Militarismus und Demokratie: Was die McChrystal-Affäre zeigt
Von Patrick Martin
25. Juni 2010
aus dem Englischen (24. Juni 2010)
Die politische Krise in Washington fand am Mittwochmorgen mit der Entlassung des obersten US- und Nato-Generals in Afghanistan, Stanley McChrystal, ihren Höhepunkt. Er wurde durch General David Petraeus ersetzt, den ehemaligen amerikanischen Irak-Kommandanten. McChrystal hatte die Krise durch aufrührerische Äußerungen ausgelöst.
Stanley McChrystal war aus Afghanistan ins Weiße Haus zitiert worden, wo er seinen Rücktritt einreichte. Das Magazin Rolling Stone hatte ihn und seine höchsten Berater in einem längeren Artikel mit verunglimpfenden Äußerungen über Präsident Obama und fast alle führenden Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrats der Regierung zitiert.
Obama nahm den Rücktritt an, und McChrystal verließ das Weiße Haus umgehend. Nach dreistündigen Treffen mit dem Nationalen Sicherheitsrat und der Pentagonspitze trat Obama vor die Fernsehkameras und gab McChrystals Rücktritt und die Ernennung von Petraeus als seinen Nachfolger bekannt.
In seinen kurzen Bemerkungen - Fragen waren nicht zugelassen - betonte Obama, er stehe weiter voll hinter dem Programm der militärischen Eskalation und der Aufstandsbekämpfung, mit der McChrystal identifiziert wird. Obama bekräftigte, dass er alles tun werde, um in Afghanistan erfolgreich zu sein, und fügte hinzu: "Dies ist ein Personalwechsel, kein Politikwechsel."
General Petraeus, der als Chef des Zentralkommandos McChrystals Vorgesetzter war, war eng mit den Überlegungen der Regierung zur Afghanistanpolitik befasst und unterstützte die Entscheidung vom letzten Dezember voll, 30.000 zusätzliche Soldaten zu entsenden.
An der McChrystal-Affäre geben zwei Aspekte zu denken. Erstens zeigt die Entlassung McChrystals, dass sich die Lage der US-Intervention in Afghanistan verschlechtert. Wenn der Krieg gut liefe, wäre der General wegen eines Zeitungsartikels nicht entlassen worden.
Am Tag von McChrystals Entlassung stieg die Zahl der amerikanischen und Nato-Toten im Juni auf 76. Damit war das der schlimmste Monat für die ausländischen Besatzungstruppen seit Beginn der Invasion in Afghanistan im Oktober 2001. Die afghanische Bevölkerung verachtet Präsident Karzai mehrheitlich als korrupte amerikanische Marionette. In allen europäischen Ländern, die Kontingente in Afghanistan stehen haben, nimmt die Antikriegsstimmung zu, genauso wie in den USA, wo eine Mehrheit der Bevölkerung inzwischen der Meinung ist, dass sich der Krieg nicht lohnt.
Der Bericht eines Kongressausschusses vom Montag gab an, dass im Verlauf der Nachschubkette der amerikanischen Truppen in Afghanistan Hunderte Millionen Dollar in den Kassen korrupter lokaler Warlords landen, von denen wiederum viele Geld an aufständische Taliban bezahlen, damit sie ihre Lastwagen nicht angreifen. So finanziert das Pentagon indirekt den Aufstand mit bis zu zwei Millionen Dollar in der Woche, so eine Schätzung in dem Bericht.
Am Dienstagabend gaben drei der stärksten Kriegsbefürworter, die Senatoren John McCain und Lindsay Graham (Republikaner) und der Unabhängige Demokrat Joseph Lieberman, eine gemeinsame Erklärung heraus. Sie verurteilten McChrystals Äußerungen als "unangemessen und nicht in Übereinstimmung mit der traditionellen Beziehung zwischen dem Oberkommandierenden und dem Militär".
Sie billigten die Entlassung praktisch im Voraus. Sie erklärten: "Die Entscheidung über die Zukunft von General McChrystal muss der Präsident der Vereinigten Staaten fällen."
Die Unterstützung von Kongressrepublikanern und zahlreichen rechten Mediengrößen für Obama zeigt, dass bedeutende Teile der herrschenden Elite das Vertrauen in McChrystal und seine Anti-Aufstandsstrategie verloren haben. Im vergangenen Monat wuchs die Kritik, als das Scheitern der amerikanischen Intervention in Mardschah offenbar wurde und die geplante Offensive in Kandahar, der zweitgrößten Stadt Afghanistans und Talibanhochburg, verschoben werden musste.
Dass Obamas Wahl als Ersatz für McChrystal auf Petraeus fiel, ist ein klarer Versuch, seine rechten Kritiker zu besänftigen. Petraeus leitete 2007-2008 die militärische Eskalation der USA im Irak. Diese Eskalation wird in herrschenden Kreisen als Rettung der dortigen US-Intervention gesehen, obwohl immer heute noch etwa 90.000 amerikanische Truppen präsent sind. Die Ernennung von Petraeus wurde schon im Vorhinein von dem neokonservativen Kolumnisten William Kristol vorgeschlagen und von rechten Medien als politische Meisterleistung gepriesen
Das zweite Schlüsselelement der McChrystal-Affäre ist eine Aussage über den inneren Zustand des amerikanischen Militärs. Im Offizierscorps und im Oberkommando hat sich eine kompakte Schicht entwickelt, die nur Verachtung für die zivile Leitung übrig hat. Selbst ihre eigentlichen Vorgesetzten sind von der militärischen Opposition stark eingeschüchtert.
Die Armee spielt im politischen Leben Amerikas eine immer stärkere Rolle. Dieser Prozess wird durch immer neue Kriege befördert. Das amerikanische Militär befindet sich seit fast neun Jahren unablässig im Kampf. Das ist die längste Periode in der amerikanischen Geschichte. Das Pentagon arbeitet unter der Doktrin eines "langen Krieges", die mehr oder weniger eine endlose Fortsetzung von Kriegshandlungen vorsieht.
Einige wenige aufmerksamere Pressekommentatoren haben auf diesen Aspekt der McChrystal-Affäre hingewiesen. Simon Tisdall schrieb im britischen Guardian : "Das respektlose Verhalten des US-Kommandeurs in Afghanistan und seiner Berater war symptomatisch für eine tiefer gehende und potentiell gefährliche Malaise, wie Analysten meinen. Man könnte die Ereignisse dieser Woche vielleicht einen sehr amerikanischen Putsch nennen."
Der liberale Juraprofessor an der Yale-Universität, Bruce Ackerman, schrieb in der Los Angeles Times über "ein zunehmend politisiertes Militär". Er argumentierte, dass die McChrystal-Affäre bedrohlicher sei als der Konflikt zwischen Truman und MacArthur 1951 mitten im Koreakrieg, der mit der Entlassung MacArthurs endete. McChrystal drückt die Stimmung eines Offizierscorps aus, das aufgrund einer politischen Auswahl in den letzten drei Jahrzehnten überwiegend der Republikanischen Rechten und den christlichen Fundamentalisten anhängt.
Ackerman beruft sich auf Umfragen, die zeigen, dass "eine Mehrheit der aktiven Offiziere der Meinung ist, hohe Offiziere sollten darauf bestehen, dass zivile Vorgesetzte ihre Ansichten akzeptieren müssen". "Nur 29 Prozent sind der Meinung, dass hohe Zivilisten und nicht hohe Militärs das letzte Wort darüber haben sollten, welche militärische Gewalt anzuwenden sei."
Die bedrohliche Bedeutung dieses Trends wurde aus zwei Berichten deutlich, die heute in der New York Times erschienen. Ein Artikel des Korrespondenten C.J. Chivers ging auf die wachsende Frustration von Feldoffizieren, Unteroffizieren und einfachen Soldaten in Afghanistan mit McChrystals Taktik zur Aufstandsbekämpfung ein. Diese besagt, dass im Namen der Reduzierung ziviler Opfer die Anwendung von westlicher Waffengewalt - Luftangriffe, Lenkraketen und sogar Granatenbeschuss - zur Unterstützung der Bodentruppen strengeren Regeln unterliegt.
Chivers behauptet, die Einsatzregeln hätten "das Risiko von afghanischen Zivilisten auf Soldaten des Westens verlagert". Das habe zu verbreiteter Unzufriedenheit bei den Truppen geführt, weil sie den Kampf gegen die Taliban und andere Aufständische mit gefesselten Händen führen müssten. Seine unterschwellige Schlussfolgerung lautet, dass die Ablösung McChrystals als Chance begrüßt werden sollte, die volle Macht der amerikanischen Waffen gegen die afghanische Bevölkerung zu entfesseln.
Ein Kommentar des Korrespondenten Robert Mackey auf der Web Site der Times nimmt sich den Artikel von Chivers vor und stellt die Frage: "Ist eine Kultur des Kriegs zwischen amerikanischen Soldaten und Zivilisten unvermeidlich?". Mackey weist auf die wachsende Kluft zwischen der amerikanischen Bevölkerung und einer Freiwilligenarmee hin, deren Führung zum großen Teil schon seit Generationen aus Offiziersfamilien stammt.
McChrystal selbst, schreibt er, war der Sohn eines Generalmajors, der in der amerikanischen Besatzung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg und später im Pentagon diente. Alle fünf Kinder McChrystals traten ins Militär ein oder heirateten hinein.
Solche Kommentare enthüllen immer stärker die Entstehung einer Militärkaste in den Vereinigten Staaten, die der Demokratie, ziviler Kontrolle über das Militär und jeder Opposition gegen den amerikanischen Imperialismus völlig feindlich ist gesinnt ist.
Die Entlassung McChrystals und die Ernennung von Petraeus ist kein Schlag gegen diesen Trend, sondern die Art und Weise, wie sich Obama und die Demokratische Partei an die Forderungen der Militärführung anpassen. McChrystals einziges Verbrechen - seine "falsche Einschätzung", wie Obama es nannte - bestand darin, die Stimmung in weiten Teilen des Offizierscorps zu plump und unachtsam auszuplaudern.