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NATO will Kosovo-Lösung mit Gewalt erzwingen

Von Justus Leicht und Peter Schwarz
4. Februar 1999

Am Wochenende hat die Balkan-Kontaktgruppe (USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien und Rußland) den Konfliktparteien der Kosovo-Krise ein Ultimatum gesetzt. Am 6. Februar sollen in Rambouillet bei Paris Verhandlungen beginnen, spätestens am 20. Februar eine Einigung über eine Übergangslösung erreicht sein.

Fügen sich die Konfliktparteien nicht freiwillig, droht ihnen die NATO mit Gewalt. Sie hat ihren Generalsekretär Solana formell ermächtigt, kurzfristig Luftangriffe auf Ziele in Jugoslawien anzuordnen. Dafür stehen in Italien und in der Adria rund 200 Flugzeuge bereit. Nach Aussage eines ranghohen Diplomaten in Brüssel hat nunmehr kein Staat mehr ein Vetorecht gegen mögliche Angriffe: "Solana trifft die Entscheidung."

Die Gefahr einer militärischen Intervention auf dem Balkan ist damit wieder in greifbare Nähe gerückt. Die NATO hat sich mit ihrem Ultimatum selbst in Zugzwang gebracht. Kommen die Verhandlungen nicht zustande oder scheitern sie, kann sie kaum mehr einen Rückzug machen, ohne vollständig das Gesicht zu verlieren.

Bisher hat sich nur der gemäßigte Albaner-Führer Rugova eindeutig für eine Teilnahme an den Verhandlungen ausgesprochen. Von der Untergrundarmee UCK kommen widersprüchliche Signale. Während sich ihr politischer Vertreter, Adem Demaci, gegen eine Teilnahme aussprach, verkündete ein anderer Sprecher, Jakup Krasniqi, am Dienstag, sie werde teilnehmen. Über die Haltung Belgrads will erst am Donnerstag das serbische Parlament entscheiden.

In der Presse zirkulieren inzwischen zahlreiche Spekulationen, daß dem jugoslawischen Präsidenten Milosevic eine militärische Intervention der NATO nicht ungelegen käme. Er könnte dann, schreibt etwa die Neue Zürcher Zeitung unter Berufung auf Belgrader Quellen, eine Niederlage "vor dem nationalistisch aufgepeitschten serbischen Publikum wieder einmal als Machination ausländischer Mächte und inländischer Verräter ausgeben". Und die Frankfurter Rundschau kommentiert: "Jugoslawiens Präsident Slobodan Milosevic kann Kosovo nicht ,ohne Grund‘ aufgeben. Er ,braucht‘ eine Nato-Intervention, um unabwendbare Konzessionen gegenüber den Albanern seinem Volk ,verkaufen‘ zu können. Die Nato-Drohung kommt Milosevic auch sonst ganz gelegen. Sie hilft ihm, sein autoritäres Regime weiter zu festigen. Das Volk darbt, doch wenn Gefahr von ,außen‘ droht, wagt niemand aufzumucken."

Die Grundzüge der von der Kontaktgruppe angestrebten Lösung der Kosovo-Krise stehen bereits fest. Sie basieren auf den Vorschlägen, die der amerikanische Diplomat Christopher Hill im September letzten Jahres ausgearbeitet hat und auf denen bereits das inzwischen gescheiterte Holbrooke-Milosevic-Abkommen vom 12. Oktober fußte.

Der Kosovo soll innerhalb der bestehenden politischen Grenzen eine weitgehende Autonomie erhalten. Dafür sollen entsprechende politische Strukturen wie Parlament, Regierung, Gerichtsbarkeit und Polizei geschaffen und die Kompetenzen der örtlichen Behörden stark erweitert werden. Nach einer dreijährigen Übergangszeit soll dann endgültig über den Statuts der Region entschieden werden. Eine Unabhängigkeit des Kosovo wird dabei aber von vornherein ausgeschlossen.

Die Kontaktgruppe schließt Verhandlungen über diese von ihr festgelegten Grundsätze ausdrücklich aus. Die Konfliktparteien - sollten sie tatsächlich in Rambouillet erscheinen - werden also nur noch darüber entscheiden können, in welcher Form sie eine ihnen aufgezwungene Lösung umsetzen.

Die Mitglieder der Kontaktgruppe gehen deshalb schon jetzt davon aus, daß ein Abkommen, selbst wenn es von allen Konfliktparteien unterzeichnet wird, nur durch die Stationierung von Truppen auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinaus verwirklicht werden kann. Die Rede ist von 30.000 bis 40.000 Soldaten.

Die Vorbereitungen zur Aufstellung einer solchen Truppe sind bereits in vollem Gange. Neben Großbritannien und Frankreich will sich auf alle Fälle auch Deutschland daran beteiligen. Ob auch die USA in Kontingent schicken, ist noch unklar. Presseberichte, sie wollten 5000 Soldaten bereitstellen, wurden von Vizepräsident Gore umgehend dementiert.

In der Praxis läuft der Vorschlag der Kontaktgruppe darauf hinaus, ein Protektorat über den Kosovo zu errichten. Formal bliebe die Region Bestandteil des serbischen Staates, faktisch läge die Macht in den Händen der NATO. Auch die geplanten Autonomiebehörden würden lediglich eine demokratische Alibifunktion erfüllen, würden doch alle wichtigen Entscheidungen von den Besatzungstruppen getroffen oder unterlägen deren Veto.

Daß eine solche Regelung keine Grundlage für einen Frieden schafft, zeigt nicht nur die lange und leidvolle Geschichte des Balkans, in der Protektorate der Großmächte immer wieder zum Zankapfel zwischen den Nationalitäten und zum Anlaß für blutige Kriege wurden. Es wird auch anhand des Dayton-Abkommens für Bosnien deutlich, das als Vorbild für die geplante "Lösung" im Kosovo gilt.

In Dayton wurde die Aufteilung Bosniens in drei ethnische Enklaven festgeschrieben und durch die Entsendung von über 30.000 NATO-Soldaten zementiert. Dem zerstörten Land ist nichts geblieben außer Verbitterung, Armut und ständiger Bevormundung durch die westlichen "Friedensstifter". Während die meisten Menschen weder Arbeit noch Einkommen haben, machen Schwarzhändler, Kriegsgewinnler und andere kriminelle Elemente blühende Geschäfte und geben politisch den Ton an. Wie die Wahlen in Bosnien letztes Jahres gezeigt haben, haben sich die nationalistischen Spannungen durch den Dayton-"Frieden" nicht im geringsten vermindert. Wahlsieger waren in allen drei Enklaven nationalistische Hardliner.

Das geplante Abkommen für den Kosovo, oft als "Dayton II" bezeichnet, ist in vieler Hinsicht noch schlimmer.

Erstens richten sich die Bombendrohungen der NATO gegen das Territorium eines Landes, Serbien, das bisher vom Bürgerkrieg weitgehend verschont blieb. Leidtragende wäre - wie im Irak - die Zivilbevölkerung, die bisher schon die Hauptlast der gegen Serbien verhängten Wirtschaftssanktionen zu tragen hatte.

Zweitens sollen im Kosovo zwei Gegner in Schach gehalten werden, deren Standpunkte von vornherein unversöhnlich sind. Während die serbische Regierung aus innenpolitischen Gründen nicht bereit ist, die Kontrolle über den Kosovo aufzugeben, hält die Untergrundarmee UCK am Ziel eines unabhängigen Staates fest und beurteilt jede Übergangsregelung nur danach, ob sie ihr taktische Vorteile bei der Verfolgung dieses Ziels verschafft.

Auf die Frage, was geschehen soll, wenn sich die UCK einem Abkommen widersetzt, hat die Kontaktgruppe bisher keine Antwort. Als Guerillabewegung, geübt in terroristischen Anschlägen, ist sie viel schwerer in Schach zu halten, als eine reguläre Armee. Durch Luftangriffe ist ihr nicht beizukommen, und der Einsatz von Bodentruppen wäre mit hohen Risiken verbunden. Hinzu kommt, daß jeder Angriff der NATO auf serbische Stellungen zwangsläufig der UCK-Guerilla zugute kommt - eine Auswirkung, die gerade nicht erwünscht ist. Die UCK hat schon in der Vergangenheit jeden Teilabzug serbischer Truppen sofort ausgenutzt, um einen großen Teil der ländlichen Gebiete des Kosovo zu besetzen, die sie mittlerweile kontrolliert.

Drittens enthält der Hill-Plan zahlreiche Regelungen, die die nationalistischen Spannungen im Kosovo, wo Serben etwa zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen, weiter anheizen werden. So soll ein Teil des Parlaments nach Volksgruppen gebildet werden, bei der Gesetzgebung hätten die Serben praktisch ein Vetorecht - eine unendliche Quelle für nationalistische Konflikte. Die Polizei soll völlig dezentralisiert werden und "der ethnischen Zusammensetzung der örtlichen Bevölkerung" entsprechen. In Gemeinden mit albanischer Bevölkerungsmehrheit wäre auch die Polizei mehrheitlich albanisch und umgekehrt. Das ist geradezu eine Aufforderung, durch Schikanen, Terror und Vertreibung "Fakten zu schaffen".

Das Ultimatum der NATO ist also kein Schritt zum Frieden, sondern setzt nahezu zwangsläufig eine weitere militärische Eskalation in Gang, die leicht zu Kampfeinsätzen von Bodentruppen führen kann. Bemerkenswert ist, daß dieser Kurs von Parteien durchgesetzt wird, die bis vor kurzem dem Einsatz militärischer Gewalt eher zurückhaltend oder offen ablehnend gegenüberstanden. In allen vier westeuropäischen Mitgliedsländern der Kontaktgruppe stehen inzwischen Sozialdemokraten an der Spitze der Regierung.

Vor allem in Deutschland haben SPD und Grüne, seit nunmehr 100 Tagen in Bonn an der Macht, noch vor wenigen Jahren Einsätze der Bundeswehr außerhalb des NATO-Territoriums kategorisch abgelehnt. Bis heute lautet der offizielle Standpunkt der Grünen, daß solche Einsätze nur unter äußersten Vorbehalten und mit Zustimmung der UNO zulässig sind.

Das hat den grünen Außenminister Fischer allerdings nicht daran gehindert, sich für das Ultimatum der NATO stark zu machen - obwohl es von der UNO nicht unterstützt wird und Rußland es ausdrücklich ablehnt. Der Vorschlag der Kontaktgruppe, hat Fischer immer wieder öffentlich betont, könne nur funktionieren, wenn "eine glaubhafte militärische Drohung der NATO" vorliege. "Glaubhaft" ist aber eine militärische Drohung nur dann, wenn tatsächlich die Bereitschaft vorhanden ist, sie zu verwirklichen.

Der atemberaubende Kurswechsel, den die Grünen und - in geringerem Maße - auch die SPD in den letzten Jahren vollzogen haben, war eng mit den Ereignissen auf dem Balkan verbunden. Beide Parteien hatten Anfang der neunziger Jahre die Aufspaltung Jugoslawiens im Namen des "Rechts auf nationale Selbstbestimmung" unterstützt. Sie folgten darin der Kohl-Regierung, die mit der vorschnellen Anerkennung Kroatiens und Sloweniens vollendete Fakten schuf, obwohl damals zahlreiche Stimmen vor einem nationalistischen Blutbad warnten.

Als dann die Folgen mit dem Bürgerkrieg in Kroatien und Bosnien deutlich wurden, gaben SPD und Grüne ihren Widerstand gegen Bundeswehreinsätze sukzessive auf. Logistische Unterstützung, aber keine Truppen im Konfliktgebiet; friedenssichernde, aber keine friedenserzwingende Maßnahmen; nur mit UN-Mandat - lauteten die Formeln, um die von Parteitag zu Parteitag gestritten und mit denen der Kurswechsel vollzogen wurde.

Es ist eine Ironie der Geschichte, daß mit Joschka Fischer nun ausgerechnet ein Außenminister der Grünen, bei deren Entstehung der Pazifismus eine ebenso wichtige Rolle gespielt hat wie der Umweltschutz, den voraussichtlich ersten Kampfeinsatz der Bundeswehr seit ihrer Entstehung in die Wege leitet.

Inzwischen ist von irgendwelchen grundsätzlichen Überlegungen - selbst vom "Recht auf Selbstbestimmung", so unangebracht dies im gegebenen Fall ist - keine Rede mehr. Statt dessen geht es nur noch darum, mit militärischer Gewalt über die Köpfe der Betroffenen hinweg Ruhe zu schaffen. Es liegt aber in der Natur jeden Diktatfriedens, daß er über die bestehenden sozialen Verhältnisse und Probleme hinwegtrampelt und jedes demokratische Prinzip mit Füßen tritt.

Die Verwandlung von SPD und Grünen aus Pazifisten in Militaristen muß - unabhängig von den aktuellen Ereignissen im Kosovo - noch in einem umfassenderen Zusammenhang gesehen werden.

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der deutschen Wiedervereinigung arbeiten ranghohe Militärs und Politiker intensiv am Umbau der Bundeswehr. Aus einer Wehrpflichtigenarmee, deren vorrangige Aufgabe die Verteidigung des eigenen Territoriums ist, verwandelt sie sich in eine hochspezialisierte Berufsarmee, die zu weltweiten Einsätzen fähig ist. In der Öffentlichkeit wird diese Verwandlung kaum diskutiert, aus Angst vor politischem Widerstand. Statt dessen werden - gestützt auf Ereignisse wie in Bosnien und im Kosovo - vollendete Fakten geschaffen.

Ihre zukünftige Funktion soll die Bundeswehr vorrangig im europäischen Rahmen erfüllen. Mit der Einführung des Euro, mit dem Europa den USA wirtschaftlich Paroli bieten will, wird auch der Ruf immer lauter, es ihnen militärisch gleichzutun.

Typisch sind in diesem Zusammenhang die Äußerungen des SPD-Politiker Karsten Voigt, der soeben zum Regierungskoordinator für die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit ernannt worden ist. Er warnte vor der "Illusion" der Amerikaner, "daß sie ihre Interessen auch in nationalen Alleingängen verfolgen könnten". Washington müsse erkennen, daß ein "selbstbewußtes Deutschland in Europa eingebettet" bleibe. "Die USA können nicht automatisch mit unserer Zustimmung rechnen, wenn sie ohne Konsultationen einseitig Aktionen starten."

Der Kosovo dient als Testfeld für eine eigenständigere europäische Außenpolitik. Im Gegensatz zu Dayton, das erst nach langen vergeblichen Bemühungen der Europäer auf amerikanische Initiative zustande kam, haben die Europäer im Kosovo selbst die Initiative ergriffen. In Rambouillet führen der französische und der britische Außenminister Regie, während sich Deutschland aus "pragmatischen" Gründen noch im Hintergrund hält. Man wolle, wie Verteidigungsminister Scharping in einem Interview erklärte, "einer denkbaren serbischen Propaganda keinen billigen Vorwand liefern". Die Erinnerungen an deutsche Greueltaten während des Zweiten Weltkriegs sind in Serbien noch zu frisch.

Siehe auch:
Krise im Kosovo spitzt sich zu
NATO droht mit Luftangriffen gegen Serbien

(26. Januar 1999)