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Türkei:

Verfassungsgericht lehnt Verbot von türkischer Regierungspartei AKP ab

Von Sinan Ikinci
2. August 2008
aus dem Englischen (2. August 2008)

Am 30. Juli wies das türkische Verfassungsgericht den Antrag des Generalstaatsanwalts zurück, die regierende islamistische AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) zu verbieten und ein fünfjähriges politisches Betätigungsverbot gegen führende Politiker dieser Partei zu verhängen. Das Verbot sollte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, Präsident Abdullah Gül und 70 weitere führende AKP-Politiker treffen. Das Gericht erklärte jedoch, es habe durchaus Anzeichen dafür gegeben, dass die AKP "ein Zentrum anti-säkularer Aktivitäten" gewesen sei, und empfahl, der Partei fünfzig Prozent ihrer Parteienfinanzierung zu streichen, die sie vom Staat erhält.

Der Antrag, die AKP zu verbieten, war am 14. März von Generalstaatsanwalt Abdurrahman Yalcinkaya mit der Begründung gestellt worden, die AKP sei "anti-säkularer Bestrebungen schuldig" und plane "das Land in einen islamischen Staat zu verwandeln".

Die Entscheidung des Verfassungsgerichts wurde von seinem Vorsitzenden Hasim Kilic auf einer Pressekonferenz bekanntgegeben. Kilic sagte, sechs Richter hätten für die Schließung der Partei gestimmt, während die übrigen vier Mitglieder der Meinung waren, die "anti-säkularen Aktivitäten" der AKP rechtfertigten kein Verbot. Mindestens sieben Stimmen sind notwendig, um eine politische Partei zu verbieten. Kilics eigene Stimme gab den Ausschlag für die Ablehnung des Verbotsantrags.

Kilic sagte: "Wir haben die Partei nicht verboten, aber wir haben eine ernste Warnung ausgesprochen." Er fügte hinzu, dass die AKP genau über das Urteil nachdenken und Schlüsse daraus ziehen solle.

Einige Medien haben das Urteil als einen Sieg der AKP begrüßt, und die Regierungen Europas haben einen kollektiven Seufzer der Erleichterung ausgestoßen. Andere Kommentatoren hingegen beurteilen das Ergebnis deutlich vorsichtiger.

Die Süddeutsche Zeitung schreibt, das Gerichtsurteil werde wie ein "Damoklesschwert" über der AKP hängen, und fährt fort: "Leider ist jedoch zu befürchten, dass die Richter ihren Spruch anders interpretieren: Die AKP soll das traditionell autokratische Gerüst der Republik nicht antasten. Oder gewendet: Die Partei soll sich mit dem alten System arrangieren - wie so viele andere mit Reformeifer angetretenen Parteien vor ihr."

Die AKP erhält gegenwärtig 45,6 Millionen Türkische Lira (25 Millionen Euro) vom Staat. Obwohl der Verlust der Hälfte dieser Summe - 22,8 Millionen Türkische Lira (12,5 Millionen Euro) - eine empfindliche Schmälerung des Parteieinkommens darstellt, wird es ihr als Vertreterin der islamischen Fraktion der türkischen Bourgeoisie nicht allzu schwer fallen, diesen Verlust wettzumachen.

Das Gerichtsverfahren war ein Versuch des türkischen Militärs und des kemalistischen politischen Establishments, eine demokratisch gewählte Regierung mithilfe der Justiz zu stürzen. Inzwischen sind neue Hinweise aufgetaucht, die diese Verbindung belegen.

Es ist inzwischen bekannt, dass der zweithöchste Richter am Verfassungsgericht, Osman Paksut, am 4. März ein Treffen mit dem Kommandeur der türkischen Bodentruppen; General Ilker Basbug, hatte. Das Treffen fand kurz nach dem Antrag zweier kemalistischer Parteien an das Verfassungsgericht statt, die Verfassungsänderung der AKP rückgängig zu machen, die es Frauen erlaubte, an den Universitäten das islamische Kopftuch zu tragen. Einen Monat später nahm das Verfassungsgericht die Klage des Generalstaatsanwalts gegen die AKP zur Entscheidung an.

Die türkische Tageszeitung Taraf veröffentlichte zwei Dokumente mit dem Titel "Information Support Plan" und "Information Support Plan Activity Table", die detaillierte Pläne der Militärs enthalten, die öffentliche Meinung gegen die AKP zu mobilisieren und die Regierung mit einer ganzen Reihe von Maßnahmen zu destabilisieren und stürzen. Dieser Plan trat im September 2007 in Kraft, bald nach der Wahl vom 22. Juli, bei der die AKP mit 47 Prozent der Stimmen wiedergewählt wurde. Die Wiederwahl der AKP im Sommer 2007 war ein schwerer Schlag für das Militär und seine zivilen Handlanger.

Der "Activity Table" liefert den Hintergrund für das Paksut-Basbug-Treffen und für die jüngsten scharfen Stellungnahmen hoher türkischer Richter gegen die Regierung, die zu einem offenen Zerwürfnis zwischen der Justiz und der Regierung führten. Sobald der Generalstaatsanwalt die Klage gegen die AKP beim Verfassungsgericht eingereicht hatte, wurde allgemein davon ausgegangen, dass die Regierungspartei verboten würde. Selbst führende AKP-Politiker gaben zu, dass die Zukunft ihrer Partei düster aussehe.

Das erste Anzeichen für einen möglichen Kompromiss in dem Prozess kam von Mark Parris, dem ehemaligen US-Botschafter in Ankara, bei einem Treffen des Center for Strategic and International Studies in Washington am 16. Juli, das sich mit der politischen Krise in der Türkei befasste. Parris wurde mit den Worten zitiert: "Die Chancen für einen Ausweg sind heute größer als noch vor einem Monat." Er fügte hinzu: "Wer handelt es aus? Ich weiß es nicht, aber die Alternative wäre, dass alle gemeinsam über Bord gehen."

Man weiß, dass Parris Zugang zu Informationen aus den höchsten Kreisen in der Türkei hat. Seine Bemerkungen zeigen, dass das Schicksal des Prozesses sich schon vor fast drei Wochen zu drehen begann. Parris erinnerte sein Publikum daran, dass US-Außenministerin Condoleezza Rice betonte habe, die US-Regierung unterhalte hervorragende Beziehungen zur Regierung Erdogan. Andere hohe Vertreter der Bush-Regierung machten klar, dass Washington gegen ein Verbot der AKP sei. Führende Vertreter der Europäischen Union ließen ebenfalls erkennen, dass sie ein Verbot der AKP ablehnten, das zu einer weiteren Hürde für einen eventuellen EU-Beitritt der Türkei zu werden drohe.

Nach Parris’s Bemerkungen begannen türkische Kolumnisten in der gleichen Richtung zu spekulieren. Rating Agenturen und Finanzhäuser wie JP Morgan folgten. JP Morgan betonte in einer vor dem Urteil herausgegebenen Erklärung, sie sei zu 80 Prozent sicher, dass die Partei nicht aufgelöst werde, und empfahl ihren Investoren, türkische Aktien zu kaufen. Auf der Grundlage solcher Informationen schloss der wichtigste türkische Börsenindex Mittwochabend mit einem Plus von 5,59 Prozent. Nachdem das Urteil bekannt geworden war, stieg der Index noch einmal um zwei Prozent.

Auch am Tag der Urteilsverkündung (30. Juli) berichtete Bilal Cetin, ein prominenter Journalist aus Ankara, in seiner Kolumne für die Zeitung Vatan über Informationen aus "sehr verlässlicher Quelle". Die Quelle habe ihn angerufen und gesagt: "Dies ist kein Gerücht, sondern harte Information. Aber ich bin mir nicht sicher, ob Sie es schon drucken können."

Cetin zufolge fuhr die Quelle fort: "Die elf Mitglieder der Verfassungsgerichts werden lange diskutieren, ob die AKP ein Zentrum anti-säkularer Bestrebungen ist oder nicht. Schließlich wird die Fraktion für ein Verbot numerisch stärker sein und es wird eine Abstimmung geben. Das Ergebnis der Abstimmung wird sechs zu fünf für ein Verbot sei. Aber weil die Verfassung sieben befürwortende Stimmen vorschreibt, wird die AKP nicht verboten. Aber die Partei wird schweren Schaden an ihrem Ansehen nehmen. Sie wird in den Augen der Gesellschaft und der Öffentlichkeit beschädigt sein. Die regierende Partei wird gezwungen sein, in Zukunft vorsichtiger vorzugehen, um das Vertrauen der Kräfte zurückzugewinnen, die in der Frage des Säkularismus sehr empfindlich sind, und um ihr Image wieder herzustellen..."

Diese Faktoren zeigen ganz klar, dass das Resultat des Verfahrens vor dem Verfassungsgericht nichts mit juristischen Feinheiten zu tun hatte, sondern durch und durch politisch war. Zum einen gab es die internationale Ablehnung eines AKP-Verbots, zum anderen spielten zwei weitere Faktoren eine wichtige Rolle in diesem Verfahren.

Das kemalistische Establishment und das Militär wussten genau, dass es in der Bevölkerung wenig Unterstützung für ein Verbot der AKP gab. Selbst die meisten der nicht-islamischen Medien konnten ein Verbot nicht offen unterstützen. Außerdem sind die kemalistischen Oppositionsparteien schwer diskreditiert und lecken sich immer noch die Wunden von ihrer bösen Niederlage bei den Wahlen 2007. Sie könnten ein Verbot der AKP nicht einmal zu ihrem Vorteil nutzen.

Der zweite wichtige Faktor, der die Waagschale gegen ein Verbot der AKP senkte, waren die Konzessionen, die die Parteiführung der kemalistischen Opposition in den vergangenen Monaten gemacht hat.

Sofort nach seiner Wiederwahl im September 2007 bot Erdogan der kemalistischen Opposition einen Ölzweig und versprach, sich für nationale Einheit einzusetzen und der Vertreter aller Türken zu sein. Im Frühjahr dieses Jahres gab Erdogan dem Druck des Militärs nach, und gab der Invasion im Nordirak grünes Licht, die sich gegen Stellungen der kurdischen PKK richtete. In den vergangenen Monaten hat die türkische Luftwaffe regelmäßig Angriffe auf die Lager der PKK in den Bergen des Nordirak geflogen.

Unmittelbar vor der Entscheidung des Gerichts spielte Erdogan noch einmal die PKK-Karte aus, um seine kemalistischen Rivalen zu besänftigen. Nach den Bombenanschlägen im Stadtteil Güngören von Istanbul am vergangenen Sonntag machte Erdogan sofort die PKK für das schreckliche Verbrechen verantwortlich, obwohl die PKK jede Verantwortung von sich wies.

Gleichzeitig machte Erdogan mehr als einmal klar, dass er als Vertreter des anatolischen Flügels der türkischen Bourgeoisie die gleichen Prioritäten hat, wie das kemalistische Establishment, wenn es um die Unterdrückung der Arbeiterklasse geht. Bei zunehmender Eintrübung der wirtschaftlichen Aussichten in der Türkei und weiterhin steigender Inflation haben Teile der türkischen Arbeiterklasse mehrfach versucht, ihre Arbeitsplätze und ihren Lebensstandard zu verteidigen.

Die AKP hat darauf mit der gleichen Rücksichtslosigkeit reagiert, wie ihre kemalistischen Vorgänger in der Regierung. Im Februar wurden streikende Werftarbeiter von der Polizei brutal angegriffen. Dann trieb die Polizei bei der traditionellen 1.-Mai-Demonstration die Demonstranten mit Tränengas und Schlagstöcken auseinander. Der 1.-Mai-Feiertag wurde 1980 von der Militärjunta abgeschafft, die ihn als Gelegenheit für "linken Aktivismus" fürchtete. Die AKP-Regierung hat sich geweigert, das von dem Militärregime erlassene Verbot von Mai-Demonstrationen aufzuheben. Schließlich attackierte Mitte Juni die Polizei 2.000 öffentliche Beschäftigte, die versuchten, in Istanbul einen friedlichen Protest abzuhalten.

Die kemalistische Elite und das türkische Militär teilen die Feindschaft der AKP gegen die organisierte Arbeiterklasse und haben die Repressionsmaßnahmen der Regierung wohlwollend zur Kenntnis genommen.

Das sind die Faktoren, die das Urteil letztlich in diese Richtung kippen ließen. Anstatt die AKP sofort zu verbieten, hat das Verfassungsgericht die AKP deutlich verwarnt, in Zukunft die Posten und Privilegien der etablierten kemalistischen Elite des Landes nicht weiter zu bedrohen. Der knappe Ausgang des Verfahrend lässt genügend Spielraum für eine jederzeitige Wiederaufnahme des Verbotsverfahrens.

Es ist möglich, dass das Gerichtsurteil zu einem vorübergehenden Nachlassen der Spannungen zwischen dem kemalistischen und dem islamischen Flügel der Bourgeoisie beitragen wird. Aber es gibt viele Anzeichen, dass ein solcher Waffenstillstand nur kurzlebig sein wird. Ein militärischer Angriff Israels oder der USA auf den Iran in den nächsten Monaten würde das Land ernsthaft destabilisieren. Die Spannungen zwischen der Regierung in Ankara und den kurdischen Rebellen im Nordirak und in der Türkei haben sich keineswegs vermindert. Gleichzeitig geht die türkische Wirtschaft in eine sehr schwierige Periode: Es droht eine Haushaltskrise, und die Inflation steigt weiter.

Vor dem Hintergrund des Gerichtsurteils rät der britische Economist der AKP, der alten kemalistischen Garde größere Zugeständnisse zu machen und die Liberalisierung der türkischen Wirtschaft voranzutreiben: "Erdogans Regierung sollte der Wirtschaft größere Aufmerksamkeit schenken. Die wirtschaftliche Bilanz der AKP ist gut, aber das ist teilweise einer günstigen weltwirtschaftlichen Lage geschuldet. Jetzt ist die Situation schwieriger und die Türkei macht mit einem hohen Zahlungsbilanzdefizit und steigender Inflation wieder einen verwundbaren Eindruck. Mehr Liberalisierung würde helfen, die Wirtschaft auf Kurs zu halten."

In diesem Zusammenhang könnte die Rivalität zwischen den gegnerischen Fraktionen der türkischen Bourgeoisie jederzeit wieder offen ausbrechen. Präsident Abdullah Gül wird in zwei Jahren drei neue Mitglieder des Verfassungsgerichts und 21 Universitätsrektoren ernennen. Schon die Ernennung von Islamisten zu Universitätsrektoren könnte ausreichen, die politischen Spannungen wieder aufbrechen zu lassen, und in eine neue Krise münden.

Siehe auch:
Türkei: Verhaftungen wegen Putschplänen verschärfen politische Krise
(9. Juli 2008)
Verfassungsgericht der Türkei führt Kopftuchverbot an Universitäten wieder ein
( 19. Juni 2008)
Türkei: Generalstaatsanwalt will regierende AKP verbieten
( 4. April 2008)