Soziale Misere in Hessen
PSG fordert Grundeinkommen von 1.500 Euro monatlich für alle
Von Markus Salzmann und Marianne Arens
25. Januar 2008
Wenige Tage vor der Landtagswahl in Hessen hat der gegenwärtige CDU-Ministerpräsident und Spitzenkandidat Roland Koch massiv an Unterstützung verloren. Den neuesten Umfragen zufolge könnte die CDU-Regierung in den Wahlen kommende Woche die Quittung für ihre rechte Politik erhalten.
Das Forsa-Institut ermittelt jetzt nur noch 38 Prozent Unterstützung für die CDU von Roland Koch gegenüber 39 Prozent für die SPD von Andrea Ypsilanti. Eine ARD-Umfrage von Infratest Dimap sieht CDU und FDP bei 46 Prozent, während SPD, Grüne und Linkspartei zusammen auf 50 Prozent kämen. Im direkten Personenvergleich zu seiner Kontrahentin schneidet Koch noch schlechter ab: 48 Prozent würden sich für Ypsilanti entscheiden, zehn Prozent mehr als für Koch.
Koch hatte in den letzten Wochen versucht, mit einer üblen Kampagne gegen ausländische Jugendstraftäter den sinkenden Umfragewerten entgegen zu wirken. Anders als 1999, als er sich mit einer rassistischen Initiative gegen die doppelte Staatsbürgerschaft durchsetzen konnte, scheint seine Rechnung diesmal nicht aufzugehen.
Zu offensichtlich ist das Ergebnis nach neun Jahren Koch-Regierung. Der CDU-Mann stand von jeher am rechten Flügel der Unionspartei. Gerade seine hessische Landesregierung steht für eine harte Law-and-Order- und restriktive Ausländerpolitik, für drastische soziale Kürzungen und gleichzeitig für einen Neoliberalismus, der sich ausschließlich nach den Interessen der Wirtschaftsverbände richtet. So ist der Wunsch, Koch und seine rechte Regierung nach acht Jahren los zu werden, sicherlich berechtigt.
Es steht jedoch außer Zweifel, dass auch eine SPD-geführte Landesregierung keine bessere Politik verfolgen wird. Schließlich hat gerade die rot-grüne Schröder-Regierung in Berlin mit Agenda 2010 und Hartz-IV den beispiellosen Sozialabbau in Gang gesetzt, der zu Arbeitslosigkeit und Armut im großen Stil geführt hat. In der Bundesregierung sitzt die SPD einträchtig mit der CDU am Kabinettstisch der Großen Koalition. Das Land Berlin, das von einer SPD-Linkspartei-Kolation geführt wird, steht bezüglich der Ein-Euro-Jobs und anderer sozialer Grausamkeiten Hessen in keiner Weise nach.
Eine wachsende Schicht von Arbeitern, Arbeitslosen und Jugendlichen ohne Ausbildung wendet sich von allen Parteien ab und sucht nach einer fortschrittlichen Alternative. Ihnen bietet die Wahlteilnahme der Partei für Soziale Gleichheit (PSG) die Möglichkeit, die politischen Perspektiven der Vierten Internationale kennen zu lernen und sich am Aufbau einer internationalen Arbeiterpartei zu beteiligen, die sich auf ein sozialistisches Programm stützt.
Sparkurs und soziales Elend
Zahlen über die soziale Misere sind nicht leicht zugänglich. In Hessen gibt es keinen Armutsbericht, denn die hessische Landesregierung erachtet es nicht für notwendig, einen solchen vorzulegen. Auch schon die frühere, rot-grüne Landesregierung zog es vor, keinen solchen Bericht zu erstellen.
Doch schon die offiziell zugänglichen Zahlen des Hessischen Statistischen Landesamtes sprechen eine deutliche Sprache. In Hessen ist die Arbeitslosigkeit von 1986 bis 2005 von 6,8 Prozent auf über zehn Prozent angestiegen. Die Zahl der arbeitslosen Männer hatte sich in diesem Zeitraum verdoppelt. Seit dem Jahr 2000 ist die Anzahl jugendlicher Arbeitsloser um 18 Prozent gestiegen.
Der viel gepriesene Wirtschaftsaufschwung des vergangenen Jahres, in dessen Verlauf die Arbeitslosigkeit offiziell wieder auf unter acht Prozent abgesunken ist, zeigt ein völlig verändertes Arbeitsplatzbild: Die neu entstandenen Arbeitsplätze sind zum großen Teil befristete, schlecht bezahlte Jobs ohne Zukunftsaussichten. Ein so genanntes "Prekariat" ist entstanden. Unbefristete, versicherungspflichtige und vernünftig bezahlte Arbeitsplätze sind so schwer zu finden wie die sprichwörtliche Stecknadel im Heuhaufen.
In Frankfurt, dem Sitz namhafter Konzernzentralen, der Zentralbank und rund 250 verschiedener Bankhäuser müssen rund 70.000 Menschen, das sind elf Prozent der Frankfurter Bevölkerung, von Arbeitslosengeld II leben. Darunter sind 8.000 "working poor", die trotz Arbeit so wenig verdienen, dass sie ergänzend ALG II beantragen müssen.
Besonders prekär ist die Situation vieler Rentner. Während die gesetzliche Rente im Bundesdurchschnitt 1061 Euro beträgt, liegt sie einem Bericht der Jungen Welt zufolge ausgerechnet in der reichen Finanzmetropole Frankfurt mit 791 Euro wesentlich unter dem Bundesdurchschnitt.
In Hessen, einem der reichsten Bundesländer der Republik, in dem das Bruttoinlandsprodukt mit 33.614 Euro pro Einwohner im Bundesdurchschnitt sehr hoch liegt, sind rund 250.000 Menschen auf Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe angewiesen. Jedes vierte Kind ist von Armut betroffen.
Noch nie zuvor waren in Hessen so viele Menschen in so schlechter finanzieller Lage wie heute. Der Durchschnittslohn hat sich seit zwanzig Jahren nicht erhöht, während fast alle Preise - Strom, Gas, Benzin, Medikamente, Mieten, Fahrpreise etc. - in diesem Zeitraum erheblich gestiegen sind.
Diese Entwicklung führt natürlich dazu, dass sich viele Haushalte stark verschulden. Die Stadt Offenbach gilt nach dem Schuldenatlas der Wirtschaftsauskunft Creditreform hinter Bremerhaven als die Stadt mit der zweithöchsten Privatverschuldung ihrer Einwohner. Hier sind zwanzig Prozent aller Haushalte, das heißt jeder fünfte, überschuldet.
Nach Angaben des hessischen Sozialministeriums liefen in Offenbach Ende 2006 427 Insolvenzverfahren gegen Privatpersonen. Dies entsprach 358 Verfahren je 100.000 Einwohner. Auch in Frankfurt gab es 1.234 Verfahren. In Kassel kamen auf 100.000 Einwohner 234 verschuldete Haushalte, im Werra-Meißner-Kreis 230. Auch die Landeshauptstadt Wiesbaden lag mit 176 Privatinsolvenzen je 100.000 Einwohner deutlich über den Durchschnittswerten der gesamten Bundesrepublik mit 166.
Von der drastischen Kürzungspolitik der öffentlichen Haushalte werden die sozial Schwächsten am Schlimmsten getroffen. Es fehlen Gelder für Schulen, Bibliotheken, Alteneinrichtungen, Schwimmbäder etc., und zahlreiche Einrichtungen wurden schon geschlossen. Seit 2003 sind laut Angaben von Sozialverbänden eine Milliarde Euro gestrichen worden, wovon besonders Erziehungsberatungsstellen, Volkshochschulen, Frauenhäuser und die Drogenhilfe betroffen sind. Bei den Schuldnerberatungsstellen sind jährliche Landeszuschüsse über zwei Millionen Euro gestrichen worden.
Eine sozialistische Antwort
Es versteht sich, dass der Wahlaufruf der Partei für Soziale Gleichheit (PSG) mit dem Titel "Für eine sozialistische Antwort auf die soziale Katastrophe" auf beachtliches Interesse stößt. In den wenigen Tagen vor der Wahl sind zwanzigtausend Manifeste verteilt worden.
Darin heißt es: "Arbeit, Renten, Krankenversorgung und Bildung sind soziale Grundrechte. Sie müssen Vorrang vor den Profitinteressen der Unternehmen haben. Zur Überwindung der Arbeitslosigkeit ist ein umfassendes staatliches Arbeitsbeschaffungsprogramm erforderlich, das Millionen von Arbeitsplätzen in gesellschaftlich wichtigen Bereichen wie Bildung, Kranken- und Altenpflege, Kultur und dem Ausbau der Infrastruktur schafft.
Wir fordern ein Grundeinkommen von mindestens 1.500 Euro monatlich für alle, eine hochwertige, staatlich finanzierte Gesundheitsversorgung und Vorsorge, sowie kostenlose Bildung und Bildungschancen bis zum Universitätsabschluss für alle.
Ein solches Sozialprogramm setzt voraus, dass die Wirtschaft im Interesse der Gesellschaft rational organisiert und nicht den Profitinteressen der mächtigsten Kapitalistengruppen unterworfen wird. Die großen Konzerne und Finanzinstitute müssen in gesellschaftliches Eigentum überführt und demokratisch kontrolliert werden. Kleinen und mittelständischen Unternehmen, die ums Überleben kämpfen, muss Zugang zu kostengünstigen Krediten gewährt werden, die eine reguläre Bezahlung der Beschäftigten ermöglichen.
Hohe Einkommen, Einkommen aus Kapitalbesitz und Vermögen müssen stark besteuert und zur Finanzierung der sozialen Ausgaben herangezogen werden. 20.000 Euro im Monat sind genug! Darüber hinaus greift ein Spitzensteuersatz von 100 Prozent."
Dieses Programm stößt auf großes Interesse. Immer wieder rufen Leute an, weil ihnen die Slogans der PSG auf den Wahlplakaten auffallen, und die Wahlhelfer führen tagtäglich hunderte Diskussionen mit Menschen, die selbst von der sozialen Misere betroffen und begierig sind, über das Erlebte zu berichten.
"Wenn man die LINKE wählt, kann man genauso gut wieder SPD wählen"
Birgit H. ist alleinerziehende Mutter und hat als Langzeitarbeitslose, die zwischendurch immer wieder gejobbt hat, jede Menge Erfahrung mit Umschulungs-, Eingliederungs- und anderen Maßnahmen bis hin zum Ein-Euro-Job.
"Zum Ende der Regierungszeit von Helmut Kohl war ich ein Jahr arbeitslos", berichtet Birgit. "Unter der sozialdemokratischen Bundesregierung von Gerhard Schröder fühlte ich mich, so wie auch andere Arbeitslose, unter immer größeren Druck gesetzt. Der Gipfel der neuen Maßnahmen war dann das so genannte Hartz IV-Gesetz, das ich einfach entwürdigend finde. Wie bin ich da bloß hineingeraten?
Die Situation in Deutschland spitzt sich derzeit regelrecht zu. Die finanzielle Situation der Betroffenen hat sich drastisch verschlechtert. Es herrscht doch schon wieder Kinderarmut. Familien müssen ihr Kind mit 300 Euro über die Runden kriegen. Man ist mit den ganzen Problemen allein gelassen.
Wie bitte soll man als Alleinerziehende einer vollen Arbeitsstelle nachgehen, wenn die Betreuung nicht gewährleistet ist? Wann immer ich eine Arbeit hatte, ging fast mein ganzes Geld für Babysitter, Betreuung oder Ausgaben für die Schule drauf. Wenn mal Ferien waren - zum Beispiel Sommerferien - dann hatte ich natürlich niemals gleich lange Urlaub wie mein Kind. Infolgedessen musste ich eine zusätzliche Betreuung bezahlen und hatte natürlich kein Geld mehr, um selbst in Urlaub zu fahren. Das wurmt einen doch mit der Zeit.
Auch von der Schule selbst bin ich sehr enttäuscht. Zum Beispiel hat die so genannte Unterrichtsgarantie-plus von Roland Koch die Situation nur verschlimmert. Von der Schule selbst kommt einfach nichts, man hat den Eindruck, man ist da abgeschrieben und muss um alles alleine kämpfen.
Das heißt aber nicht, dass ich noch Hoffnungen in die SPD hätte. Die ziehen doch alle am gleichen Strang. Ich erwarte überhaupt nichts von einer neuen rot-grünen Regierung. Das betrifft auch die LINKE, denn wenn man LINKE wählt, dann kann man genau so gut auch gleich wieder SPD wählen."
"Die Politiker regieren am Volk vorbei"
Wir trafen einen ehemaligen Bäcker, der schon ein knappes Jahr lang arbeitslos ist und kurz vor dem Absinken in "Hartz-IV" steht. Ein Bandscheibenschaden hindert ihn an der Ausübung seines eigentlichen Berufs.
"Es ist nicht nachvollziehbar, wie in diesem Land mit Arbeitslosen umgegangen wird", sagte er. "Wenn zur Arbeitslosigkeit noch die Behinderung kommt, ist es besonders krass. Gerade bei den Stellen, die eigentlich dafür da sein müssten, zu helfen, rennt man verrammelte Tore ein. Man kriegt keine Unterstützung, was man auch versucht.
Es sind doch unsere Gelder, mit denen die Politiker da umgehen. Für ein reiches Land wie Deutschland ist es einfach armselig, dass sie sich so wenig um die Leute kümmern. Es muss doch selbstverständlich sein, dass Leute, die Hilfe brauchen, diese auch bekommen.
Ich habe es am eignen Leib erlebt: Ich habe eine Behinderung von vierzig Prozent durch kaputte Bandscheiben. Aber man wird behandelt, als ob man nicht arbeiten wollte. Das erzeugt zusätzlich einen starken psychischen Druck, und man leidet unter Zukunftsangst.
Ich habe ja wirklich alles versucht, mich auch über Internet um Arbeit bemüht. Ich bin bei vier Stellenbörsen registriert, die mir schöne Angebote schicken: So könnte ich mich als Handelsvertreter oder Versicherungsverkäufer, meist ohne Grundgehalt, nur auf Provisionsbasis, bewerben. Soll man sich auf so was einlassen? Auch die Zeitarbeitsfirmen beschäftigen die Leute, ohne sie vernünftig zu bezahlen. Da müsste schon ein Grundeinkommen für alle her.
Ich habe ja auch die Politiker in allen umliegenden Gemeinden angeschrieben - ohne Reaktion. Das höchste, was kommt, ist eine unverbindliche Antwort: Wir wünschen Ihnen viel Erfolg, etc. Und das sind die von uns gewählten Politiker! Man kann wirklich sagen: Die Regierung regiert am Volk vorbei. Das kann doch nicht sein.
Deshalb finde ich es gut, wenn ihr eine neue Arbeiterpartei aufbaut. Ich hoffe nur, dass die Menschen auch dazu bereit sind. Es muss mehr Öffentlichkeitsarbeit gemacht werden, damit die Leute munter werden und erkennen, was da auf uns zukommt."