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Die Grünen im Krieg

Von Ulrich Rippert
27. April 1999

Das abstoßende Schauspiel, das die Grünen als Regierungs- und Kriegspartei in den vergangenen Wochen geliefert haben, spottet jeder Beschreibung. Wann hat jemals eine Partei existiert, die in kürzester Zeit all ihre Prinzipien in derart grundlegender Weise verraten hat? Wann wurde jemals mit Regierungsverantwortung derart verantwortungslos umgegangen? Alle Standpunkte wurden über den Haufen geworfen, und man liest die gegenwärtige Beteuerung vieler grüner Spitzenpolitiker, sie würden unter keinen Umständen den Einsatz von Bodentruppen im Kosovo-Krieg unterstützen, bereits als Ankündigung ihrer Zustimmung.

Nur eines wird von den Grünen in Erinnerung bleiben: daß sie dem Begriff "Prinzipienlosigkeit" eine neue Dimension gegeben haben.

Man fühlt sich an den Verrat der SPD am Anfang des Jahrhunderts erinnert, als sie im August 1914 den Kriegskrediten des Kaisers zustimmte und der ersten großen weltweiten Massenschlächterei den Weg ebnete. Auch damals brach eine Partei im Angesicht des Krieges mit ihren politischen Traditionen und widersprach allem, was sie vorher vertreten und gelehrt hatte. Rückblickend läßt sich allerdings aufzeigen, daß sich diese Verwandlung der SPD bereits vorher, über eine ganze Reihe von Jahren entwickelt hatte.

Doch die Grünen? Hier degeneriert nicht nur eine Partei, hier nimmt der Opportunismus selbst Parteigestalt an. Es gibt nur ein Prinzip, das diese Partei überzeugend vertritt, ihre völlige politische Rückgratlosigkeit. Auf den geringsten Druck hin und oft schon in vorauseilendem Gehorsam richtet sie ihr politisches Fähnchen nach dem Wind. Ausstieg aus der Kernenergie, Besteuerung der großen Energieverbraucher und Umweltverschmutzer, ökologischer Umbau, Abrüstung, Pazifismus usw. - es gibt nicht einen einzigen früheren politischen Standpunkt, den diese Partei heute nicht mit Füßen tritt. Vieles, was sie in den vergangenen Jahren gegen die Kohl-Regierung erfolgreich verhinderte, setzt sie heute als Regierungspartei durch.

Trotz der weitreichenden Konsequenzen für die Zukunft der rot-grünen Bundesregierung ist es weitgehend unerheblich, ob und wie diese Partei ihren kommenden Sonderparteitag am 13. Mai übersteht. Der große politische Zusammenbruch steht ihr nicht bevor, sondern hat bereits stattgefunden. Die ständig wiederholte Beschwörungsformel, wonach zwar jedes Parteimitglied "in sich selbst zerrissen" sei, die Partei als ganze aber einig, wirkt nur noch lächerlich. Auch das endlose Jammern und Lamentieren über die eigenen Zweifel, Skrupel und Gewissensnöte macht nur deutlich, daß es in den Führungsetagen dieser Organisation niemanden gibt, der über einen zumindest halbwegs funktionierenden politischen Kompaß verfügt.

Woher kommt dieser rapide politische Bankrott? Wie muß er verstanden werden?

Es gibt dafür sicherlich mehrere Gründe. Einer besteht ohne Zweifel im Führungspersonal. Joschka Fischer ist ein typischer deutscher Philister, ein Mann, der politische Anpassungsfähigkeit und Servilität mit einer großen Portion Rücksichtslosigkeit und dem unbedingten Drang, nach oben zu gelangen, verbindet, und der für die Konsequenzen seines Handelns nicht die geringste Verantwortung übernimmt. In der selben oberflächlichen Art des Schwadronierens vertritt er heute diesen und morgen den entgegengesetzten Standpunkt, ohne auch nur eine einzige Frage ernsthaft zu durchdenken. Ein politischer Schwätzer ohne Überzeugungen, von Prinzipien ganz zu schweigen, der seine Argumente von denjenigen ausleiht, die gerade den größten Druck oder Einfluß auf ihn ausüben. Bei all dem ist er zutiefst von sich selbst überzeugt. Wie so oft, wachsen auch hier Dummheit und Stolz auf einem Holz.

Doch es wäre eine Überschätzung Fischers, wollte man ihn für den Niedergang der Grünen alleine oder auch nur hauptsächlich verantwortlich machen. Es handelt sich nicht um ein individuelles, sondern um ein gesellschaftliches Phänomen. Der gegenwärtige Krieg wirkt wie ein politischer Katalysator. Er beschleunigt politische Prozesse und bringt gesellschaftliche Entwicklungen an die Oberfläche, die bisher verborgen waren.

Mit der Bildung der rot-grünen Koalition hat auch in Deutschland die Generation die Regierungsverantwortung übernommen, die ihre ersten politischen Erfahrungen in der Protestbewegung der späten sechziger Jahre machte. Die Opposition gegen den Krieg in Vietnam und gegen das verstärkte Auftreten alter und neuer Nazis in der Bundesrepublik (die NPD erzielte 1968 bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg 9,8 Prozent der Stimmen) war damals weit verbreitet und mobilisierte einen Großteil der jungen Generation.

Seitdem hat eine ganze Reihe der Vertreter dieser Protestbewegung ihre Standpunkte mehrmals grundlegend verändert. Das geht so weit, daß aus der einst identitätsstiftenden Parole "Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!" die Begründung für Bombenangriffe abgeleitet wird, die mehr und mehr die Form des Terrors gegen die serbische Bevölkerung annehmen. Frühere Wortführer der Studentenproteste, wie Daniel Cohn-Bendit, der gegenwärtige Spitzenkandidat der französischen Grünen bei den kommenden Europawahlen, werden nicht müde, den schnellen Einsatz von Nato-Bodentruppen im Kosovo-Krieg zu fordern.

Eine Erklärung für diesen Wandel lautet, daß der Radikalismus der "Achtundsechziger" weniger politische, als altersmäßige Ursachen hatte; daß hier die herkömmliche Rebellion der Söhne gegen die Väter nur besonders heftige Formen annahm, die verlorenen Söhne aber im Laufe der Zeit zwangsläufig in den Schoß der Familie zurückkehren mußten. In diesem Zusammenhang steht auch, daß aus den protestierenden Studenten von vor dreißig Jahren die Erben von heute geworden sind. Zwei Drittel des gesellschaftlichen Vermögens liegen nun in ihren Händen. Die Institutionen des Staates, die sie früher als Hüter des Eigentums bekämpften, respektieren sie heute aus demselben Grund.

In diesen Beobachtungen steckt ein wahrer Kern, dennoch erklären sie die Verwandlung der Grünen nur unzulänglich. Man muß auch die Evolution ihres politischen Programms betrachten, um zu verstehen, weshalb diese Partei beim ersten großen politischen Test sang- und klanglos untergeht.

Viele spätere Gründungsmitglieder der Grünen fühlten sich von den Streikbewegungen und nationalen Befreiungskämpfen angezogen, die zur Zeit der Studentenproteste die Gesellschaft erschütterten. Es entstand eine Vielzahl politischer Zirkel und Gruppen, die sich als sozialistisch und revolutionär bezeichneten und sich an Mao, Che Guevara und anderen Heroen der Epoche orientierten. Als diese Bewegungen Mitte der siebziger Jahre zurückfluteten, die Arbeiterklasse herbe Niederlagen hinnehmen mußte und die Bourgeoisie weltweit zur Gegenoffensive überging, wich die anfängliche Begeisterung tiefer Frustration und politischer Orientierungslosigkeit. Es begann eine Periode, in der politische Standpunkte und Überzeugungen ohne ernsthafte Prüfung verworfen und zurückgewiesen wurden.

Unter diesen Bedingungen entstand Ende der siebziger Jahre die Partei der Grünen. Sie lehnte nicht nur den Klassenkampf als Mittel der Politik ab, sondern auch die Auffassung, daß politische Programme der bewußte Ausdruck gesellschaftlicher Interessen seien. Umwelt, Frieden und Demokratie lauteten die Eckpunkte ihres Programms - und diese konnte man verwirklichen, ohne die bestehenden Eigentumsverhältnisse in Frage zu stellen. Als Gorbatschow einige Jahre später entdeckte, daß "Menschheitsfragen" wichtiger seien als "Klassenfragen", wiederholte er nur, was die deutschen Grünen seit Jahren gepredigt hatten.

Die Politik - so behaupteten die Grünen - müsse einem höheren Ideal verpflichtet sein: Der Moral! Doch die Moral einer jeden Partei resultiert letzten Endes gerade aus den sozialen und historischen Interessen, die sie vertritt. Wird sie von diesen sozialen Interessen gelöst, werden die Moralkategorien zum Deckmantel einer Politik, die völlig orientierungslos hin und her schwankt und in den entscheidenden Momenten von den herrschenden Kreisen der Gesellschaft geprägt und bestimmt wird.

In seiner bekannten Schrift "Ihre Moral und unsere" hat Leo Trotzki den Zusammenhang zwischen allgemeinen Moralvorschriften, die scheinbar über den Klassen der Gesellschaft stehen, und einer Politik, die auf die einfachsten Formen des gesunden Menschenverstandes beschränkt ist, erläutert: "In einem stabilen sozialen Milieu reicht der gesunde Menschenverstand aus, um Geschäfte zu machen, Kranke zu heilen, Artikel zu schreiben, Gewerkschaften zu leiten, im Parlament abzustimmen, sich zu verheiraten und die Rasse zu erneuern. Aber wenn derselbe gesunde Menschenverstand versucht, die ihm gesetzten Grenzen zu überschreiten und die Ebene komplexer Verallgemeinerungen betritt, erweist er sich als eine Anhäufung von Vorurteilen einer bestimmten Klasse und einer bestimmten Epoche."

So kam es, daß die Grünen Anfang der achtziger Jahre mit Blumen in den Bundestag einzogen, voller Hoffnungen auf Reformen und Verbesserungen und mit der Absicht, Politik und Gesellschaft zu humanisieren. In den langen Jahren der Opposition gegen die Kohl-Regierung und der damit verbundenen gesellschaftlichen Stagnation gewannen sie zusehends an Einfluß. Doch kaum ändern sich die politischen Gezeiten, kaum folgt der langen Ebbe ein stürmischer Umbruch, der alle gewohnten gesellschaftlichen Verhältnisse aufrüttelt, erweisen sie sich als vollständig unvorbereitet. Viele grüne Politiker sind angesichts dieser Situation völlig überfordert und wissen nicht mehr, wo ihnen der Kopf steht, geschweige denn, was sie am nächsten Tag beschließen werden.

Immer deutlicher zeigt der Krieg sein wahres Gesicht. Es geht nicht um "humanitäre Ziele", sondern um nackte imperialistische Interessen, um den Entwurf einer neuen Weltordnung, in der die größten und wirtschaftlich stärksten Mächte die kleineren und unterentwickelten Länder und Regionen wirtschaftlich ausbeuten und militärisch terrorisieren.

Die über der Gesellschaft schwebende Moral der Grünen gehört zu den ersten Opfern dieses Krieges. Nachdem sie eine grundlegende Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse stets entschieden zurückgewiesen haben, wälzen die gesellschaftlichen Verhältnisse jetzt die Grünen um.

Joschka Fischer, der während des ersten Golfkriegs noch "Kein Blut für Öl!" forderte, greift heute, nach fünf Wochen ununterbrochenen Bombenangriffen, zu den unglaublichsten Verdrehungen, um einen Krieg zu rechtfertigen, der nicht zu rechtfertigen ist. Dieselbe Armee, in der die Grünen erst vor Jahresfrist durch einen Untersuchungsausschuß des Bundestags die Zunahme rechtsradikaler Umtriebe aufdecken wollten, nachdem ein führender Neonazi als Referent in die Bundeswehrhochschule eingeladen worden war, wird nun als "Friedensarmee" bezeichnet.

Die heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der Grünen zeigen aber auch, wie tief das soziale Milieu, auf das sie sich bisher gestützt haben, gespalten ist. Während ein kleinerer Teil dieser Mittelschichten aufgestiegen ist, versinkt die überwiegende Mehrheit in wachsender Armut durch Scheinselbständigkeit und Arbeitslosigkeit.

Das groteske Schauspiel des Niedergangs der Grünen kennzeichnet eine politische Zäsur. Es macht den Weg frei für eine neue Partei, die nicht davor zurückschreckt, den Klassencharakter der Gesellschaft und dieses Krieges unumwunden beim Namen zu nennen, und daraus die politischen Konsequenzen zieht.

Siehe auch:
Rot-grüner Militarismus
(31. März 1999)