Sonderparteitag zu Afghanistan:
Abstimmungsniederlage für Grünen-Vorstand
Von Dietmar Henning und Peter Schwarz
19. September 2007
"Der Grünen-GAU von Göppingen" und "Schwere Schlappe für den Vorstand" übertitelte die Presse die Berichte zum Sonderparteitag der Grünen, der am vergangenen Wochenende in Göppingen über die Haltung der Partei zum Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan beriet.
Die Delegierten hatten den Leitantrag des Parteivorstands zurückgewiesen und stattdessen mit 361 gegen 264 Stimmen dem Antrag eines Delegierten, des 41-jährigen Robert Zion aus Gelsenkirchen zugestimmt.
Vergleicht man die beiden Anträge, so scheint die Aufregung reichlich übertrieben. Der Zion-Antrag unterscheidet sich inhaltlich kaum vom Vorschlag des Vorstands. Er fordert den Ausstieg aus der US-geführten OEF (Operation Enduring Freedom), unterstützt grundsätzlich die deutsche Beteiligung an der Nato-geführten Isaf (International Security Assistant Force) und verlangt den Rückzug der sechs deutschen Tornados, die sowohl für Isaf als auch für OEF in Afghanistan Aufklärungsflüge durchführen.
Denselben Standpunkt vertreten auch die Parteivorsitzende Claudia Roth und der außenpolitische Sprecher Jürgen Trittin, die den gescheiterten Vorstandsantrag mit verfasst hatten. Die anderen drei Führungsmitglieder - der Parteivorsitzende Reinhard Bütikofer sowie die beiden Bundestagsfraktionsvorsitzenden Fritz Kuhn und Renate Künast - unterstützen dagegen den Tornado-Einsatz. Der Vorstandsantrag wollte daher keine Abstimmungsempfehlung geben, wenn der Bundestag im Oktober über die Verlängerung der Afghanistan-Mandate abstimmt, und alle Möglichkeiten offen lassen.
In dieser Frage entschied der Parteitag anders. Der mehrheitlich angenommene Antrag Zion fordert die Abgeordneten auf, der Mandatsverlängerung "NICHT zuzustimmen". Das bedeutet Nein oder Enthaltung und schließt ein Ja aus. Da die Bundesregierung darauf besteht, über Isaf- und Tornado-Einsatz gemeinsam abzustimmen, folgt daraus auch eine Ablehnung oder Enthaltung beim Isaf-Mandat - obwohl sich der Antrag ausdrücklich für den Verbleib der deutschen Soldaten in der Isaf ausspricht.
Es heißt darin, dass "ein schneller Rückzug der Bundeswehr die bisher vergleichsweise stabilen Regionen im Norden Afghanistan ins Chaos zurückfallen lassen würde". Daraus wird der Schluss gezogen: "Wir dürfen, obwohl wir 2001 in diesen Konflikt gezwungen wurden, uns heute nicht ohne Weiteres zurückziehen. ... So lange zum Aufbau von Polizei und Infrastrukturen noch eine militärische Absicherung erforderlich ist und so lange diese nicht vom afghanischen Militär bzw. der afghanischen Polizei gewährleistet werden kann, so lange ist der Abzug der deutschen Bundeswehreinheiten nicht vertretbar."
Ein Antrag, die Bundeswehr bald aus Afghanistan abzuziehen, wurde vom Sonderparteitag mit großer Mehrheit abgelehnt.
Es handelte sich also nur um einen Sturm im Wasserglas, möchte man meinen, sind sich doch Basis und Vorstand über den Verbleib der Bundeswehr in Afghanistan weitgehend einig.
Parteichef Bütikofer bemühte sich im Anschluss dementsprechend, die Differenzen klein zu reden. Der Sonderparteitag habe nicht den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan gefordert, stellte er vor der Presse klar. Im Gegenteil: "Wir sagen Ja zu Isaf, wir sagen Ja zum Strategiewechsel und wir sagen Ja zur Erhöhung der zivilen Hilfe. Aber wir sagen Nein zu OEF."
Mehrere Bundestagsabgeordnete haben inzwischen angekündigt, sie würden den Parteitagsbeschluss ignorieren und im Oktober mit Ja stimmen. Krista Sager begründete das im Hamburger Abendblatt mit den Worten "Die Luftaufklärung durch die Tornadoflugzeuge kann doch nicht der Grund sein, dem überaus wichtigen Isaf-Mandat nicht zuzustimmen." Und Kerstin Andreae, wirtschaftspolitische Sprecherin der Grünen Bundestagsfraktion, sagte dem Handelsblatt : "Ich werde nach meinem Gewissen entscheiden - und ich kann nicht gegen Isaf stimmen."
Konflikt über zukünftige Rolle
Dennoch ist der Konflikt, der auf dem Sonderparteitag der Grünen aufgebrochen ist, nicht ohne Bedeutung. Es geht dabei weniger um politische Inhalte, als um die zukünftige Rolle der Grünen.
Angesichts der eskalierenden Gewalt und der wachsenden Zahl ziviler Toter stößt der Afghanistan-Einsatz auf wachsende Ablehnung. Laut einer aktuellen Forsa-Umfrage sprechen sich inzwischen 52 Prozent der Bundesbürger für einen Abzug der Truppen aus Afghanistan aus, nur 43 Prozent wollen, dass die Bundeswehr dort bleibt. Sollten die USA auch noch ihre Drohung wahr machen und den Iran angreifen, ist mit der Entwicklung einer massiven Antikriegsbewegung zu rechnen.
Die Grünen sind seit ihrem Regierungseintritt vor neun Jahren so weit nach rechts gerückt, dass sie nicht mehr in der Lage sind, eine solche Bewegung zu beeinflussen, geschweige denn zu dominieren. Unter Außenminister Joschka Fischer haben sie sich zur wichtigsten Stütze einer remilitarisierten deutschen Außenpolitik entwickelt. Bei keiner anderen Partei ist die Unterstützung für den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr so groß wie bei den Grünen.
Vor allem der sogenannte Realo-Flügel um Bütikofer, Künast, Kuhn und den Europaabgeordneten Daniel Cohn-Bendit liebäugelt inzwischen mit einer Regierungsbeteiligung an der Seite der CDU Angela Merkels. Nun sehen sie dieses Ziel gefährdet. Cohn-Bendit, der auf dem Parteitag ausgebuht worden war, reagierte auf das Ergebnis mit einer Standpauke. Er bezeichnete den Parteitag als "Kindergarten" und sagte in der taz beleidigt: "Wenn die Grünen den Weg der Fundamentalopposition gehen wollen - bitte!"
Die Parteitagsmehrheit versucht im Gegensatz zu den Realos der wachsenden Antikriegsstimmung entgegen zu kommen, um auf sie Einfluss zu nehmen. In einem Interview mit dem Focus sagte der Autor des Leitantrags, Robert Zion: "Es wird jetzt gesagt, die Regierungsfähigkeit der Partei sei in Gefahr. Aber es geht um die Oppositionsfähigkeit. Wenn die Regierungsfähigkeit mit Kriegswilligkeit gleichgesetzt wird, dann sollte man sich überlegen, was Regierungsfähigkeit in diesem Land eigentlich bedeutet. Wir haben ja nicht den Rückzug aus Afghanistan beschlossen."
Die inhaltlichen Differenzen zwischen den Realos und der auf dem Parteitag erfolgreichen Opposition sind zwar minimal, trotzdem versuchen sich letztere wieder verstärkt als Friedenspartei darzustellen. Ihr Leitantrag erstreckt sich über neun Seiten und bemüht sich in blumigen Worten um eine Wiederbelebung der alten Illusion, die Isaf diene in Afghanistan ausschließlich der Erhaltung des Friedens und dem Aufbau des Landes, während die Gewalt und die Toten auf das Konto der OEF gingen. Dabei wird nicht einmal ansatzweise nach den wirklichen Motiven für die deutsche - oder amerikanische - Intervention in Afghanistan gefragt. Man sucht vergebens nach Begriffen wie "Öl", "Gas", "Irak" oder "Iran".
Im Leitantrag steht, die Grünen könnten "Isaf nur dann weiter glaubwürdig mittragen, wenn gleichzeitig jegliche Unterstützung für OEF beendet wird". Er verlangt "die sofortige Einstellung aller Luftangriffe auf zivile Einrichtungen, wie zum Beispiel Wohngebiete". Bei Einsätzen am Boden - die überhaupt nicht eingeschränkt werden sollen - müsse "der Schutz der Zivilbevölkerung absolute Priorität haben".
Dass die Mär vom "guten" Isaf-Einsatz und vom "schlechten" OEF-Einsatz nichts mit der Realität zu tun hat, bestätigte der deutsche NATO-General Egon Ramms nur einen Tag vor dem Sonderparteitag in einem ZDF-Interview. Er sah kein Problem darin, "aus der Operation Enduring Freedom auszusteigen und sich ausschließlich Isaf anzuschließen", da das Spektrum des Isaf-Mandats deutlich breiter sei, "als es vielleicht in der Bundesrepublik dargestellt und in der Diskussion auch abgebildet wird". Mit anderen Worten: Die Unterscheidung zwischen Isaf und OEF existiert in der Wirklichkeit längst nicht mehr, da die Isaf viele Aufgaben der OEF übernommen hat und eng mit dieser zusammenarbeitet.
Hier liegt auch das Problem der Grünen mit dem Tornado-Einsatz. "Formal ist der Tornado-Einsatz der Bundeswehr streng auf Isaf beschränkt, de facto ist das unter den geltenden Bedingungen nicht möglich", beklagt der Leitantrag. Denn "alle Einsätze westlicher Kampfflugzeuge" werden "von der US-Kommandozentrale in Qatar gesteuert; der Kommandant von OEF, der US-General David Rodriguez, ist zugleich Chef des Regionalkommandos Ost der Isaf". So trage Deutschland eine Mitverantwortung, wenn aufgrund der Aufklärungsergebnisse auch im Rahmen von Isaf Bombeneinsätze geflogen werden, bei denen "immer häufiger unbeteiligte Frauen, Männer und Kinder getötet oder verletzt" werden.
Die Bemühungen der grünen Partietagsmehrheit, sich von den Folgen des Kriegs in Afghanistan zu distanzieren und gleichzeitig am Isaf-Einsatz festzuhalten, erinnern an Oskar Lafontaines Linkspartei. Diese versucht, sich von der Politik der SPD zu distanzieren, ohne mit dem Programm und den politischen Konzeptionen der Sozialdemokratie zu brechen. Der ehemalige SPD-Vorsitzende Lafontaine baut Versatzstücke der SPD, der Gewerkschaftsbürokratie und der alten SED zu einer Organisation zusammen, die der SPD als Koalitionspartner wieder an die Macht verhelfen soll.
Robert Zion, der den Leitantrag des Grünen-Parteitags verfasst hat, kommt durchaus als Kandidat für dieses Projekt in Frage - sei es in Form einer rot-rot-grünen Koalition oder eines Zusammengehens mit der Linkspartei. Der 1966 geborene Sozialpädagoge ist Mitglied im SPD-nahen Netztwerk Attac und zählt, wie Lafontaine, Willy Brandt zu seinen Vorbildern. Für den nächsten Bundesparteitag schreibt er einen Antrag, der für eine radikale Abkehr von der Agenda 2010 eintritt - das Lieblingsthema der Linkspartei.
Im Focus antwortete Zion auf die Frage nach der Bedeutung des Parteitags: "Die Ära Fischer ist damit endgültig zu Ende. Wir sind kein Ein-Generationen-Projekt. Die Gründer-Generation, die Alt-68er, haben ihren organisierten Marsch durch die Institutionen hinter sich. Aber sie können die Linie der Partei nicht allein bestimmen. Einige Führungspersonen haben mittlerweile die Bodenhaftung verloren."
Lafontaine selbst hat die Entscheidung des Grünen-Parteitags in den höchsten Tönen gelobt. Die grüne Außenpolitik stehe nun wieder auf dem Boden des Völkerrechts, erklärte er.
Lafontaine hat lange Erfahrung darin, die Friedensbewegung für seine Politik zu instrumentalisieren. Bereits Ende der siebziger Jahre stellte er sich - gegen den damaligen SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt - an die Spitze der Massendemonstrationen gegen die Stationierung nuklearer Mittelstreckenraketen, um zu verhindern, dass die SPD völlig die Kontrolle über die jüngere Generation verlor. Die Grünen entstanden in jener Zeit aus Mitgliedern der 68er Protestgeneration, von denen sich etliche unter Willy Brandt der SPD angeschlossen hatten, um ihr dann unter Schmidt enttäuscht den Rücken zu kehren.
Die rot-grüne Bundesregierung von 1998 war dann im wesentlichen Lafontaines Projekt. Doch Bundeskanzler Schröder und Vizekanzler Fischer wandten sich derart schnell nach rechts, dass Lafontaine fürchtete, seine Partei werde jeden Einfluss auf die Arbeiterklasse und die Jugend verlieren. Daher sein Bruch mit der SPD und die Gründung der Linkspartei. Ihre Aufgabe besteht darin zu verhindern, dass sich eine wirklich unabhängige, sozialistische Bewegung entwickelt.