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US-Armee erleidet Niederlage in irakischer Schlüsselprovinz sagt das Pentagon

Von Bill Van Auken
22. September 2006
aus dem Englischen (14. September 2006)

In den vergangenen Tagen sind eine Reihe von Dokumenten aus dem Pentagon und anderen staatlichen Behörden an die Öffentlichkeit gelangt, die das zunehmende Debakel der amerikanischen Besatzung im Irak deutlich machen.

Verblüffend ist ein als geheim eingestufter Bericht vom führenden Geheimdienstoffizier des US-Marinekorps. Ihm zufolge ist das amerikanische Militär bereits daran gescheitert, den Widerstand in der unruhigen irakischen Provinz Anbar zu unterdrücken.

Laut einem Bericht der Washington Post über das Geheimdokument kommt Oberst Pete Devlin zu dem Schluss: "Es gibt beinahe nichts, was das US-Militär tun kann, um die politische und soziale Lage dort zu verbessern."

Die Zeitung zitierte einen Armeeoffizier, der mit dem am 16. August erstellten Bericht vertraut ist, mit den Worten: "Wir sind nicht militärisch, aber politisch geschlagen- und das ist das Kriterium für Sieg oder Niederlage im Krieg." Die Post bemerkte weiter: "Eine andere Person, die den Bericht kennt, sagte, dass darin Anbar als unrettbar verloren dargestellt wird; eine dritte sagte, es würde der Schluss gezogen, dass die Vereinigten Staaten in Anbar geschlagen wurden."

Die Zeitung merkte an, dass der Ton des Berichts besonders deswegen bemerkenswert sei, weil das Militär im Irak bislang allgemein eher eine "Wir schaffen das"-Haltung eingenommen habe - im Gegensatz zur CIA, die ähnlich düstere Einschätzungen der Lage vorgelegt hat.

Die vorwiegend von Sunniten bewohnte Provinz Anbar ist die größte im Irak und grenzt an Syrien, Saudi Arabien und Jordanien. Etwa 30.000 amerikanische Soldaten befinden sich in Anbar und die westliche Provinz war Schauplatz einiger der größten und blutigsten Offensiven, die vom US-Militär ausgingen. Hierzu zählte auch die blutige Belagerung von Falludscha im November 2004, bei der Tausende getötet und große Teile der Stadt in Schutt und Asche gelegt wurden.

Einheiten der amerikanischen Marines und der Armee sind in der Provinzhauptstadt Ramadi in nicht enden wollende Kämpfe verwickelt. In Ramadi, wo etwa 400.000 Menschen leben, herrscht der stärkste Widerstand gegen die US-Besatzer; üblicherweise ereignen sich die Hälfte oder noch mehr der Angriffe von Seiten des irakischen Widerstands in dieser Stadt.

Dass der Geheimbericht Devlins an die Öffentlichkeit gelangt ist, ist zweifellos ein Zeichen für wachsende Differenzen an der Spitze des US-Militärs über die Washingtoner Politik im Irak. Der Zeitpunkt des Bekanntwerdens könnte für die Bush-Regierung kaum verheerender sein, stört der Bericht doch direkt ihre Versuche, vor der kommenden Kongresswahl den Irak-Feldzug als Kern des "Kriegs gegen den Terror" darzustellen.

Die Regierung reagierte, indem sie den Spitzenkommandierenden der US-Streitkräfte in Anbar anwies, von der Kaserne in Falludscha aus eine ungewöhnliche telefonische Pressekonferenz zu geben, die anscheinend dem Ziel dienen sollte, die geheimdienstlichen Einschätzungen zu widerlegen.

Generalmajor Richard Zilmer war jedoch offenbar nicht bereit, dem Weißen Haus nach der Pfeife zu tanzen. Er erklärte gegenüber der Presse: "Ich habe den Bericht gelesen und stimme mit der Einschätzung überein." Er fügte lediglich hinzu, dass das Dokument "nicht dazu gedacht war, die positiven Wirkungen zu würdigen", die von den Besatzern in der Provinz ausgegangen seien.

Er sagte, die amerikanischen Streitkräfte in der Provinz seien in der Lage, den irakischen Widerstand "zu ersticken", aber könnten ihn nicht endgültig schlagen. Dieses "ersticken" scheint sich auf Operationen wie die in Falludscha und andere US-Offensiven im Euphrat-Tal zu beziehen, die lediglich die Widerstandskämpfer von einer Region zur nächsten getrieben haben und gleichzeitig die Feindseligkeit in der Bevölkerung gegenüber der Besatzungsarmee wachsen ließen, so dass dem Widerstand neue Kämpfer zugeführt wurden.

Zilmer bestätigte, dass die Vereinigten Staaten es größtenteils mit Irakern zu tun haben und kaum mit so genannten "ausländischen Kämpfern". Er fügte hinzu, dass ein Mehr an amerikanischen Truppen in der Region "nur eine zeitweilige Lösung" darstelle und kein Ersatz für politischen und wirtschaftlichen Fortschritt sei, den zu fördern Washington leider offenbar nicht fähig sei.

Die Aufregung rund um den Geheimdienstbericht der Marine folgte direkt auf ein belastendes - wenn auch nicht geheimes - Dokument, dass am 11. September vom Staatlichen Rechnungshof (GAO) vorgelegt wurde, dem Untersuchungsorgan des amerikanischen Kongresses.

Der GAO-Bericht, der sich hauptsächlich auf bislang unveröffentlichte Studien anderer Behörden stützt, bezieht sich auf eine ständig wachsende Zahl von bewaffneten Widerstandshandlungen gegen die US-Besatzung. Es heißt darin: "Die Gesamtzahl der Angriffe vom Januar 2006 bis Juli 2006 lag um 57 Prozent höher als die Gesamtzahl für diesen Zeitraum im Jahre 2005."

Eine Tabelle im Anhang des Dokuments zeigt, dass die Zahl der Angriffe von rund 100 im Mai 2003 auf 4.500 im Juli 2006 gestiegen ist.

Der Bericht merkt zwar an, dass die "Konflikte zwischen Religionsgruppen" bedrohlich mehr werden, betont aber vor allem "die bedeutende Zunahme bei Angriffen auf die Streitkräfte der Koalition, die das vorrangige Ziel bleiben".

Die Ergebnisse des GAO stehen in direktem Gegensatz zur Behauptung der Bush-Regierung, dass der Vormarsch der "Demokratie" - der sich angeblich im Abhalten von landesweiten Wahlen zeigt - den Aderlass im Irak vermindern werde. Im Gegenteil: Der Bericht zitiert den Leiter des Militärgeheimdienstes DIA mit den Worten: "Die Wahlen im Dezember 2005 haben scheinbar die Spannungen zwischen religiösen Gruppen angeheizt und zur noch schärferen Spaltung entlang religiöser Linien geführt." Der Bericht führt auch eine Studie des staatlichen US-Friedensinstituts an, das zu dem Schluss kommt: "Die Konzentration auf eine ethnische und religiöse Identität wurde durch die politische Entwicklung im Irak verschärft, während der Nationalismus und das Gefühl einer irakischen Identität zurückgehen."

Der GAO-Bericht bezieht sich ebenfalls auf eine Studie des Leiters des nationalen Geheimdienstes, wonach trotz der Versuche von Seiten des Pentagons, eine irakische Armee aufzustellen, "große Teile der irakischen Sicherheitskräfte loyal gegenüber religiösen Gruppen oder Partikularinteressen sind". Zitiert wird auch ein Pentagon-Bericht, laut dem die Polizei- und Militäreinheiten nach ethnischen und regionalen Kriterien organisiert sind, wobei hochrangige Offiziere "nur Soldaten ihrer eigenen religiösen oder regionalen Herkunft" kommandieren.

Der Bericht verweist auch auf das wirtschaftliche Debakel, das der amerikanische Krieg und die nachfolgende Besatzung im Irak geschaffen haben. Er führt die Zahlen von vergangenem Monat an, nach denen der Irak nur 2,17 Millionen Barrel Öl produziert hat und damit deutlich unter dem Vorkriegsniveau von 2,6 Millionen Barrel liegt.

Im gleichen Zeitraum gab es durchschnittlich "in Bagdad 5,9 Stunden und landesweit 10,7 Stunden pro Tag" Strom, was ein normales Wirtschaftsleben buchstäblich unmöglich macht.

Die Folge ist ein katastrophales Absinken des Labensstandards für die Masse der irakischen Bevölkerung. Die Inflationsrate wird sich Erwartungen zufolge in diesem Jahr verdoppeln und damit nicht weniger als 70 Prozent betragen. Die Preise für Treibstoff und Strom sind bereits im vergangenen Jahr um 270 Prozent gestiegen.

Der GAO-Bericht beschreibt den irakischen Widerstand als "stark und unverwüstlich" und erklärt: "Die Aufständischen stellen weiterhin ihre Fähigkeit unter Beweis, neue Kämpfer zu rekrutieren, sich mit Nachschub zu versorgen und Sicherheitskräfte der Koalition und des Iraks anzugreifen." Weiterhin heißt es darin: "Die sich verschlechternden Bedingungen bedrohen anhaltende Fortschritte bei den amerikanischen und anderen internationalen Bemühungen, dem Irak auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet zu helfen."

Gleichzeitig berichtet die Pentagon-Organisation zur Bekämpfung von Sprengfallen, dass die Zahl von Explosionen an Straßen, die zumeist am Tod der bislang insgesamt 2.600 im Irak gefallenen US-Soldaten schuld sind, im August auf 1.200 stieg und damit um das Vierfache höher liegt als im Januar 2004.

Washington gibt durchschnittlich 10 Milliarden Dollar pro Monat für das amerikanische Abenteuer im Irak aus. Erst kürzlich gab der US-Senat weitere 63 Milliarden Dollar für die Militäroperationen im Irak und in Afghanistan frei.

Ein weiteres Indiz für das stetig größer werdende Fiasko im Irak lieferte die Nachricht am Mittwoch vergangener Woche, dass irakische Sicherheitskräfte die Leichen von 65 Hingerichteten in Bagdad und Umgebung gefunden haben. Alle Leichen waren gefesselt und wiesen Folterspuren auf, einige waren geköpft worden. Der grausige Fund zeigt, dass Todesschwadronen ungestraft in der irakischen Hauptstadt agieren, auch nachdem das US-Militär im Rahmen einer stark beworbenen "Sicherheitsaktion" tausende Soldaten in die Stadt geschickt hatte, die Bagdad eigentlich befrieden sollten.

Washington hatte zuvor behauptet, dass die verstärkte Truppenpräsenz Erfolg zeige und die Zahl der Todesopfer religiös motivierter Gewalttaten in Bagdad von Juli bis August um 52 Prozent abgenommen habe. Anfang September kam jedoch heraus, dass diese vermeintliche "Erfolgsgeschichte" in Wirklichkeit auf falschen Zahlen des Pentagons beruhte.

Ohne dies bekannt zu geben, schlossen amerikanische Beamte hunderte Tote aus ihrer Statistik aus, die durch Autobomben und Mörserattacken ihr Leben verloren. Diese makabre Form der Statistikfälschung ist bezeichnend für die wachsende Verzweiflung der amerikanischen Besatzungsbehörden.

Das irakische Gesundheitsministerium half, das falsche Bild aus den Pentagonzahlen zu korrigieren. Es berichtete, dass im vergangenen Monat 1.536 Bagdader Einwohner einen gewaltsamen Tod erlitten.

Dieses wachsende Desaster, das aus dem amerikanischen Krieg und die nachfolgende Besatzung über das Land hervorgegangen ist, hat gegenseitige Anschuldigungen innerhalb der herrschenden Elite Amerikas ausgelöst, die durch die bevorstehenden Kongresswahlen noch verschärft werden.

Die Bush-Regierung hat eine anhaltende Propagandaoffensive begonnen, die den Krieg im Irak als Kampf zur Verhinderung von Terroranschlägen in den Vereinigten Staaten selbst darstellen und gleichzeitig alle Kriegsgegner als Komplizen von Al Qaida diffamieren soll. Die Demokratische Partei reagiert darauf mit dem Vorwurf an das Weiße Haus, den Krieg verpfuscht zu haben, der gemessen an seinen Zielen breite Zustimmung in der amerikanischen Finanzelite genoss.

Die Demokraten konzentrieren ihren Wahlkampf auf den Vorwurf, dass das Debakel im Irak das US-Militär schwäche und seinen Einsatz in anderen, wichtigeren Kriegen und zukünftigen Interventionen gefährde.

Anfang September hielt der ehemalige Präsidentschaftskandidat der Demokraten John Kerry eine Rede, in der er die Bush-Regierung für ihre "Still-stehen-und-verlieren-Strategie" angriff. Er forderte die Entsendung von weiteren 5.000 Soldaten nach Afghanistan, um den wachsenden Widerstand gegen die US-Besatzung in dem Land zu unterdrücken.

Kerry forderte zudem die "Verlegung" von amerikanischen Soldaten, die derzeit im Irakeinsatz sind, und macht damit deutlich, dass die Bemühungen zur Unterwerfung des ölreichen Landes nicht abgebrochen sondern nach rationaleren Kriterien neu organisiert werden sollten. Die Besatzung soll nach Kerrys Vorschlag fortgesetzt werden, wobei eine "verbleibende Truppe die Ausbildung [irakischer Sicherheitskräfte] vollendet" und "ausländische Einmischung verhindert". Mit anderen Worten: Zehntausende amerikanischer Soldaten würden im Irak bleiben, um die Herrschaft der Vereinigten Staaten über den Irak sicherzustellen.

Der ehemalige US-Präsident Bill Clinton schlug bei einer Rede vor einer jüdischen Wohltätigkeitsorganisation jüngst einen ähnlichen Ton an. "Wir brauchen mehr Soldaten", erklärte er und fügte hinzu: "Wir können keine Zuschlagen-und-wegrennen-Demokratie praktizieren."

Die New York Times zitierte am Mittwoch vergangener Woche den Politstrategen Jim Jordan in Bezug auf die Kongresswahlen im November 2006 mit den Worten: "Es ist besser für die Partei, wenn wir uns selbst als muskulös und bereit zur Landesverteidigung präsentieren."

Hinter dieser Wahlkampfstrategie steht die Entschlossenheit der beiden großen Parteien, die militaristische Politik fortzusetzen, um die globale wirtschaftliche und politische Vorherrschaft der Vereinigten Staaten zu behaupten. Durch ihr Bestreben "Muskeln" zu zeigen und ihre Forderung nach "mehr Soldaten" positionieren sich die Demokraten als die Partei, die den Kriegsdienst wieder einführt und Amerika in neue und noch schrecklichere Kriege führt.

Siehe auch:
Festhalten an der Iraklüge: Bush und Cheney ignorieren Senatsbericht über Widerlegung der Irak-Al Qaida-Verbindung
(19. September 2006)
Bush gibt Existenz von Geheimgefängnissen zu und fordert Militärtribunale
( 9. September 2006)
US-Armee verschärft Konfrontation mit Schiitenmiliz im Irak
( 2. September 2006)