Europawahl
Trittin verteidigt die Politik der rot-grünen Regierung
Von unserem Korrespondenten
30. Mai 2009
Am Mittwochabend bewies der grüne Bundestagswahl-Spitzenkandidat Jürgen Trittin einmal mehr, dass die Grünen von den Sorgen und Nöten der Masse der Bevölkerung völlig abgehoben sind und sich als Vertreter der Besserverdienenden verstehen.
Trittin kam im Rahmen des Europawahlkampfs auf Stippvisite nach Duisburg und verteidigte die Politik der rot-grünen Regierung und der Europäischen Union vehement gegen kritische Fragen.
Vor 25 Jahren wäre Trittins Besuch ein Heimspiel vor zahlreichen Anhängern geworden. Er besuchte die ehemalige Studentenkneipe "Finkenkrug", unweit der Duisburger Universität im Stadtteil Neudorf, die in den 1970er Jahren als "Kneipen-Kollektiv" entstanden war. In Duisburg gab es damals noch Zechen und das Thyssen-Stahlwerk mit zigtausenden Arbeitern. Im Uni-Viertel erzielten die Grünen zu jener Zeit ihre besten Wahlergebnisse.
Heute ist Duisburg tief gespalten. Ganze Stadtteile versinken in Armut und Elend, die letzte Zeche ist geschlossen, ThyssenKrupp baut von den noch übrig gebliebenen Beschäftigten weitere Tausende ab. Auf der anderen Seite entstehen neue, modische Einkaufszentren und Flaniermeilen, und Kneipen- und Büroviertel werden aus dem Boden gestampft. Die jahrelange SPD-Alleinherrschaft im Stadtrat ist seit vier Jahren beendet. Duisburgs halbe Million Einwohner werden von einer Koalition aus CDU und Grünen regiert.
Am Mittwoch kamen zwanzig bis dreißig Grünen-Mitglieder und etwa ebenso viele Sympathisanten, um Trittin zu sehen. Viele der zufälligen Gäste wunderten sich, warum auf den Fernsehschirmen Trittin übertragen wurde, und nicht das Finale der Fußball-Champions-League.
Trittin begann mit einem Erklärungsversuch, warum man seine Stimme in der Europawahl den Grünen geben sollte. Er vermied es, dieses schon heute ohnmächtige Parlament als bedeutsam hinzustellen, behauptete aber, in Zukunft werde es mehr Rechte und parlamentarische Kontrollmechanismen haben. Und dann müssten die Grünen mit gewichtiger Stimme im Parlament vertreten sein, um diese Kontrolle ausüben zu können. Grundlage dieses Wandels sei der Lissabonvertrag der EU, den er vehement verteidigte. Kritiker stellte er in eine Ecke mit dem notorisch rechten CSU-Politiker Peter Gauweiler.
Die EU und ihr riesiger bürokratischer Apparat in Brüssel vertreten wie keine andere Institution die Interessen der mächtigsten europäischen Finanz- und Wirtschaftsgruppen. Im Namen des freien Wettbewerbs diktieren sie den Abbau von Arbeitnehmerrechten, organisieren die soziale Umverteilung und verteidigen - auch mit militärischen Mitteln - europäische Großmachtinteressen.
Der Vertrag von Lissabon entspringt dem Wunsch dieser Mächte, einen politischen, diplomatischen und militärischen Apparat für den EU-Handels und -Währungsblock zu schaffen, um ihren wichtigsten Konkurrenten, den Vereinigten Staaten, Russland und China, Paroli zu bieten. Zudem beinhaltet der Vertrag Regelungen, die es den "Großen Vier" der EU - Frankreich, Großbritannien, Deutschland und Italien - erlauben, die Entscheidungsfindung in der Gemeinschaft zu dominieren.
Trittin wiederholte seine Standpunkte, die er schon auf dem Grünen-Parteitag in Berlin Anfang Mai zum Besten gegeben hatte. Er geißelte "unregulierte Banken und deregulierte Märkte". Die Politik der Deregulierung gefährde Arbeitsplätze. Dagegen habe sein Einsatz für erneuerbare Energien als Umweltminister in der Bundesregierung von Gerhard Schröder (SPD) Arbeitsplätze geschaffen. Die Grünen und ihr "Green New Deal" werde den "Kapitalismus dämpfen" und "ihn vor dem Selbstmord retten". Die Börsenumsatzsteuer in Höhe von 0,5 Prozent solle die Gefahr von Spekulationsblasen vermindern.
Trittin erklärte die Grünen gar zur Partei, die für soziale Gerechtigkeit stehe.
Wohlgemerkt: Er sprach dabei von der Partei, die mit der SPD gemeinsam in der rot-grünen Regierungszeit die Hartz-Gesetze und die Agenda 2010 durchsetzte, die Steuern für Konzerne und Spitzenverdiener senkte und für eine nachgewiesen, nie zuvor erreichte soziale Ungleichheit verantwortlich ist.
Trittin sprach etwa dreißig bis vierzig Minuten. Anschließend machte die grüne Bürgermeisterin Doris Janicki sofort klar, dass eine Diskussion nicht erwünscht sei. "Aber ein paar Fragen kann der Jürgen ja beantworten."
Drei Zuhörer meldeten sich, darunter der Europawahlkandidat der Partei für Soziale Gleichheit (PSG), Dietmar Gaisenkersting. Er fragte, wie Trittin die Politik der rot-grünen Regierung von 1998 bis 2005 heute einschätze. Wenn er heute gegen deregulierte Märkte auftrete, dann müsse doch festgehalten werden, dass Rot-Grün diese Deregulierung durchgesetzt habe. Wie sei es möglich, die Grünen als sozial gerecht darzustellen, wenn sie doch für Hartz IV und Agenda 2010 mit verantwortlich seien?
Gaisenkersting wurde, wie auch die beiden anderen Fragesteller, mehrmals von Janicki und den Grünen im Publikum unterbrochen und aufgefordert, nur eine Frage zu stellen, und nicht seine Meinung zu äußern. Dennoch stellte er noch eine Frage zum Schluss: "Wie lässt sich die Behauptung, die Grünen würden als parlamentarische Kontrolle gebraucht, mit dem Bankenrettungsplan vereinbaren? Dessen Durchsetzung haben die Grünen schließlich ermöglicht, indem sie auf alle gesetzlichen Fristen und parlamentarischen Kontrollmechanismen freiwillig verzichteten."
Ein weiterer Zuhörer machte Trittin klar, dass es gute Gründe gibt, gegen den Lissabonvertrag zu sein, ohne gleich in die Ecke Gauweilers zu gehören. Auch die Haltung der Grünen zu Kriegseinsätzen wurde kritisch hinterfragt.
Trittin blieb bei seiner Linie und behauptete, wer gegen den Lissabon-Vertrag sei, sei Nationalist. Er verschwieg den Einsatz in Afghanistan, im Kosovo oder anderen Kriegsgebieten, und verteidigte die internationalen Kriegseinsätze der Bundeswehr mit dem Blauhelm-Einsatz von "75 Offizieren, die im UN-Auftrag im Südsudan die Einhaltung des Friedensvertrags überwachen". Eine Zuhörerin fragte empört: "Und was ist mit Kosovo und Serbien?" Diese Frage überhörte Trittin.
Auch auf die Fragen des PSG-Kandidaten ging er nur ganz kurz ein. "Hartz IV, die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, war absolut notwendig", sagte er. "Wir haben damit nicht Armut geschaffen, sondern sie nur ans Tageslicht geholt." Zuvor sei die Armut verdeckt gewesen.
Ganz im Sinne des deutschen Obrigkeitsstaats, der Almosen gewährt, erklärte er, durch Hartz IV seien die Staatsausgaben für die Armen um "zehn Milliarden Euro gestiegen".
Diesen staatlichen Segen hätte er den Bewohnern benachbarter Duisburger Stadtteile, in denen 70.000 Hartz-IV-Empfänger leben, wohl kaum plausibel machen können. Dort ist die Armut mit Händen zu greifen. Gerade unter den meist türkischen Migranten leben in einigen dieser Bezirke die Hälfte der Menschen von Hartz IV. Im Stadtteil Bruckhausen, einem fast ausschließlich von türkischen Familien bewohnten Viertel, gehen nur 18 Prozent der unter 25-Jährigen einem sozialversicherungspflichtigen Job nach.
"Wir haben den Eingangssteuersatz gesenkt", fuhr Trittin fort. Er überhörte geflissentlich die Frage des PSG-Kandiaten, ob er sich auch noch zum Spitzensteuersatz äußere. Der Spitzensteuersatz lag in Zeiten der Regierung von Helmut Kohl (CDU) bei 53 Prozent, nach der rot-grünen Regierungszeit nur noch bei 42 Prozent.
Bei der Frage nach der Deregulierung der Märkte konnte er nicht kneifen und leugnete auch nicht seine eigene Verantwortung. "Bei zwei Gesetzen muss ich ihnen Recht geben", sagte er. Er gab zu, dass die Grünen der Steuerbefreiung auf Veräußerungsgewinne und der Einführung der Verbriefung von Krediten in Deutschland zugestimmt hatten. Letztere war für die in den USA geplatzte Immobilien-Spekulationsblase verantwortlich. Dies sei ein Fehler gewesen. "Aber wir haben da unter starkem Druck handeln müssen", sagte Trittin.
Trittin vermittelte das Bild einer Partei, die dem Druck der Finanzaristokratie bei jeder Gelegenheit nachgibt - wie zuletzt beim Bankenrettungspaket, auf das Trittin nicht einging -, aber dem Druck der Armen eisern standhält. Immerhin ist das Hartz-IV-Gesetz gegen den Willen und den Protest von Hunderttausenden durchgesetzt worden.
Vor fast dreißig Jahren sind die Grünen als linke Alternative zur SPD angetreten. Heute unterdrücken die ehemaligen "Basisdemokraten" die Diskussion, verteidigen vehement eine Politik, die zur größten sozialen Ungleichheit in der deutschen Nachkriegsgeschichte geführt hat, und fallen vor jedem Wink der Finanzaristokratie in den Staub. Die Grünen sind politisch und sozial die Partei der oberen Mittelschicht. Sie sprechen für eine Schicht, die in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren zu Wohlstand gekommen ist und angesichts der Wirtschaftskrise mit Feindschaft auf die arbeitende Bevölkerungsmehrheit reagiert.