WSWS : WSWS/DE : Aktuelle Analysen : Amerika : Nordamerika : US-Gesellschaft

Obama Clinton und Identitätspolitik

Von Patrick Martin
12. Juni 2008
aus dem Englischen (9. Juni 2008)

Der Sieg von Senator Barack Obama bei den Vorwahlen um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten wird von den amerikanischen Medien und dem politischen Establishment als Beweis für den progressiven und demokratischen Charakter der amerikanischen Politik und Gesellschaft gelobt.

Obama ist der erste Afroamerikaner, der von einer der beiden großen Parteien der Wirtschaft zum Präsidentschaftskandidaten bestimmt wurde. Seine Hauptrivalin, Senatorin Hillary Clinton, die er nach einem langen Vorwahlkampf knapp besiegte, ist die erfolgreichste weibliche Kandidatin aller Zeiten in einem Rennen um die Präsidentschaft.

Clinton kam in ihrer Rede am Samstag, in der sie offiziell ihren Rückzug aus dem Rennen erklärte und Obama ihre Unterstützung zusagte, auf die Identitätspolitik zu sprechen. Ihre Rede wurde von der Demokratischen Parteiführung und von den Medien mit begeistertem Applaus begrüßt.

In ihrer gesamten, 28-minütigen Ansprache schilderte Clinton ihren Wahlkampf als eine Pioniertat für die Rechte der Frauen, die, wenn sie auch ihr letztes Ziel nicht erreicht habe, doch ein Schritt vorwärts bedeute. "Während wir uns heute hier versammeln, schwebt schon die 50. Frau über uns im Orbit", erklärte sie. "Wenn wir in der Lage sind, 50 Frauen in den Weltraum zu schießen, dann werden wir eines Tages auch in der Lage sein, eine Frau ins Weiße Haus zu schicken."

Am deutlichsten formulierte Clinton die feministische Begründung für ihre Kampagne, als sie sagte: "Ich war stolz, als Frau zu kandidieren, obwohl ich in erster Linie kandidiert habe, weil ich glaubte, die beste Präsidentin zu werden. Aber ich bin eine Frau, und wie Millionen anderer Frauen weiß ich, dass es immer noch, oft unbewusst, Barrieren und Vorurteile in der Gesellschaft gibt, und ich will, dass Amerika das Potential jeder einzelnen von uns anerkennt und respektiert. Wir müssen dafür sorgen, dass Frauen und Männer gleichermaßen die Kämpfe ihrer Großmütter und Mütter verstehen, und dass Frauen gleiche Chancen, gleiche Bezahlung und gleichen Respekt genießen."

Gleichzeitig lobte sie Obamas Wahlkampf als ebenso bahnbrechend. "Als wir begannen, stellten die Leute überall die gleichen Fragen. Taugt eine Frau wirklich zum Oberbefehlshaber? Nun, ich denke, wir haben das beantwortet. Kann ein Afroamerikaner wirklich unser Präsident sein? Und Senator Obama hat darauf die Antwort gegeben. Zusammen haben Senator Obama und ich einen Meilenstein gesetzt, der für unseren Fortschritt als Nation entscheidend ist. Das gehört zu unserer ewigen Pflicht, eine vollkommenere Union zu schaffen."

Obama schlug denselben Ton an, als er sagte: "Ich bin begeistert und geehrt, die Unterstützung von Senatorin Clinton zu haben. Und mehr als das, ich zolle ihr heute meinen Respekt für ihre kraftvolle und historische Kampagne. Sie hat Barrieren zum Nutzen meiner Töchter und von allen Frauen eingerissen, die jetzt wissen, dass es für ihre Träume keine Grenzen gibt."

Die amerikanischen Medien versuchen den Eindruck zu erwecken, ein afroamerikanischer Mann und eine Frau als führende Präsidentschaftskandidaten bedeuteten einen gesellschaftlichen Fortschritt für die große Bevölkerungsmehrheit. Und dies obwohl Obama von mächtigen Wirtschaftskreisen sorgfältig gefördert wurde und Hillary Clinton ihre politische Prominenz der Ehe mit dem ehemaligen Präsidenten verdankt.

Der Kolumnist Bob Herbert brachte diese unkritische Haltung in einem Kommentar mit der Überschrift "Genießt den Moment" zum Ausdruck, der am 7. Juni in der New York Times erschien. Herbert stellte dem Wettstreit zwischen Obama und Clinton von 2008 den Rassismus und Sexismus im Amerika von 1968 gegenüber, als George Wallace sich als unabhängiger Kandidat mit einem Programm der Rassentrennung um die Präsidentschaft bewarb, und als Frauen noch weitgehend von der Politik und vielen Berufen ausgeschlossen waren.

"Rassismus und Sexismus sind seither nicht verschwunden", schreibt Herbert. "Aber die Tatsache, dass Barack Obama Kandidat der Demokratischen Partei ist, und dass die beiden Finalisten in diesem Wettbewerb ein schwarzer Mann und eine weiße Frau waren, ist ein historisches Ereignis von größter Tragweite. Wir sollten für das Wunder dieses Moments nicht unempfindlich sein."

Der Kolumnist schließt mit den Worten: "Wir werden sehen, ob Obama zum Präsidenten gewählt wird. Aber gleich, ob er gewählt wird oder nicht, ist dies ein Moment, auf den die Amerikaner stolz sein können, ein Moment, auf dem die Gesellschaft aufbauen kann. Eine Ehrenrunde ist also in Ordnung. Nicht für Senator Obama (er hat noch einen ordentlichen Weg vor sich), sondern für all jene, die sich in ihrem ganzen Leben geweigert haben, Hass und Unterdrückung schweigend zu tolerieren. Sie haben uns den Weg zu einer besseren Welt gezeigt."

Wie sieht diese "bessere Welt" wirklich aus? Was ist die wirkliche Bilanz der amerikanischen Gesellschaft in den vierzig Jahren seit 1968? Zweifellos gibt es heute weniger offen rassistische und sexistische Vorurteile. Aber in einem tieferen sozialen und wirtschaftlichen Sinn herrscht in Amerika heute mehr Ungleichheit als je seit den Tagen der industriellen Raubritter im späten neunzehnten Jahrhundert.

Das oberste Prozent der amerikanischen Gesellschaft besitzt mehr als 45 Prozent des Reichtums. Das oberste Zehntel Prozent hat sich fast den gesamten Zuwachs des nationalen Reichtums während der letzten zwei Jahrzehnte unter den Nagel gerissen. Die große Mehrheit der Menschen hingegen musste eine Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen hinnehmen. Ihre Arbeitsplätze und ihre gesamte soziale Lage wurden immer unsicherer.

Für schwarze Arbeiter und Jugendliche war der Abstieg noch steiler. Es wird kaum nötig sein, die bekannten Zahlen zu wiederholen: Mehr junge schwarze Männer sitzen im Gefängnis als im College, die Schulen und sozialen Dienste in den Innenstädten verfallen, die Armut ist wieder fast auf dem Niveau der 1960er Jahre angelangt. Die Arbeitslosigkeit ist unverhältnismäßig hoch, und es herrschen Drogenmissbrauch, Gewalt, Obdachlosigkeit und andere gesellschaftliche Geißeln.

Diese Polarisierung wird bis zu einem gewissen Maß durch den Aufstieg einer schmalen Schicht von Schwarzen, Frauen, Schwulen, Hispanics usw. in die privilegierte Elite verdeckt. Aber der Aufstieg von Oprah Winfrey, Tiger Woods, Barack Obama (oder auch Hillary Clinton) macht Amerika nicht zu einer weniger ungleichen Gesellschaft.

Ein Farbiger wie Colin Powell als Vorsitzender des Joint Chiefs of Staff während des Golfkriegs von 1991, oder eine schwarze Frau wie Condoleezza Rice als Nationale Sicherheitsberaterin und aktuelle Außenministerin während des Irakkriegs ändern nichts am imperialistischen und räuberischen Charakter dieser Kriege. Auch machte die Tatsache, dass ein Afroamerikaner (Vorstandschef Stanley O’Neal) an der Spitze von Merrill-Lynch stand, den Zusammenbruch des Subprime-Hypothekenmarktes für Millionen gering verdienender Kreditnehmer nicht erträglicher, (und überdurchschnittlich viele von ihnen gehören einer Minderheit an).

Herbert erinnert an 1968, lässt aber die klassenbewusste politische Reaktion der herrschenden Elite Amerikas auf die damaligen sozialen Unruhen außer Acht. Diese griff ganz bewusst zu der Taktik, eine Schicht von Schwarzen in die Mittelschicht zu rekrutieren, um sie zu "Vertretern" ihrer Community aufzubauen. Die grundlegende soziale Struktur Amerikas blieb dabei unangetastet.

Die großen Städte, die Schauplätze der Ghetto-Aufstände der 1960er Jahre waren, wurden in großem Umfang an afroamerikanische Bürgermeister übergeben. Eine Schicht von schwarzen und hispanischen Kongressabgeordneten kam in Amt und Würden und entwickelte sich zu einer wichtigen Stütze für die Demokratische Partei. Ähnliche Prozesse fanden in den Medien, der Gewerkschaftsbürokratie und vielen Unternehmen statt.

Zu den bewusstesten Befürwortern dieses Prozesses gehörte Richard Nixon. Seine Regierung hat das Konzept der "affirmative Action" (positiven Diskriminierung) als erste umgesetzt, was inzwischen ziemlich in Vergessenheit geraten ist. Er verfolgte das Ziel, eine privilegierte schwarze Mittelschicht zu rekrutieren und zu kooptieren. Mit unnachahmlichem Zynismus kombinierte Nixon diese Politik mit einer Strategie, die auf die Gegenreaktion weißer Rassisten setzte, um besonders im Süden die Wählerbasis der Republikaner zu stärken.

Die gleichzeitige Bedienung von Rassenvorurteilen und Identitätspolitik war kein Zufall. Die offizielle Förderung der Identitätspolitik hatte - und hat bis heute - hauptsächlich das Ziel, die arbeitende Bevölkerung zu spalten und die Aufmerksamkeit von den tieferen gesellschaftlichen und ökonomischen Ursachen von Armut, Ausbeutung und Unterdrückung abzulenken.

Herbert ignoriert in seinem Artikel, wie die meisten Kommentatoren bürgerlicher Medien, die entscheidende Spaltung in der amerikanischen Gesellschaft - die Klassenspaltung.

Ohne Zweifel wird die Nominierung Obamas genutzt werden, um in breiten Schichten Illusionen in den demokratischen Charakter der amerikanischen Gesellschaft zu schüren. Das wird natürlich noch viel stärker der Fall sein, sollte Obama Präsident werden. Die gesellschaftliche Realität sieht aber völlig anders aus.

Eine Regierung Obama wird die Interessen der in Amerika herrschenden Finanzoligarchie vertreten. Viele Millionen Arbeiter - schwarze, weiße, hispanische und asiatische, Männer und Frauen - werden diese gesellschaftliche Realität im Verlauf von explosiven und erbitterten Kämpfen erkennen.

Siehe auch:
Die Vorwahlen in Pennsylvania und die Krise der Demokratischen Partei
(30. April 2008)
Obama-Clinton Debatte: Medien versuchen Demokraten nach rechts zu drücken
(23. April 2008)
Die zwei Gesichter des Barack Obama
(16. Februar 2008)