Kosovo
NATO-General gab Befehl für Angriff auf russische Truppen
Von Gerry White
10. August 1999
aus dem Amerikanischen (4. August 1999)
Berichten zufolge gab im Juni, am Ende der Bombardierung Jugoslawiens, der Oberbefehlshaber der NATO, General Wesley Clark, britischen und französischen Truppen den Befehl, russische Truppen militärisch daran zu hindern, die Kontrolle über den Flughafen von Pristina zu übernehmen. Dem Befehl des US-Generals widersetzte sich jedoch der britische Oberkommandierende der NATO-Bodentruppen (KFOR), der Clark später sagte, er wolle keinen Dritten Weltkrieg durch eine Konfrontation mit den Russen riskieren.
Der Streit wurde letzten Montag in der Zeitschrift Newsweek enthüllt, weniger als eine Woche nachdem Clark mitgeteilt worden war, daß er im nächsten Frühjahr vom Dienst suspendiert werde. Als Grund für seine frühzeitige Pensionierung gelten ständige Auseinandersetzungen mit militärischen und zivilen Führungsstellen in Washington und Europa über das Vorgehen im elfwöchigen Luftkrieg.
Im Artikel der Newsweek heißt es: "Am Ende des Krieges war Clark so versessen darauf, die Russen vom Flughafen von Pristina fernzuhalten, daß er Luftangriffe anordnete, um ihnen das Gebiet abzunehmen. General Michael Jackson, der britische Befehlshaber der Kosovo-Friedenstruppe, führte Clarks Befehle jedoch nicht aus. Daraufhin ersuchte ein frustrierter Clark Admiral James Ellis Jr., den amerikanischen Offizier, der für das NATO-Kommando Süd verantwortlich war, Hubschrauber auf den Landebahnen landen zu lassen, um die großen russischen Iljuschin-Transporter an ihrer Nutzung zu hindern. Ellis weigerte sich und meinte, Jackson wäre damit nicht einverstanden. Ich werde für Sie nicht den Dritten Weltkrieg anfangen, sagte Jackson später zu Clark. Jackson wie Clark riefen ihre politische Führung zu Hause an. Jackson erhielt Unterstützung, Clark nicht. Praktisch wurden seine Befehle als oberster Befehlshaber übergangen."
Der britischen Nachrichtenagentur ITN zufolge waren bereits amerikanische Hubschrauber und britische und französische Truppen in Mazedonien für den Angriff zusammengezogen worden. Ohne Jacksons Weigerung hätten sie Clarks Befehle ausgeführt.
Eine militärische Quelle sagte der Washington Times, daß, nachdem die Russen den Flughafen erreicht hatten, General Clark dem KFOR-Kommandeur nochmals den Befehl gab, Panzer und Kampffahrzeuge dorthin zu schicken, um weitere russische Truppenstationierungen zu verhindern. Die Quelle gab an, General Jackson habe keine britischen Panzerfahrzeuge einsetzen wollen, nachdem die politische Führung in London davor zurückgeschreckt sei, Panzer so dicht an bewaffnete russische Mannschaftstransporter heranzubringen.
Etwa zwölf Tage später, am 24. Juni, kam Clark von seinem Hauptquartier in Belgien in den Kosovo, angeblich um die Stationierung der KFOR-Truppen zu überwachen. Der britischen Sunday Times zufolge beschwerte sich Clark Jackson gegenüber, daß seine Befehle nicht ausgeführt würden. Der amerikanische General habe sich außerdem beklagt, daß Jackson politische Kanäle benutzt habe. Auf diesem Treffen soll auch Jacksons Bemerkung über den Dritten Weltkrieg gefallen sein.
Am 11. und 12. Juni, nach Beendigung der Bombardierung, waren 200 in Bosnien stationierte russische Soldaten unmittelbar nach dem Rückzug der serbischen Armee ins Kosovo eingerückt. Dort wurden sie von einer jubelnden serbischen Menge begrüßt, Stunden bevor NATO-Truppen in die Provinz kamen. Die russischen Truppen besetzten die Nordseite des Slatina-Flugfeldes und widersetzten sich Aufforderungen der NATO, das Gebiet zu verlassen.
Washington war über den vorsorglichen Schachzug der Russen tief beunruhigt. Deren Forderungen nach einem eigenen Sektor im Norden des Kosovo und daß die russischen Truppen nicht unter NATO-Oberkommando stehen sollten, wurden abgelehnt. Die Clinton-Regierung versuchte aber die Bedeutung des Ereignisses herunterzuspielen und nutzte lieber "diplomatische Kanäle". Darunter fielen Drohungen, IWF-Kredite zu beschneiden, und Schmiergeldangebote an zivile und militärische russische Beamte. Gleichzeitig überredeten die USA Ungarn und Rumänien, Rußland den Durchflug über ihr Hoheitsgebiet zu verweigern, und verhinderten so die Landung von Transportflugzeugen, mit denen die Truppen am Flughafen von Pristina versorgt und verstärkt werden sollten. Anfang Juli stimmten die Russen dann zu, ihre Truppen der NATO zu unterstellen.
Zu der Zeit, als Clark den Befehl zum Angriff auf die russischen Truppen gab, meinte ein führender Berater Clintons gegenüber der New York Times am 12. Juni: "Ich glaube nicht, daß unsere Militärs sich daraus viel machen. Es gefällt ihnen natürlich nicht, daß sie von den Russen angelogen worden sind. Andererseits ist zur Zeit in der russischen Regierung viel los, und weiß der Himmel, was sie vorhaben."
Auch Clark sagte in der Öffentlichkeit, es gebe keinen Grund, sich über eine militärische Konfrontation zwischen russischen und NATO-Truppen Sorgen zu machen, betonte aber gleichzeitig, Jackson habe "das Recht und die Möglichkeit", die russischen Truppen zu entfernen. Wie es kürzlich in der Zeitschrift The New Yorker hieß: "Clark gab öffentlich vor, daß es nicht besonders wichtig war, während er in Wirklichkeit kochte."
Es ist nicht vollständig klar, ob Clark von führenden Beamten in Washington unterstützt wurde, es gibt jedoch einige, besonders in Europa, die das vermuten. Jonathan Eyal, der Direktor des "Royal United Services Institute" in London, erklärte: "Es ist bequem, Clark alles anzulasten, aber ich bezweifle stark, daß er ohne amerikanische Unterstützung das Risiko eingegangen wäre." Die Auseinandersetzung über eine mögliche militärische Konfrontation mit den Russen, sagte er, sei die gefährlichste und am wenigsten berichtete Episode zwischen den USA und Europa überhaupt gewesen, und hätte "zu der größten diplomatischen Krise seit Ende des Kalten Krieges führen können."
Im außenpolitischen Establishment der USA gab es durchaus Kräfte, die zu einer solchen Konfrontation aufriefen, darunter der frühere Nationale Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski, der am 14. Juni im Wall Street Journal einen Kommentar mit dem Titel schrieb: "Die NATO muß den Machtspielen Rußlands ein Ende machen."
Schließlich wurde Clark jedoch offenbar von seinen Vorgesetzten im Pentagon und dem Weißen Haus zurückgepfiffen. Diese schienen auf die Warnungen der Briten gehört zu haben, daß eine Konfrontation mit den immer noch mit Atomwaffen gerüsteten Russen nicht ratsam sei.
Clark war während des gesamten Krieges mit seinen militärischen und zivilen Vorgesetzten aneinandergeraten. Er drängte auf ein möglichst aggressives militärisches Vorgehen, egal wieviel Opfer es unter der Zivilbevölkerung und der NATO geben oder welche politischen Auswirkungen diese insbesondere in Europa haben würden. In Griechenland, Italien und Deutschland hätte die wachsende Stimmung gegen den Krieg möglicherweise zum Sturz der Regierung führen können.
Schon einige Zeit vor dem Krieg war Clark in Konflikt mit US-Verteidigungsminister William Cohen und anderen gekommen, als er verlangte, ein angebliches serbisches Massaker an Albanern nahe der Stadt Racak letzten Januar zum Vorwand für sofortige Luftangriffe zu nehmen. Die amerikanischen Regierungsbeamten zogen es vor, Milosevic erst ein Ultimatum zu stellen (den Vertrag von Rambouillet), damit es so aussehe, als seien alle diplomatischen Möglichkeiten ausgeschöpft worden, bevor die NATO zu bomben anfing.
Am 24. März, als die Luftangriffe begannen, wollten die politischen Führer der NATO die Ziele begrenzen, weil sie glaubten, eine erste Welle von Bombenwürfen würde Milosevic zur Kapitulation bringen. Clark und seine Luftwaffenkommandeure wollten dagegen bereits in der ersten Nacht "ins Stadtzentrum gehen" und Strom, Telefon und Kommandozentralen in Belgrad und anderen größeren Städten angreifen, ebenso wie Milosevics Privatwohnungen.
Schon früh hatte Clark ein Geschwader Apache-Kampfhubschrauber angefordert. Nach Protesten vom amerikanischen Generalstabschef Dennis Reimer war er zum Weißen Haus gegangen. Clark tat dies, weil er unbedingt das Pentagon dazu bringen wollte, ihm eine Bodeninvasion des Kosovo und damit außer der Luftwaffe und der Marine den Einsatz von Landstreitkräften - seiner eignen Truppengattung - zu gestatten.
Ende Mai drängte Clark um die Genehmigung, die jugoslawische Stromversorgung anzugreifen und damit auch den Krankenhäusern, Wasserwerken und der Beleuchtung die Elektrizität zu entziehen. In einem Artikel der Zeitschrift The New Yorker vom 2. August zitiert Michael Ignatieff Clark, der seine Frustration darüber ausdrückte, daß es bis zu diesem Zeitpunkt "die einzigen Luftangriffe der Geschichte waren, während denen Liebespaare entlang des Flußufers in der Abenddämmerung spazieren gingen und vor Cafés im Freien aßen, um dem Feuerwerk zuschauen zu können."
Während die Brutalität des Generals den amerikanischen Interessen während des Krieges gute Dienste leistete, machte sein Ruf, schnell zu schießen, seiner militärischen Karriere offenbar ein vorschnelles Ende. Clark, der 1997 Oberbefehlshaber der NATO wurde, nachdem er vorher US-Streitkräfte in Lateinamerika geführt und 1995 den militärischen Vorsitz in Richard Holbrookes Dayton-Mission hatte, erhielt um Mitternacht einen Anruf vom Generalstabschef, daß er seines Kommandos enthoben sei.
Clark sollte eigentlich drei Jahre Kommandeur der US-Streitkräfte in Europa und bis nächsten Juli der höchste General der NATO bleiben, aber nun wird er im April gehen. Sieben von zehn seiner Vorgänger dienten mehr als drei Jahre auf diesem Posten. Während das Pentagon Clarks Absetzung als ganz normale Personalrotation darstellte, machte Clark in seinen öffentlichen Stellungnahmen deutlich, daß er für ihn eine Überraschung und ein Affront war.
In einer Pressekonferenz in Washington am Montag wich der außenpolitische Sprecher James Rubin Fragen nach dem Zusammenstoß zwischen Clark und Jackson letzten Juni aus und sagte es sei "wirklich Historikern überlassen, darüber zu sprechen, was während dieser Zeit passiert ist oder nicht. Es ist einfach nicht mehr von Bedeutung."
Tatsächlich haben die Ereignisse Mitte Juni gezeigt, daß die amerikanische Politik der Rücksichtslosigkeit und des Militarismus zu der Gefahr weit größerer Zusammenstöße führt, selbst solcher mit Atomwaffen. Bis jetzt könnte man sagen, daß der Krieg - obwohl er eine humanitäre Katastrophe, mehr ethnische Gewalt und die wirtschaftliche Verelendung der Bevölkerung der Region mit sich gebracht hat - für die Clinton-Regierung ein Erfolg war. Bis jetzt ist weder ein voller Balkankrieg noch eine militärische Konfrontation zwischen der NATO und Rußland ausgebrochen. Aber dieser Zwischenfall zeigt, wie nahe eine solche Konfrontation war. Er ist eine Warnung, daß der nächste Krieg nicht so glimpflich enden wird.