Neunter Vortrag: Der Aufstieg des Faschismus in Deutschland und der Zusammenbruch der Kommunistischen Internationale
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Von Peter Schwarz
23. Dezember 2005
Dies ist der zweite Teil des Vortrags "Der Aufstieg des Faschismus in Deutschland und der Zusammenbruch der Kommunistischen Internationale" von Peter Schwarz. Schwarz ist Mitglied der internationalen Redaktion der WSWS und hielt seinen Vortrag im Rahmen der Sommerschule der Socialist Equality Party/WSWS, die vom 14. bis 20. August in Ann Arbor, USA stattfand. Wir veröffentlichen den Vortrag als dreiteilige Serie.
Faschismus und Abeiterklasse
Seine gesellschaftliche Basis fand der Nationalsozialismus nicht in den Massen als solchen, wie Horkheimer und Adorno behaupten, und mit Sicherheit nicht in der Arbeiterklasse, deren Entwicklung untrennbar mit der modernen Industrie und Technologie verbunden ist. Er fand sie in jenen Schichten des Kleinbürgertums und des Lumpenproletariats, die der Kapitalismus ausgeschieden, ruiniert und vernichtet hatte oder die den sozialen Absturz fürchteten.
Es waren die Handwerker, Krämer und Angestellten, die vom Nachkriegschaos nicht weniger heftig als die Arbeiter getroffen wurden; es waren die von der Landwirtschaftskrise zugrunde gerichteten Bauern; es waren die Kleineigentümer, die aus dem Bankrott nicht herauskamen, ihre studierten Söhne ohne Stellung und Klienten, ihrer Töchter ohne Aussteuer und Freier; es war die untere und mittlere Offiziersschicht des alten Heeres - wie es Trotzki in seinem Artikel "Porträt des Nationalsozialismus" so unübertrefflich schildert.
Zusammenfassend schreibt er: "Das nationale Erwachen stützte sich ganz und gar auf die Mittelklassen, den rückständigsten Teil der Nation, den schweren Ballast der Geschichte. Die politische Kunst bestand darin, das Kleinbürgertum durch Feindseligkeit gegen das Proletariat zusammenzuschweißen. Was wäre zu tun, damit alles besser werde? Vor allem die niederdrücken, die unten sind. Kraftlos vor den großen Wirtschaftsmächten hofft das Kleinbürgertum, durch die Zertrümmerung der Arbeiterorganisationen seine gesellschaftliche Würde wiederherzustellen." [4]
Aber während sich der Nationalsozialismus auf das Kleinbürgertum stützte und dieses gegen die Arbeiterklasse in Stellung brachte, entsprach seine Politik in keiner Weise den gesellschaftlichen Bedürfnissen des Kleinbürgertums. Einmal an der Macht, erhob sich Hitlers Partei über die Nation "als reinste Verkörperung des Imperialismus", wie Trotzki erklärt.
Er schreibt: "Der deutsche wie der italienische Faschismus stiegen über den Rücken des Kleinbürgertums an die Macht, das er in einen Rammbock gegen die Arbeiterklasse und die Einrichtungen der Demokratie zusammenpresste. Aber der Faschismus, einmal an der Macht, ist alles andere als eine Regierung des Kleinbürgertums. Mussolini hat recht: Die Mittelklassen sind nicht fähig zu selbständiger Politik. In Perioden großer Krisen sind sie berufen, die Politik einer der beiden Hauptklassen bis zum Unsinn zu führen. Dem Faschismus gelang es, sie in den Dienst des Kapitals zu stellen." [5]
Um die Entwicklung des Faschismus zu verstehen, muss man die Krise des Weltimperialismus und ihre Auswirkungen auf den deutschen Imperialismus untersuchen - und nicht die Mängel des aufgeklärten Denkens oder die Auswirkungen der Massenkultur auf die Arbeiterklasse, wie dies Horkheimer und Adorno tun. Auch dies hat Trotzki brillant zusammengefasst:
"Der russische Kapitalismus erwies sich infolge seiner außerordentlichen Zurückgebliebenheit als schwächstes Glied der imperialistischen Kette. Der deutsche Kapitalismus offenbart sich aus dem entgegengesetzten Grunde in der gegenwärtigen Krise als das schwächste Glied: Er ist der fortgeschrittenste Kapitalismus unter den Bedingungen der europäischen Ausweglosigkeit. Je größer die den Produktivkräften Deutschlands innewohnende dynamische Kraft, umso mehr muss Europas Staatensystem an ihnen würgen, das dem Käfigsystem einer zusammengeschrumpften Provinzmenagerie gleicht. Jede Konjunkturschwankung stellt den deutschen Kapitalismus vor eben die Aufgaben, die er durch den Krieg zu lösen versucht hatte." [6]
Für die Bourgeoisie gab es nur einen Ausweg aus dieser Krise. Sie musste erreichen, was sie im Ersten Weltkrieg nicht erreicht hatte. Sie musste Europa mit militärischer Gewalt reorganisieren, es der deutschen Vorherrschaft unterwerfen und neuen "Lebensraum" im Osten erobern. Der Krieg war nicht das Ergebnis von Hitlers Größenwahn, sondern der objektiven Bedürfnisse des deutschen Imperialismus. Bevor sie den Krieg führen konnte, musste die imperialistische Bourgeoisie jedoch den "inneren Feind" besiegen - die mächtige und gut organisierte deutsche Arbeiterklasse.
Horkheimer und Adorno ignorieren einfach, dass die Arbeiterklasse den Faschismus in ihrer überwiegenden Mehrheit ablehnte. Das zeigt, wie unehrlich sie argumentieren. Ihre Auslassungen über die "Beherrschten" - die "Affinität" der "technologisch erzogenen Massen" zur "völkischen Paranoia", die Annäherung ihrer "Erfahrungswelt" an die "der Lurche" - haben mehr mit dem Bild des Nationalsozialismus gemein, das durch die Nazi-Propaganda (z.B. die Filme Leni Riefenstahls) erzeugt wurde, als mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit Deutschlands.
Es ist eine unwiderlegbare historische Tatsache, dass der Nationalsozialismus vor Hitlers Machtübernahme im Januar 1933 kaum Unterstützung in der Arbeiterklasse fand. Bei den letzten halbwegs demokratischen Wahlen im November 1932 erhielten die beiden großen Arbeiterparteien, SPD und KPD, zusammen 13,2 Millionen Stimmen, mehr als die NSDAP mit 11,7 Millionen. Gerade die "technologisch erzogenen Massen", d.h. die Arbeiter in den großen Industriebetrieben, standen nahezu geschlossen hinter der SPD oder der KPD.
Die wichtigste politische Aufgabe des Faschismus bestand gerade darin, diese organisierte Abeiterklasse zu zerschlagen. Deshalb stellte sich, als sich die Krise in den dreißiger Jahren zuspitze, nahezu die gesamte politische und wirtschaftliche Elite hinter Hitler, der Anfangs von großen Teilen der Bourgeoisie eher misstrauisch beobachtet worden war: Die Großindustriellen, die Hitler im Januar 1932 in Düsseldorf ihre Unterstützung versprachen, und der Generalstab der Wehrmacht, der eine Schlüsselrolle bei seiner Ernennung zum Kanzler im Januar 1933 spielte.
Die ungeheure Brutalität, mit der die Nazis vorgingen, stand in proportionalem Verhältnis zur hervorragenden Organisation und zum hohen kulturellen Niveau der Arbeiterklasse. Es genügte nicht, die revolutionären Führer zu verhaften und einzusperren - das hätte eine Militär- oder Polizeidiktatur auch erledigen können. Man musste das Ergebnis der jahrzehntelangen marxistischen Bildungs-, Erziehungs- und Organisationsarbeit zerstören, welche die Arbeiterklasse in Deutschland geprägt hatte.
Es war kein Zufall, dass die Nazis die Werke von Heinrich Heine, Stefan Zweig, Heinrich Mann, Sigmund Freud und vielen anderen nicht nur verboten und aus den Bibliotheken verbannten, sondern öffentlich verbrannten. Sie mussten ein Fanal gegen die Kultur setzen, die sie instinktiv mit der Arbeiterklasse, gesellschaftlichem Fortschritt und Sozialismus in Zusammenhang brachten. In dieser Hinsicht verstanden Hitler und Goebbels den tatsächlichen Zusammenhang zwischen Arbeiterklasse und Kultur weit besser als Horkheimer und Adorno.
Trotzki schrieb: "Der Faschismus ist nicht einfach ein System von Repressionen, Gewalttaten, Polizeiterror. Der Faschismus ist ein besonderes Staatssystem, begründet auf der Ausrottung aller Elemente proletarischer Demokratie in der bürgerlichen Gesellschaft. Die Aufgabe des Faschismus besteht nicht allein in der Zerschlagung der proletarischen Avantgarde, sondern auch darin, die ganze Klasse im Zustand erzwungener Zersplitterung zu halten. Hierzu ist die physische Ausrottung der revolutionären Arbeiterschicht nicht ausreichend. Es heißt, alle selbständigen und freiwilligen Organisationen zu zertrümmern, alle Stützpunkte des Proletariats zu vernichten und die Ergebnisse von einem dreiviertel Jahrhundert Arbeit der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften auszurotten. Denn auf diese Arbeit stützt sich in letzter Instanz auch die Kommunistische Partei." [7]
Hauptopfer dieser Politik wurden am Ende die europäischen Juden. Im Anfangsstadium nutzten die Nazis den Antisemitismus, dessen historische Wurzeln bis ins Mittelalter zurückreichen, um rückständige Bevölkerungsschichten zu mobilisieren und von den wachsenden Klassenspannungen abzulenken. Als Hitler an der Macht war, wurden immer dann antisemitische Pogrome veranstaltet, wenn der Druck der Bevölkerung auf das Regime zunahm. Mit dem Beginn des Krieges fielen dann alle Schranken für die extremsten Formen des Antisemitismus und diese entwickelten ihre eigene Logik.
Der Holocaust beruhte auf einer Kombination von irrationalen und völlig rationalen Motiven: Die Arisierung, die Enteignung wohlhabender Juden, lieferte beträchtliche Mittel zur Bereicherung der Nazis, anderer Teile der deutschen Bourgeoisie und der Staatskasse; die Vernichtung Millionen armer Juden im Osten war Bestandteil einer umfassenderen Strategie des Völkermords, die Raum für deutsche Siedler schaffen sollte.
Es handelt sich um eine komplexe Frage, die im Rahmen dieses Vortrags kaum untersucht werden kann. Eines ist aber offensichtlich: Das Schicksal der europäischen Juden war auf das Engste mit dem Schicksal der Arbeiterklasse verbunden. Nach der Niederlage der deutschen Arbeiterklasse gab es keine gesellschaftliche Kraft mehr, die die europäischen Juden gegen die völkermörderische Politik der Nazis hätte verteidigen können.
Kaum waren die Nazis an der Macht, zeigte sich der imperialistische Charakter ihrer Politik. Hitler missachtete die Bestimmungen des Versailler Vertrags und leitete ein massives Aufrüstungsprogramm ein. Er ließ ein Autobahnnetz bauen, dass es der deutschen Armee ermöglichte, sich in kürzester Zeit von einem Ende des Landes zum anderen zu bewegen. Die hohen Geldsummen, die in diese Projekte flossen, und die Zerschlagung der Arbeiterorganisationen hatten eine zeitweilige Erholung der Wirtschaft zur Folge, die es Hitler ermöglichte, seine Diktatur zu konsolidieren. Aber langfristig unterhöhlten die massiven öffentlichen Ausgaben die Wirtschaft so sehr, dass nur noch ein Krieg ihren Zusammenbruch verhindern konnte.
Der Historiker Tim Mason schreibt dazu: "Die einzige Lösung der strukturellen Spannungen und der durch Diktatur und Aufrüstung hervorgerufenen Krisen, die dem Regime zur Verfügung stand, waren mehr Diktatur und mehr Aufrüstung, dann Expansion, dann Krieg und Terror und schließlich Plünderung und Versklavung. Die stets präsente Alternative war Zusammenbruch und Chaos, und so waren alle Lösungen zeitweilige, hektische, kurzfristige und zunehmend barbarische Improvisationen über ein brutales Thema." [8]
Viele internationale Widersacher, allen voran der britische Premier Neville Chamberlain, schätzen Hitler in dieser Hinsicht völlig falsch ein. Sie dachten, er würde unter massivem ökonomischem Druck eher zu Kompromissen neigen. Nachdem er Hitler im Münchener Abkommen das Sudetenland und mit ihm die gesamten tschechoslowakischen Verteidigungsanlagen zugestanden hatte, glaubte Chamberlain, er habe einen dauerhaften Frieden gesichert. Das Gegenteil war der Fall. Für Hitler war die Übernahme des Sudetenlandes lediglich ein weiterer Schritt in Richtung Krieg. Durch die wirtschaftliche Krise in die Sackgasse getrieben, konnte er sein Regime nur retten, indem er immer aggressiver vorging.
Hier gibt es offensichtliche Parallelen zur heutigen Lage. Tim Masons Bemerkung über das Hitler-Regime könnte auch auf die Bush-Administration übertragen werden. Die einzige "Lösung" der strukturellen Spannungen und der durch den Krieg hervorgerufenen Krisen, die dem Regime zur Verfügung steht, ist mehr Krieg. Es wäre eine Illusion, glaubte man, die Bush-Administration - oder die amerikanische Elite als ganze - würden angesichts einer schweren Krise im Irak und einer unhaltbaren wirtschaftlichen Lage die Truppen einfach zurückziehen und zu normaleren Umständen zurückkehren. Das würde den US-Imperialismus nicht nur im Mittleren Osten und international untergraben, sondern auch im eigenen Land. So ist die einzige Lösung mehr Krieg und mehr Angriffe auf demokratische Rechte.
Es gibt auch bestimmte Parallelen zwischen der Krise, die Hitlers Machtübernahme voranging, und der gegenwärtigen Lage in Deutschland. Mit der Entscheidung für vorgezogene Neuwahlen hat Bundeskanzler Schröder auf eine politische und wirtschaftliche Sackgasse reagiert. In der Außenpolitik sind die deutschen Pläne, eine bedeutendere Rolle als Großmacht zu spielen, durch das Scheitern der EU-Verfassung und der Pläne für einen permanenten Sitz im UN-Sicherheitsrat durchkreuzt worden. Wirtschaftlich ist es trotz massiven Angriffen auf die Arbeiterklasse nicht gelungen, die Arbeitslosenzahl von fünf Millionen zu senken und die Wirtschaft zu beleben. Und an der inneren Front stoßen die Angriffe auf soziale Errungenschaften und Arbeiterrechte auf weit verbreitete Ablehnung.
Die vorgezogenen Neuwahlen sind als Befreiungsschlag gedacht. Sie sollen eine Regierung an die Macht zu bringen, die stark genug ist, unpopuläre Maßnahmen durchzusetzen. Schröder hat zu diesem Zweck eine Verfassungsbestimmung verletzt, die verhindern soll, dass es zu politischer Instabilität wie am Ende der Weimarer Republik kommt - das Verbot einer Selbstauflösung des Parlaments.
Es ist aber jetzt schon klar, dass die Wahl unabhängig von ihrem Ausgang die politische Krise nicht lösen wird. Es ist gut möglich, dass weder die jetzige noch die Koalition von Union und Freidemokraten die Mehrheit bekommen wird. Die herrschende Elite ist sich zunehmend bewusst, dass ein Regierungswechsel an sich nicht ausreicht, um die drängenden, durch die internationale Lage gestellten politischen und ökonomischen Aufgaben zu lösen. Um die verbreitete und tief verwurzelte Opposition gegen soziale Ungleichheit und Sozialabbau zu brechen, sind neue Herrschaftsmethoden erforderlich, die in grundlegender Weise mit den auf sozialem und politischem Konsens beruhenden Nachkriegstraditionen brechen.
Quellen:
[4] Leo Trotzki, Porträt des Nationalsozialismus, Essen 1999, S. 303
[5] ebd., S. 307
[6] Was nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats, in ebd., S. 67
[7] ebd., S. 69
[8] Tim Mason, Nazism, fascism and the working class, Cambridge 1996 (aus dem Englischen)