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Der amerikanische Liberalismus und die Wall Street

Von Barry Grey
20. Januar 2010
aus dem Englischen (16. Januar 2010)

In einem Leitartikel der New York Times vom 10. Januar mit dem Titel "Noch ein Komplott Amerika zu ruinieren" prangert der Kolumnist Frank Rich die kriminellen Machenschaften der Wall-Street-Manager an und kritisiert, dass sie behördlicherseits gedeckt werden. Völlig zutreffend stellt er fest, dass der verheerende, von Bankern angerichtete Schaden eine Bedrohung für die amerikanische Bevölkerung darstelle, "an dessen destruktives Potential kein Angriff von al-Qaida heranreichen kann."

Er schreibt: "Den Amerikanern muss vermittelt werden, wie die Wall Street gezockt hat, die Blase auf dem Wohnungsmarkt immer mehr aufblähte, sich wie Banditen aufführte und dann Millionen in den Ruin getriebene Haushalte sich selbst überließ."

Er beschuldigt beide Parteien, folglich auch die Regierung Obama, der Beihilfe und Unterstützung der Banken bei der Ausplünderung des Landes. Beispielsweise beschreibt er die Rolle von Clintons Finanzminister und früherem Citigroup-Manager Robert Rubin bei der Abschaffung der letzten Überbleibsel an Bankregulierungen aus der Ära Roosevelt. Er zeigt auch die Komplizenschaft von Obamas Finanzminister Timothy Geitner auf, der in aller Heimlichkeit Dutzende Milliarden Dollar von Steuerpflichtigen für die Rettungsaktion der Regierung für den Versicherungsgiganten AIG in die Kassen der Wall Street geschleust hat.

Rich zeichnet ein präzises Bild des amerikanischen politischen Systems, "in dem die Banken-Lobby in beiden Parteien die Regeln aufstellt und die Drehtür zwischen Hochfinanz und Regierung immer in Schwung bleibt."

Unter liberalen Kommentatoren, auch den Redaktions-Kollegen der New York Times, ist Rich Außenseiter. Er ist ein talentierter Schreiber und scharfer Beobachter, was sicher auch auf seine vorherige Tätigkeit als Theaterkritiker dieser Zeitung zurückzuführen ist.

Wenn es jedoch darum geht, die politischen Schlussfolgerungen aus seinem Portrait einer von der Finanzoligarchie dominierten Gesellschaft zu ziehen, bricht seine Analyse ein und er bringt nur noch Banalitäten zustande.

Wie lautet seine Antwort auf die gewissenlose und zerstörerische Bankendiktatur? Die eigenen Hoffnungen und das Schicksal des amerikanischen Volkes empfiehlt er, in die Hände eben jenes Zweiparteiengremiums im Kongress zu legen, welches erst kürzlich zum Zweck der behördlich untermauerten Schönfärberei gebildet wurde. "Vor diesem Hintergrund", so schreibt er, "sind die lang erwarteten öffentlichen Anhörungen diese Woche so unverzichtbar."

Kein ernsthafter Beobachter kann diesem Gremium im Geringsten vertrauen. Es wurde im letzten Mai von der Demokratischen Kongressführung gebildet, nachdem diese zur Rettung der Wall Street die Verdoppelung sowohl des Haushaltsdefizits als auch der Staatsverschuldung genehmigt hatte. Rich räumt ein, dass die Finanzierung des Gremiums lächerlich ist. Wie er darlegt, ist sein acht Millionen Dollar-Budget kleiner als die Summe, die die drei größten Banken in den ersten neun Monaten von 2009 für ihre Lobbyarbeit im Kongress zur Verhinderung einer ernsthaften Bankenreform springen ließen.

Im Ergebnis bot die erste Anhörung der Kommission am Mittwoch den Bankern, die ihren willfährigen Fragestellern in der Kommission den Ton vorgaben, eine weitere Gelegenheit für Ausflüchte und Lügen.

Der ins Auge springende merkwürdige Kontrast zwischen Richs Fähigkeit zur scharfsinnigen Beschreibung der amerikanischen Gesellschaft und seinen intellektuell und politisch armseligen Schlussfolgerungen weist nicht nur auf seine individuellen Grenzen hin, sondern viel mehr auf das Schicksal des liberalen Denkens in ganz Amerika.

Vor hundert Jahren war allgemein anerkannt, dass die Wurzeln von Armut, Ausbeutung und politischer Korruption in der Natur des kapitalistischen Systems zu finden seien. Unzählige liberale und linke Köpfe verstanden ganz genau, dass das Profitsystem sozial fortschrittlichen und demokratischen Werten widerspricht. Enthüllungsjournalisten wie Upton Sinclair und Ida Tarbell lieferten, obwohl sie wirklich keine Revolutionäre waren, mit ihren brillanten Reportagen über die Verbrechen des Big Business einen Beitrag zur Entfaltung sozialistischen Bewusstseins.

In den 1920er und 1930er Jahren forderte der liberale Philosoph und Erzieher John Dewey, dass sich der Liberalismus von kapitalistischem Privatbesitz und Profitproduktion distanzieren müsse. Er pochte auf die Unvereinbarkeit liberaler Wertvorstellungen mit der kapitalistischen Wirtschaftsweise.

Dewey kritisierte Roosevelts New Deal von links, und beschrieb ihn völlig zutreffend als Palliativum, das die Struktur der amerikanischen Gesellschaft nicht grundsätzlich ändere. Von liberalem Gedankengut ausgehend, trat er für eine sozialistische, durch reformistische Maßnahmen anzustrebende Perspektive ein.

In dem Aufsatz Die Krise des Liberalismus schrieb Dewey1935: "Gesellschaftliche Planung mit dem Ziel eine Ordnung zu schaffen, in der Industrie und Finanzwesen gesellschaftliche Institutionen dabei unterstützen, die materielle Basis für die kulturelle Befreiung und Entfaltung der Individuen zur Verfügung zu stellen, ist heute die einzig mögliche gesellschaftliche Tätigkeit, mit der der Liberalismus seine erklärten Ziele erreichen kann."

Im Jahr darauf schrieb er: " Ein humaner Liberalismus, der überleben will, muss aufhören, sich mit Symptomen zu befassen und anstatt dessen Ungleichheit und Unterdrückung an der Wurzel packen. Um unter den vorgegebenen Bedingungen Bestand zu haben, muss sich der Liberalismus radikalisieren, und zwar in dem Sinne, dass er seinen sozialen Einfluss zur Umwandlung des Systems einsetzt, anstatt ihn zu nutzen, um die schrecklichen Folgen des bestehenden Systems lediglich abzumildern."

Die mit Dewey assoziierte radikale Strömung des Liberalismus war voller Fehleinschätzungen und keineswegs umsetzbar. Als führender Vertreter des Pragmatismus, einer Variante der idealistischen Philosophie, lehnte Dewey die materialistische Geschichtsauffassung und den Klassenkampf ab. Sein Ideal eines nicht revolutionären Übergangs, eine Art Sozialismus auf dem Gesetzgebungsweg, u.ä., waren schon mit dem Eintritt der USA in den 2. Weltkrieg durch die historischen Ereignisse überholt worden.

Auch die prinzipiellsten Vertreter des amerikanischen Liberalismus waren theoretisch und programmatisch unfähig, die Beschränktheit kleinbürgerlicher Perspektiven zu überwinden. Dies bereitete den Boden dafür, dass der amerikanische Liberalismus vom US-Imperialismus vereinnahmt werden konnte.

Mit dem Aufstieg der USA zur führenden Weltmacht nach dem Krieg, begaben sich die amerikanischen Liberalen größtenteils auf Linie mit der nach globaler Hegemonie strebenden herrschenden Klasse. Dies nahm im Innern der USA die reaktionärsten Formen an. Der amerikanische Liberalismus stellte sich hinter die Institutionen des Überwachungsstaates und unterstützte den bösartigen Angriff auf sozialistische Auffassungen, der den Übergang zum Kalten Krieg gegen die Sowjetunion begleitete.

Führende Liberale lieferten eine "demokratische" Rechtfertigung für die antikommunistische Hexenjagd und unterstützten die Säuberungen von Sozialisten und Linken in den Gewerkschaften, im Film- und Unterhaltungssektor, in Schulen, sowie im akademischen Bereich.

Der Schaden, den das Nachkriegsbündnis der Liberalen mit den reaktionärsten Kräften der amerikanischen Elite am politischen, intellektuellen und kulturellen Leben Amerikas angerichtet hat, war unermesslich und wirkt immer noch zersetzend und lähmend nach.

In den 1960ern begann die Rebellion gegen die erstickende und repressive Hinterlassenschaft der Ära McCarthy. Dies ging mit dem Aufkommen revolutionärer Kämpfe der Arbeiterklasse auf internationaler Ebene Ende der 1960er Jahre- am bedeutsamsten war der französische Generalstreik 1968 - und dem Aufschwung der amerikanischen Arbeiterbewegung und der studentischen Jugend einher.

Der Verrat dieser Kämpfe durch stalinistische, sozialdemokratische und Gewerkschaftsbürokratien erlaubte es dem Kapitalismus sich wieder zu stabilisieren und Ende der 1970er und in den 1980er Jahren eine erneute Offensive anzutreten. Bedeutende Teile der Liberalen erlebten, wie ihr persönlicher Reichtum als Ergebnis ihrer politischen Zusammenarbeit mit Reagan und seinen Nachfolgern beträchtlich anwuchs. Diese Änderung ihrer sozialen Lage wiederum fand ihren politischen Ausdruck in einem beschleunigten Rechtsschwenk.

Der amerikanische Liberalismus passte sich an den freien Markt, das Patentrezept der Rechten, sowie an das rasche Anwachsen sozialer Ungleichheit an und schwor jeglichem ernsthaften Programm für soziale Reformen ab.

Rich ist ein Produkt dieser historischen Entwicklung. Die von ihm vorgeschlagenen, politisch substanzlosen Rezepte sind objektiv gesehen nur der Widerschein des Bankrotts des Liberalismus.

Außer der Mobilisierung der Arbeiterklasse auf Grundlage eines revolutionären Programms zur Abschaffung des Privatbesitzes an den Produktionsmitteln und der gesellschaftlich verheerenden Anhäufung individuellen Reichtums durch die Finanzoligarchie, gibt es keine Lösung für die Krise der amerikanischen Gesellschaft.

Siehe auch:
Banken und Sozialismus
(16. Januar 2010)