Extreme Polizeibrutalität in Berlin-Wedding
Von Ernst Wolff
13. Oktober 2012
Am vergangenen Samstag lief der 50jährige André C. betrunken und mit zwei Messern und einer Axt bewaffnet durch die Antwerpener Straße im Berliner Stadtteil Wedding. Anwohner fühlten sich bedroht und alarmierten die Polizei. Zwei Beamte rückten an, schafften es aber nicht, die Situation verbal zu entschärfen und riefen Verstärkung. Was dann geschah, wurde von einem zufällig anwesenden Passanten auf einem Video festgehalten, das von der Bild-Zeitung ins Netz gestellt wurde.
Das Video zeigt fünf Polizisten und eine Polizistin, die den bereits durch vier Schüsse in Bauch, Bein, Knie und Leistengegend getroffenen, am Boden liegenden und stark blutenden André C. mit einem Polizeiknüppel schlagen, ihm Pfefferspray ins Gesicht sprühen, ihn in den Nacken treten und einen Polizeihund auf ihn hetzen. Als Folge des Einsatzes wurde André C. mit lebensgefährlichen Verletzungen ins Virchow-Klinikum eingeliefert, wo er sofort notoperiert und ins künstliche Koma versetzt wurde.
„Der Mann schien wehrlos, der Einsatz der Polizei wirkte sehr brutal“, sagte ein Augenzeuge gegenüber der Presse. André C.’s Schwester verglich den Polizeieinsatz mit einer versuchten Hinrichtung und erklärte den seelischen Ausnahmezustand ihres Bruders damit, dass er nicht nur seine Anstellung als Maler, sondern innerhalb kurzer Zeit seinen Vater und seinen 19-jährigen Sohn verloren und sich aus Verzweiflung in den Alkohol geflüchtet habe.
Der Vorfall in Wedding ist nicht der erste, bei dem die Berliner Polizei durch unverhältnismäßige Gewalt auffällt, aber er schockiert durch seine außergewöhnliche Brutalität. Er erinnert an das um die Welt gegangene Video von Rodney King, der 1991 von amerikanischen Polizisten halbtot geprügelt worden war. Auch auf dem Berliner Video sieht man, wie Polizeibeamte sich nicht bemühen, eine zugegebenermaßen provokative Situation zu entschärfen, sondern einen Menschen auf das Schwerste misshandeln.
Sämtliche im Berliner Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien stellten sich umgehend hinter die beteiligten Polizisten. CDU-Innenexperte Peter Trapp nannte den Einsatz „schulbuchmäßig“. Tom Schreiber von der SPD bezeichnete ihn als „richtig und vernünftig“. Der Innenexperte der Grünen, Benedikt Lux, sagte: „Ein gefährlicher Angreifer wie dieser muss damit rechnen, von der Polizei kampfunfähig gemacht zu werden.“ Piratenpolitiker Christopher Lauer betonte ebenfalls das Recht der Polizei, Gewalt anwenden zu dürfen. Der Fraktionsvorsitzende der Linken, Udo Wolf, äußerste zwar Kritik an Details des Einsatzes, überlässt es aber der Staatsanwaltschaft, zu untersuchen, „was da schief gelaufen ist“.
Diese Reaktion auf ein Vorgehen, dessen Unmenschlichkeit filmisch dokumentiert ist, demonstriert eindrucksvoll den Schulterschluss von bürgerlichen Politikern und Polizei vor dem Hintergrund der Verschlechterung der Lebensbedingungen arbeitender Menschen. Während die Politik die fortschreitende Verelendung am unteren Rand der sozialen Leiter durch Sparprogramme verschärft, reagiert die Polizei auf das zunehmende Ausrasten von Menschen mit schweren – immer auch sozial bedingten – Problemen mit erhöhter Aggressivität.
Die Aktion in Wedding ist kein Einzelfall, bei dem etwas „schief gelaufen“ ist, wie Udo Wolf von der Linken glauben machen will. Der Vorfall ist Bestandteil der weltweiten Zunahme von Polizeibrutalität.
Erst vor wenigen Wochen ging ein Video um die Welt, dass zeigte, wie die New Yorker Polizei den unter Drogeneinfluss stehenden, mit einem Messer herumfuchtelnden 51-jährigen Darius Kennedy erschoss. Wenig später schockierte die Ermordung streikender schwarzer Minenarbeiter in Südafrika Millionen von Menschen rund um den Globus. In dieser Woche wurden erschreckende Details über die Folter an festgenommenen Demonstranten in Griechenland bekannt.
Zu diesen Vorfällen passen die Bilder von Polizeieinsätzen in Spanien und Portugal, wo zumeist jugendliche Demonstranten von Polizisten hart angegriffen und zusammengeschlagen wurden, die Misshandlung zahlreicher Occupy-Anhänger in den USA und Europa, das brutale Vorgehen der britischen Polizei gegen randalierende Jugendliche und die vorsätzliche Tötung von hunderten ägyptischen Demonstranten anlässlich der Erhebung gegen das Mubarak-Regime im vergangenen Jahr.
Während sich eine kleine Elite immer schamloser bereichert und ein Leben im Überfluss führt, verelenden und verarmen Millionen von Menschen in aller Welt. Ihre unwürdigen Lebensbedingungen führen zu einer Zunahme psychischer Erkrankungen und zu einer immer höheren Anzahl von Kurzschlussreaktionen. Die Jugendarbeitslosigkeit, die in Südeuropa bereits mehr als fünfzig Prozent der jungen Menschen betrifft, und die Aussichtslosigkeit, die sie mit sich bringt, erzeugt bei den Betroffenen verständlicherweise Wut und Empörung.
Entlädt sich diese Wut und Empörung schlägt die Staatsgewalt mit immer unerbittlicherer Härte zu, und zwar nicht nur bei unkontrollierten individuellen Ausbrüchen und Amokläufen, sondern auch bei politischen Demonstrationen und Streiks.
Dass ihre Aktionen dabei mit Hilfe allgegenwärtiger Handys und Videokameras gefilmt werden und an die Öffentlichkeit gelangen, wird nicht nur hingenommen, sondern wegen der abschreckenden Wirkung begrüßt und sogar dazu benutzt, mehr Vollmachten und noch wirksamere Waffen für die Polizei zu fordern.
Während André C. nach mittlerweile drei Operationen noch auf der Intensivstation des Virchow-Klinikums im Koma liegt, fordert die Polizeigewerkschaft „wirksamere Waffen“, damit Einsätze wie der im Wedding in Zukunft „wesentlich schneller und effizienter – sowohl für die Beamten als auch für den Täter – erledigt werden können“.