immensen historischen Bedeutung des Klassenkampfs in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern - vor allem in den Vereinigten Staaten - nicht Ausdruck von Arroganz oder Herablassung gegenüber den Arbeitern und unterdrückten Massen in weniger entwickelten Ländern. Sie ergibt sich vielmehr aus einer realistischen Bewertung des internationalen Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen und aus einem Verständnis der explosiven sozialen Gegensätze innerhalb der imperialistischen Zentren. Wer die Möglichkeit einer sozialistischen Revolution in den USA leugnet, bestreitet nicht nur die Möglichkeit zur praktischen Verwirklichung des Sozialismus auch an jedem anderen Ort, sondern läßt zugleich jede Hoffnung auf eine Zukunft für die Menschheit fahren. So komplex das Zusammenwirken der weltweiten Kämpfe sich auch gestaltet und so unvorhersehbar der tatsächliche Ablauf der Ereignisse sein mag, fest steht, daß ihr Ergebnis letztendlich entscheidend von der Entwicklung des Klassenkampfs in den Vereinigten Staaten abhängen wird.
Vorerst läßt sich nicht bestreiten, daß das Niveau des politischen Bewußtseins der amerikanischen Arbeiterklasse sehr niedrig ist. Dennoch sollte man vermerken, daß sich dieser Mangel nicht auf die Arbeiter beschränkt. Das Bewußtsein wird durch Ereignisse beeinflußt - nicht nur zum Schlimmeren, sondern auch zum Besseren. Die Widersprüche unter der Oberfläche der amerikanischen Gesellschaft werden zu tiefgreifenden und für manchen überraschenden Veränderungen des Massenbewußtseins führen. Nirgendwo steht geschrieben, daß die sozialen Spannungen, die sich tief in die Struktur der amerikanischen Klassenbeziehungen eingegraben haben, nur in so tragischen und irrwitzigen Formen zum Ausbruch kommen können, wie die Schießerei an der Columbine High School. Diese Spannungen können und werden humanere, demokratischere und revolutionäre Ausdrucksformen finden.
Die Rolle des World Socialist Web Site
Die Entstehung der global integrierten Produktion hat, wie oben dargelegt, nicht nur die objektiven Voraussetzungen, sondern auch die Mittel für die internationale politische Vereinigung der Arbeiterklasse hervorgebracht. Die großen Fortschritte der rechnergestützten Kommunikationstechnologie - vor allem die Schaffung des World Wide Web - hat sehr weitreichende historische Implikationen für die Entwicklung des Klassenkampfs. In einer Weise und mit einer Geschwindigkeit, wie man sie sich zu Beginn dieses Jahrzehnts noch kaum hätte vorstellen können, sind die unzähligen Hindernisse, die einem Meinungsaustausch zwischen sozialistischen und progressiven politischen Tendenzen unter Intellektuellen, Studenten und Arbeitern im Wege standen, beiseite geräumt worden. Das Monopol der kapitalistischen Medien über die Informationsverbreitung ist stark geschwächt worden. Es ist jetzt möglich ein Massenpublikum zu erreichen. Der Jugoslawienkrieg enthüllte das enorme Potential und die politische Bedeutung des Internet. Selbst nachdem die jugoslawischen Fernsehsender bombardiert worden waren, erreichten Informationen über die Auswirkungen der NATO-Angriffe per Internet noch ein internationales Publikum. Viele entscheidende Einzelinformationen, wie etwa der geheime Annex des Rambouillet-Abkommens, wurden einem internationalen Publikum dank dieser bemerkenswerten Kommunikationstechnologie zugänglich.
Im Februar 1998 gründete das Internationale Komitee der Vierten Internationale das World Socialist Web Site (www.wsws.org). Wir erkannten, daß wir mit dieser Technologie einem breiten internationalen Publikum auf täglicher Basis eine marxistische Analyse der Weltereignisse vermitteln konnten. Wir waren überzeugt, daß das WSWS eine entscheidende Rolle spielen könne, um das zu entwickeln, was nunmehr seit Jahrzehnten fehlt - eine wirklich internationale marxistische politische Kultur. Gefragt waren unserer Ansicht nach nicht eingängige Parolen und ein platter Jargon, sondern eine ernsthafte Analyse der Ereignisse. Die lange Geschichte unserer Tendenz - deren Ursprünge bis zum Kampf Leo Trotzkis gegen die stalinistische Perversion des Marxismus und den Verrat an der Oktoberrevolution zurückreichen - bot die notwendige intellektuelle Substanz für tägliche Stellungnahmen. Im Vertrauen auf die Stärke unserer Ideen lag uns viel an der Entwicklung eines Dialogs mit unseren Lesern, der eine große Bandbreite von Standpunkten aufweisen sollte. Wir sind weiterhin davon überzeugt, daß eine solche Diskussion es den Sozialisten in aller Welt erleichtern wird, sich um ein wahrhaft internationalistisches revolutionäres Programm zu sammeln.
Die Erfahrungen des vergangenen Jahres haben Tausenden von Lesern in Dutzenden Ländern vor Augen geführt, wie wichtig die Arbeit des World Socialist Web Site ist. Nach dem Krieg gegen Jugoslawien wird das Bedürfnis nach politischer Diskussion und theoretischer Klarheit noch stärker und dringlicher werden. Die Redaktion des WSWS ruft seine Leser auf, sich an dieser Diskussion zu beteiligen und alles in ihren Kräften Stehende zu tun, um den Einfluß des World Socialist Web Site auszudehnen und so die Grundlagen zu schaffen, auf denen die Weltpartei der sozialistischen Revolution wachsen kann.
Anmerkungen
(1) "Nations, State and War", in the South Slav Conflict, edited by Raju G.C. Thomas and H. Richard Friman(New York and London : 1996), p. 225
(2) New York Times, 28. März 1999
(3) The Future of War : Power, Technology & American World Dominance in the 21st Century"
(New York : Crown Publishers, 1996), p. ix
(4) Ibid., p. x
(5) Ibid,. p. 1
(6) Ibid., p. 4
(7) New York Times, 6. Juni 1999