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  WSWS : WSWS/DE : Geschichte : Rußland : Rogowin

Gedenkveranstaltung für Wadim Rogowin

Ansprache von Sorja Serebrjakowa

Von Sorja Leonidowna Serebrjakowa
30. Dezember 1998
aus dem Russischen

Liebe Freunde, Wadim Rogowin hat mit seiner Bücherreihe ein Werk geschaffen, das unter sehr widrigen Bedingungen entstand. Er schwamm gegen den Strom und überwand mit seinen Büchern den Widerstand der offiziellen Gesellschaftswissenschaften. Immer meisterhafter schrieb er über die Geschichte. Dabei wechselte er nicht einfach das Vorzeichen, wie es in unserer Geschichtsschreibung seit dem berüchtigten "kurzen Lehrgang" über die KPdSU weit verbreitet ist. Rogowin arbeitete mit einer grundlegend anderen Methode.

Wie bereits im Vortrag von David North erwähnt, hatte sich Rogowin das Ziel gesetzt, die weißen Flecken in der Geschichte aufzufüllen und über die tragischen Opfer und Vergessenen dieser Ereignisse zu schreiben. Die Bücher von Wadim Rogowin sind derart umfassend in der Einbeziehung theoretischen Materials und der Analyse konkreter historischer Fakten, daß ich mehrere Stunden sprechen müßte, um Ihnen nur eine Kurzübersicht zu geben. Daher möchte ich nur auf einige Aspekte seiner Untersuchungen eingehen.

Von den ersten Seiten an und durch alle Bände hindurch stellt Rogowin die unterschiedlichen Ansichten Lenins, Trotzkis, Rjutins und der Bolschewiki zu konkreten Fragen denjenigen Stalins und dessen verbrecherischer Politik gegenüber. Leben, Schicksal und der unermüdliche Kampf Leo Trotzkis gegen das Stalinsche Regime fügen die Bände Rogowins zu einer Einheit zusammen.

Es ist sehr wichtig, die Auffassungen jener Historiker und Politologen kritisch zu analysieren, die alle Verbrechen Stalins auf Lenin und den Bolschewismus abwälzen und Stalin selbst damit rehabilitieren wollen. So hat einer der modernen Ideologen, Zipko1, Ende der 80er Jahre behauptet, daß sich Stalin qualitativ in nichts von der Leninschen Garde unterscheide. In einem seiner jüngsten Vorträge anläßlich des 80. Jahrestages der Oktoberrevolution erklärte er, daß Lenin, Trotzki und die Bolschewiki im allgemeinen die Verantwortung für alles trügen und Stalin völlig unschuldig sei.

Rogowins Bücher enthalten eine überzeugende Kritik an den Vertretern eines stalinistischen Flügels innerhalb der KPRF (Kommunistische Partei der Russischen Föderation) unter Kossalapow, die offen behaupten, der Terror sei ohne Stalins Wissen und Zutun allein von Jeschow durchgeführt worden. Rogowin führt unzählige Fakten an, die zweifelsfrei beweisen, daß Stalin den Terror organisiert und all die Massenverhaftungen, -folterungen und -erschießungen ausdrücklich sanktioniert hatte. Obwohl das NKWD offiziell der Partei unterstellt war, übte Stalin die unmittelbare Befehlsgewalt aus.

Die Höhepunkte seiner Bücherreihe sind der vierte Band "1937 - Jahr des Terrors" und der fünfte Band "Die Partei der Hingerichteten", die aufzeigen, dass die bolschewistische Partei mehr als alle anderen unter den Repressionen des Großen Terrors zu leiden hatte. Um seine Schlußfolgerungen zu untermauern, führt Rogowin folgende Worte Trotzkis an: "Für die Errichtung eines solchen Regimes, das zutreffend als Stalinsches bezeichnet wird, bedurfte man nicht der bolschewistischen Partei, sondern der Vernichtung der bolschewistischen Partei."

Fedotow² schrieb einmal sehr treffend: "Hitler hätte in Rußland keinen besseren eigenen Agenten an die Spitze des Sowjetstaates stellen können als Stalin selbst." Der emigrierte Menschewik Fjodor Dan bemerkte dazu: "Indem Stalin den alten Bolschewismus moralisch und physisch erschlägt, tötet er die Revolution und verrichtet das Werk der Konterrevolution. Stalins Verbrechen lassen den Schluß zu, daß er von Anfang an ein Feind des Marxismus gewesen war, der gezielt in die bolschewistische Partei eingeschleust wurde." Auch wenn Rogowin eine solche These nicht aufstellt, so kommt er der Vermutung doch recht nah, wonach Stalin ein Agent des zaristischen Geheimdienstes gewesen sein könnte.

Wadim Rogowin verbindet in seinen Büchern die Stalinsche Politik mit der Geschichte des vorrevolutionären zaristischen Rußlands. So ist beispielsweise das schreckliche Gesetz vom 1. Dezember 1934, das eine verkürzte Verhandlung von Terrorstrafsachen ermöglichte, seinem Inhalt nach eine Kopie des Stolypinschen³ Gesetzes über militärische Kriegsgerichte. Auf der Grundlage dieser Gesetze wurde der Terror organisiert.

Rogowin untersucht sehr genau die verschiedenen Versionen, die über den Mord an Kirow existieren. Bekanntermaßen sprach Nikita Sergejewitsch Chruschtschow mehrfach zu diesem Thema. Er sagte: "Nach dem Mord an Kirow wurden Hunderttausende hingerichtet. Wozu war das nötig? Das ist ein Rätsel, das gelöst werden muß." Ich betone, daß es abgesehen davon, daß dieser Mord Stalins Interessen diente, bis zum heutigen Tage keine überzeugende Antwort auf diese Frage gibt.

Kürzlich sind die sensationellen Erinnerungen eines Mannes namens Schif veröffentlicht worden, der sich am 1. Dezember im Smolny [wo Kirow ermordet wurde] aufhielt. Er ist davon überzeugt, daß Nikolajew - der die Tat gestand - den Mord nicht begangen haben konnte. Schif hält einen der Leibwächter Kirows für den tatsächlichen Mörder.

Dieser soll aus einem Versteck heraus geschossen haben, von wo er als erster am Tatort erschien und Nikolajew vorfand. Schif bezeugt, daß Nikolajew am Boden lag, als der Mord geschah. Rossljakow, der ebenfalls als einer der ersten zum Tatort kam und Nikolajew am Boden liegen sah, bestätigt diese Version. Aus meinen Kindheitserinnerungen heraus weiß ich noch ganz genau, wie damals gesagt wurde, daß Nikolajew zu jener Zeit überhaupt nicht in der Lage gewesen wäre, den Mord zu begehen. Es wurde gesagt, man habe ihn nur unter großen Mühen von seinem Schock befreien können.

Walter Kriwitzki, der sowjetische Spion, der nach 1937 im Westen blieb, schrieb, die schrecklichste aller Stalinschen Säuberungen sei an der Generation der Kinder verübt worden. Erschüttert sagte er, "dieses Zeugnis der Grausamkeit wird niemals aus dem Gedächtnis der Menschheit verschwinden, selbst wenn man alles andere vergessen mag." Trotz jahrelanger Untersuchungen ist ausgerechnet über den Terror gegen die Kinder am wenigsten bekannt.

Wadim Rogowin weist nach, dass den Erschießungen der Trotzkisten die Ermordung ihrer Frauen folgte, sowie die Erschießung der Kinder der bekannteren Oppositionellen, sofern sie älter als 12 Jahre waren. Tatjana Iwarowna sprach bereits über Kamenews mittlerem Sohn Juri, der erschossen wurde. Er war nur einer von vielen. Rogowin erinnert auch an den Mord an Nestor Lakoba und dessen Sohn. Zusammen mit Nestors Sohn wurden drei abchasische Jungen ermordet, die bei ihrer Verhaftung 1937 erst 13, 14 und 15 Jahre alt waren.

All diese Morde wurden nach einem von Stalin vorgefaßten Plan durchgeführt. In einem Gespräch mit Romain Rolland äußerte Stalin 1935, "daß wir gegen die heranwachsenden Kinder dieser Verbrecher Repressionen durchführen müssen, wenn sie das 12. Lebensjahr vollendet haben." Kaltblütig sagte er, "daß wir zwei bis drei Jahre brauchen werden, bis wir all ihre Kinder ausgerottet haben." Er sagte also schon 1935, daß drei Jahre nötig sein würden: 1936, 1937 und 1938, die drei schrecklichsten Jahre.

Ich wiederhole, daß über die Kinder und anderen Minderjährigen, die dem Stalinismus zum Opfer fielen, äußerst wenig bekannt ist. Mir ist es beispielsweise auch noch nicht gelungen, meine eigene Akte aus der Kindheit einzusehen, als zum ersten Mal meine Fingerabdrücke abgenommen wurden und man mich wie einen Erwachsenen verhörte.

Eine weitere Frage, die zur Zeit stark diskutiert wird, betrifft Berija. Rogowin schreibt in seinem Buch richtig, die Einstellung einiger Verfahren nach der Hinrichtung von Jeschow hätte noch keine erste Tauwetterperiode eingeleitet. Vielmehr stellte dies nur eine Maskierung der Verbrechen Stalins dar. Die Rehabilitierungen galten fast überhaupt nicht den bekannten Persönlichkeiten aus Kunst, Staat oder Politik. Sie wurden unter Berija weiterhin verhaftet. Aus einem Brief von Meyerhold, dem berühmten russischen Theaterregisseur, geht deutlich hervor, daß die Erschießungen nicht abnahmen, sondern unter Berija gleichermaßen fortgesetzt wurden. Wichtige Angaben über die Anzahl der Verhafteten und Erschossenen führt Rogowin in der Fußnote eines seiner letzten Bände an, wonach offiziellen Statistiken zufolge 681.692 Menschen hingerichtet worden seien, was den Tatsachen bei weitem nicht gerecht wird.

Zu den 1937 und 1938 Hingerichteten müssen noch die massenhaften Opfer hinzugefügt werden, die ohne Urteil und Verfahren in den Lagern und Gefängnissen hingerichtet worden sind. Michail Sergejewitsch Gorbatschow sagte, daß in der Zeit des Stalinschen Terrors "eine Million Parteimitglieder erschossen und drei Millionen in Lager inhaftiert wurden. Die besten Leute wurden aus den Reihen der Gesellschaft gerissen". Von 1985 an wurden unter Gorbatschow die Fakten und Tatsachen, die die Geheimrede Chruschtschows 1956 auf dem 20. Parteitag aufgeworfen hatte, erneut diskutiert. Sie wurden bestätigt und ergänzt durch bis dahin völlig geheime KGB-Dokumente aus den Archiven.

Gorbatschows Rede zum siebzigsten Jahrestag der Oktoberrevolution bildete den Anfang einer breiten Rehabilitierung der Führer der antistalinschen Opposition. In dieser Rede verurteilte er Stalin für seine Verbrechen: "Es war etwas anderes, als wir noch nicht wußten, was geschehen war. Seitdem aber die Wahrheit bekannt ist und wir immer mehr erfahren, kann es keinen Zweifel geben: Stalin war ein Verbrecher ohne jegliche Moral." Doch heute wird versucht, den Namen dieses größten Henkers wieder reinzuwaschen. Seine Porträts sind auf Demonstrationen, im Fernsehen, in Zeitungen und auf Buchumschlägen zu sehen.

Je größer die Gefahr eines Wiederauflebens von Faschismus und Stalinismus wird, desto wertvoller ist Wadims Werk. Indem er mit dem ganzen Inhalt seiner Bücher die Idee eines wirklichen Sozialismus verteidigt, warnt er vor einem totalitären Despotismus. Nicht nur wir, die wir den tragisch Umgekommenen nahe standen, sondern alle denkenden Menschen werden Rogowins Bücher wieder und wieder lesen und ihm für diese titanische Arbeit dankbar sein.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Anmerkungen:

  1. Alexander Zipko ist ein bekannter Ideologe in Rußland, der unter Breschnew eine führende Rolle gespielt hat. 1973 hat er ein Buch über den sowjetischen Komsomol geschrieben. Während der Perestroika arbeitete er eng mit Gorbatschow zusammen. Heute schreibt er in Beresowskis "Sewodnja" ("Heute") und ist ein antikommunistischer Nationalliberaler.

  2. Fedotow war ein führender Kopf der weißen Emigranten.

  3. Stolypin war von 1906 bis zu seiner Ermordung 1911 Innenminister des Zarenregimes. Als Antwort auf die erste russische Revolution 1905 errichtete er eine brutale Polizeiherrschaft.

Siehe auch:
Einleitung
(30. Dezember 1998)
Rede von David North
( 17. Dezember 1998)
Ansprache von Tatjana Iwarowna Smilga
( 30. Dezember 1998)

 

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