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Parteitag der Grünen

Eine bürgerliche Mittelstandspartei

Von Ulrich Rippert
9. Oktober 2004

Das Auffallendste am Parteitag der Grünen, der am vergangenen Wochenende in Kiel tagte, war das Fehlen jeder ernsthaften Auseinandersetzung. Die großen gesellschaftlichen Probleme - steigende Arbeitslosigkeit, wachsende soziale Polarisierung durch ständige Sozialkürzungen auf der einen und Steuergeschenke auf der anderen Seite, oder die Stimmengewinne neofaschistischer Parteien bei den jüngsten Landtagswahlen - kamen in den Debatten so gut wie nicht vor.

Stattdessen beglückwünschten sich die Delegierten gegenseitig zu guten Wahlergebnissen und hohen Umfragewerten. Der "Harmonie-Parteitag" machte den Wandlungsprozess deutlich, den die Grünen in den vergangenen fünf Regierungsjahren vollzogen haben. Zwar waren auch die oft tränenreichen Redeschlachten zwischen "Fundis" und "Realos" auf früheren Parteitagen mehr emotional als politisch fundiert. Doch sie widerspiegelten einen politischen Gärungsprozess in Teilen der Gesellschaft. Noch vor vier Jahren wurde Außenminister Joschka Fischer wegen seiner Unterstützung des Kosovo-Kriegs mit einem Farbbeutel beworfen.

In Kiel zeigten sich die Grünen als das, was sie wirklich sind: eine selbstgefällige, durch und durch bürgerliche Mittelstandspartei, die sich trotz ihrer Konkurrenz zur FDP kaum von dieser unterscheidet.

Schon auf einem Sonderparteitag vor einem Jahr hatten die Grünen Schröders Agenda 2010 ohne Wenn und Aber unterstützt und damit den Weg frei gemacht für den bisher größten Sozialabbau in der Geschichte der Bundesrepublik. In den anschließenden Auseinandersetzungen um Hartz IV haben sie bei jeder Gelegenheit deutlich gemacht, dass sie sich als die Kraft in der Regierung verstehen, die dafür sorgt, dass die SPD dem Druck aus der Bevölkerung nicht nachgibt. Da die Zerschlagung der Sozialsysteme als "Reform des Sozialstaats" bezeichnet wird, trat in Kiel ein grüner Parteitagsredner nach dem anderen auf, um die Partei als "Reformmotor" zu preisen.

Den Anfang machte der als Bundesvorsitzender wieder gewählt Reinhard Bütikofer. In seinem Grundsatzreferat rief er zur "Fortsetzung des Reformkurses" auf. Der "Hauptkonflikt um die Sozial- und Arbeitsmarktreformen" sei noch nicht ausgestanden. Wer glaube, es gebe mehr Gerechtigkeit, wenn man Reformen ausweiche, täusche sich. Angesichts der Massenproteste schlug Bütikofer vor, die Arbeitsmarkreformen "im kommenden Jahr kritisch zu überprüfen und wo nötig zu korrigieren". Das genügte, um die Delegierten zu beruhigen.

Als der Vorsitzende der Jugendorganisation der Grünen, Stephan Schilling, einen Antrag einbrachte, der die von den Grünen befürwortete Einführung einer Bürgerversicherung mit einer Bemessungsgrenze von 5150 Euro statt gegenwärtig 3487 Euro verband, und den Delegierten zurief, dies sei ein kleiner Beitrag, "die Gerechtigkeitslücke der Agenda 2010 zu schließen", bekam er zwar viel Beifall, aber selbst diese geringfügige Änderung wurde mehrheitlich abgelehnt.

Eine ganze Reihe Vorstandsmitglieder ergriffen eilig das Wort und warnten davor, dass eine Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze "den Arbeitsmarkt erheblich belasten" würde. An den Arbeitsplätzen der Gutverdienenden, die dadurch in Gefahr gerieten, hingen schließlich auch die der schlechter Verdienenden.

In dieselbe Kerbe schlug auch Professor Karl Lauterbach, der ein Gastreferat über die Bedeutung der Bürgerversicherung hielt. Der Kölner Professor wird oft als "Vater der Bürgerversicherung" bezeichnet und ist wissenschaftlicher Berater der SPD. Ob der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering ihn geschickt hatte, blieb unklar. Immerhin hatte Müntefering in einem schriftlichen Grußwort die Delegierten zur Fortsetzung der Zusammenarbeit aufgefordert und ermahnt, nicht übermütig zu werden. Rot sei die Grundfarbe und grün sei eine abgeleitete Farbe, betonte er in einem Interview mit dem Berliner Tagesspiegel am selben Wochenende.

Die vom Parteitag befürwortete Bürgerversicherung ist eine zweischneidige Angelegenheit. Ihre Befürworter betonen, dass sie darauf abziele, alle Einkommen - also auch Freiberufler, Beamte und Selbstständige - zur Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung heranzuziehen und auch Vermögensbestandteile wie Zins- und Aktiengewinne mit Sozialabgaben zu belegen. Das ist zweifellos zu befürworten. Doch gleichzeitig sollen dadurch die Lohnnebenkosten, das heißt der Arbeitgeberanteil an den Beiträgen zur Krankenkasse gesenkt oder schrittweise ganz abgeschafft werden.

Auf dem Parteitag wurde zu dieser Frage der Leitantrag des Vorstands angenommen, der sich allgemein für ein Festhalten am gegenwärtigen System einer paritätischen Finanzierung ausspricht, aber eine Beitragsbegrenzung bei 13 Prozent (6,5 Prozent Arbeitgeberanteil) vorsieht.

Hans Christian Ströbele, der als Sprecher des linken Flügels ans Mikrophon trat, begründete einen Antrag auf Einführung einer Vermögenssteuer, die er als "Millionärssteuer" bezeichnete. Bereits im Vorfeld des Parteitags war abgesprochen worden, dass der Bundesvorstand diese Forderung in abgeschwächter Form in einem Leitantrag übernimmt. "Ich bin zufrieden" zitiert Der Spiegel Ströbele, dem es nur darauf angekommen sei, das Thema nicht völlig absterben zu lassen. Der Kompromiss sei eine "gute Arbeitsgrundlage", erklärte Ströbele. Bis zum nächsten Parteitag soll nun eine Arbeitsgruppe Vorschläge ausarbeiten, wie große Vermögen besteuert werden können, ohne dass der bürokratische Aufwand den Nutzen überwiegt.

Das ist nichts anderes als eine zynische Beschäftigungstherapie, um einen linken Flügel vorzutäuschen, von deren Vertreter allerdings keiner ernsthaft daran glaubt, dass diese Partei jemals eine Steuer auf hohe Einkommen fordern, geschweige denn durchsetzen werde.

Außenminister Joschka Fischer fasste den Opportunismus der Grünen mit den Worten zusammen, es gäbe Widersprüche, die es in den Konzepten der Grünen "programmatisch aufzulösen" gelte. Einer dieser Widersprüche bestehe darin, dass derzeit einfach nicht genügend Geld für die Art von Sozialstaat vorhanden sei, den die Grünen sich wünschten, erklärte Fischer.

Keiner der Delegierten fragte ihn, warum die rot-grüne Bundesregierung zusätzlich zur Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer die Spitzensteuersätze drastisch gesenkt habe. Anfang kommenden Jahres wird die dritte Stufe der Steuerreform durchgeführt. Der Spitzensteuersatz sinkt dann von 53 Prozent am Ende der Ära Kohl auf 42 Prozent. Einkommensmillionäre werden jährlich über 100.000 Euro an Steuern sparen, während die "leeren Kassen" zur Begründung für weiteren Sozialabbau dienen.

Auch in der Außenpolitik sprach Fischer von Widersprüchen, die es programmatisch aufzulösen gelte. So gebe es ein "Spannungsverhältnis" zwischen Grundrechten und den Maßnahmen, die "in Zeiten des Terrors zu ihrer Bewahrung diskutiert werden". Mit diesen Worten verteidigte er nicht nur die Unterdrückungsmaßnahmen, die der russische Präsident Putin nach dem Terroranschlag in Beslan ergriffen hat. Fischer übernimmt damit die verlogene Argumentation der amerikanischen Regierung, die ihre permanenten Angriffe auf demokratische Rechte mit dem Kampf gegen den Terrorismus begründet.

In der Vergangenheit konnte man das "Auflösen von Widersprüchen" bei den Grünen schon öfter studieren. Vor allem ihre Wandlung vom Pazifismus zum Militarismus, über "friedenfördernde", "friedenschaffende" und "friedenerzwingende Maßnahmen" war atemberaubend. Auch jetzt stimmten die Delegierten wieder für einen Antrag gegen Rüstungsexport. Als zur Sprache kam, dass die Bundesregierung beabsichtigt, 20 Fuchs-Panzer und 80 weitere Lkw an die irakischen Übergangsregierung zu liefern, votierten der Parteitag dagegen.

Zwei Tage später erklärte der Grünen-Bundesvorstand er gehe davon aus, dass der Parteitagsbeschluß für die Entscheidung der Bundesregierung irrelevant sei. Die Parteivorsitzende Claudia Roth erklärte, es handle sich nicht um Rüstungsexport im klassischen Sinne, sondern um "Ausrüstungsunterstützung". In einer Stellungnahme des Vorstands schrieb sie: "Die irakischen Polizisten und Soldaten der Übergangsregierung werden ständig durch Attentate und Anschläge bedroht, niedergeschossen und weggebombt. Kann man dann die Bitte ihrer Regierung um geschützte Fahrzeuge ablehnen?"

Mit der selben Begründung wird der Bundesvorstand auch der Entsendung deutscher Truppen in den Irak zustimmen, wenn es die Bundesregierung für opportun hält. Vielleicht erklären Fischer und Roth dann, es handle sich nicht um einen Kriegs-, sondern um einen Friedenseinsatz zur Unterstützung der bedrängten irakischen Übergangsregierung. Der Opportunismus der Grünen kennt keine Grenzen.

Die ständige Rechtsentwicklung der Grünen ist eng mit ihrer Geschichte und den politischen Standpunkten ihrer Gründungszeit verbunden. Der Kieler Parteitag kennzeichnete den 25. Jahrestag der Gründung dieser Partei. Viele Gründungsmitglieder der Grünen stammen aus der studentischen Protestbewegung der sechziger Jahre. Diese setzte sich kritisch mit der kapitalistischen Gesellschaft und der Nazi-Vergangenheit auseinander, betrachtete aber die Arbeiterklasse als konservative, durch Konsum ins System integrierte Kraft.

Als dann 1968 in Frankreich und 1969 in Deutschland große Arbeitskämpfe ausbrachen, entstand eine Vielzahl politischer Zirkel und Gruppen, die sich als sozialistisch und revolutionär bezeichneten und sich an Mao, Che Guevara und anderen Heroen der Epoche orientierten. Die idealistische Verklärung dieser Heroen diente als Ersatz für eine ernsthafte Hinwendung zum Marxismus und zur Arbeiterklasse. Ein anderer Teil der Studentenbewegung ging in die SPD und schwärmte für Willy Brandt.

Als sich Mitte der siebziger Jahre die SPD scharf nach rechts wandte, die Arbeiterklasse herbe Niederlagen hinnehmen musste und die Bourgeoisie weltweit zur Gegenoffensive überging, wich die anfängliche Begeisterung tiefer Frustration und politischer Orientierungslosigkeit. Es begann eine Periode, in der politische Standpunkte und Überzeugungen ohne ernsthafte Prüfung verworfen und zurückgewiesen wurden.

Unter diesen Bedingungen entstand Ende der siebziger Jahre die Partei der Grünen. Sie lehnten nicht nur eine sozialistische Perspektive und den Klassenkampf als Mittel der Politik ab, sondern wiesen auch die Auffassung, dass politische Programme der bewusste Ausdruck gesellschaftlicher Interessen seien, weit von sich. Umwelt, Frieden und Demokratie lauteten die Eckpunkte ihres Programms - und sie waren überzeugt, man könne es verwirklichen, ohne die bestehenden Eigentumsverhältnisse in Frage zu stellen.

Mit der Hoffnung, Politik und Gesellschaft zu humanisieren, zogen sie Anfang der achtziger Jahre in den Bundestag ein. In den langen Jahren der Opposition gegen die Kohl-Regierung und der damit verbundenen gesellschaftlichen Stagnation gewannen sie zusehends an Einfluss. Doch in dem Maße, wie der Klassencharakter der Gesellschaft wieder sichtbar wurde, verwandelte sich das Gerede über "humanitäre Ziele" in einen Deckmantel für nackte kapitalistische und imperialistische Interessen. So wurden die Grünen zum politischen Instrument, um einen Teil der früheren Protestgeneration ins politische Establishment einzubinden.

Dazu kommt, dass das soziale Milieu, auf das sie sich bisher gestützt haben, tief gespalten ist. Während ein kleinerer Teil dieser Mittelschichten aufgestiegen ist, versinkt die überwiegende Mehrheit in wachsender Armut durch Scheinselbständigkeit und Arbeitslosigkeit.

Die Grünen sind heute eindeutig die "Partei der Besserverdienenden". Im Sommer verglich eine Studie, die sich auf repräsentative Umfragen bei Wählern von FDP und Grüne stützte, deren Mitglieder. Demnach lag im Jahr 2002 das mittlere Einkommen bei den Grünen zwischen monatlich 1.750 Euro und 2.000 Euro, bei den Freidemokraten lediglich zwischen 1.500 und 1.750 Euro. Jeder Vierte Grüne verfügt monatlich über ein Netto-Haushaltseinkommen in Höhe von mindestens 3.000 Euro, bei den Liberalen sind es nur 23 Prozent.

Der wiedergewählte Parteivorsitzende Reinhard Bütikofer ist ein typischer Repräsentant der Grünen. Anfang der siebziger Jahre studierte er in Heidelberg Philosophie und Geschichte und wurde Mitglied in einer maoistischen Hochschulgruppe (1974-1980, Kommunistische Hochschulgruppe, KHG). Ab 1982 engagierte er sich in der Grün-Alternativen Liste und wurde zwei Jahre später grüner Stadtrat von Heidelberg, dann Landtagsabgeordneter, Sprecher des "Realo-Flügel" und schließlich Bundesgeschäftsführer, bis er vor zwei Jahren zu einem der beiden Vorsitzenden gewählt wurde.

Heute verkörpert er förmlich die Selbstgefälligkeit der Grünen, warnt davor die Leistungsträger der Gesellschaft zu sehr zu belasten und hält enge Verbindung zu den Wirtschaftsverbänden, die ihn als ernsthaften Gesprächspartner würdigen.

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