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Vierzig Jahre nach dem Frankfurter Auschwitzprozess

Teil 3 - Juristisches Totschweigen der NS-Verbrechen

Von Sybille Fuchs
30. März 2004

Angeklagter 1: Wir alle
das möchte ich nochmals betonen
haben nichts als unsere Schuldigkeit getan
selbst wenn es uns schwerfiel
und wenn wir daran verzweifeln wollten
Heute
da unsere Nation sich wieder
du einer führenden Stellung
emporgearbeitet hat
sollten wir uns mit anderen Dingen befassen
als mit Vorwürfen
die als längst verjährt
angesehen werden müssten
(laute Zustimmung von seiten der Angeklagten)
 

(Peter Weiss: Die Ermittlung, Frankfurt 1965)

Nach dem Nürnberger Prozess, der noch von den Alliierten organisiert worden war und in dem nur wenige Vertreter der nationalsozialistischen Führungselite wegen ihrer Verbrechen angeklagt und verurteilt wurden, herrschte in der Anfangszeit der Bundesrepublik lange Zeit ein ziemlich geschlossenes Stillschweigen über die Vernichtungslager. Wirtschaftsführer wie Alfried Krupp, die von der Arbeit der KZ-Häftlinge profitiert hatten, wurden mit Billigung der Alliierten nach kurzer Haft wieder freigelassen und konnten ihre Konzerne weiter führen.

Der Kalte Krieg beherrschte damals die Politik und die Medien. Schon bald nach Gründung der Bundesrepublik hatten sich die Alliierten vollständig aus der Verfolgung von Naziverbrechern zurückgezogen und sie der deutschen Justiz überlassen. Da das am 29. Mai 1949 in Kraft getretene Grundgesetz es verbot, Deutsche ans Ausland auszuliefern, wurden zahlreiche untergetauchte Naziverbrecher, deren Straftaten im Ausland oder an Ausländern verübt worden waren, auch nicht an diese Länder ausgeliefert. Die bundesdeutsche Justiz jedoch wurde nur in seltenen Fällen gegen sie tätig.

Alle Straftaten aus der Zeit des Nationalsozialismus, die mit weniger als einem Jahr geahndet worden wären, fielen ohnehin unter eine Amnestie. Ab 1954 galt dies auch für Straftaten, die bis zu drei Jahre nach sich gezogen hätten. Das heißt, die Kleinen ließ man ohnehin laufen. Auch Straftaten wie "Verschleierung des Personenstandes aus politischen Gründen" wurden amnestiert. Das erleichterte auch vielen größeren Verbrechern das Untertauchen. (1)

"Inzwischen hatten die Westalliierten ‚geradezu in einem Gnadenfieber' - wie einer der Ankläger von Nürnberg, Robert Kempner später anmerkte, fast alle von ihnen abgeurteilten Naziverbrecher amnestiert....1953 befanden sich die meisten von ihnen schon wieder auf freiem Fuß und der letzte wurde dann 1958 entlassen." (2)

In der Regierung Adenauer und in den Ministerien saßen hohe Nazis wie Theodor Oberländer (3) und Hans Globke. Daher konnte Oswald Kaduk, einer der meistbelasteten Angeklagten sagen: "Ich verstehe nicht, warum ich hier so hergenommen werde, während die wirklich Schuldigen frei sind. Wenn ich nur an Staatssekretär Globke denke...".

Hans Maria Globke hatte noch kurz zuvor als Staatssekretär im Bonner Bundeskanzleramt gesessen, obwohl er 1936 Mitautor des Kommentars zu den Nürnberger Rassengesetzen gewesen war. Dieser Kommentar hatte als eine Art Handbuch für den Alltag für Richter, KZ-Wächter oder Wehrmachtsoffiziere erläutert, wie mit Juden oder Sinti und Roma als "Artfremden" umzugehen sei. Weder Globke noch die Richter, die Juden oder jene, die sich weigerten, sie als Untermenschen zu betrachten, zum Tode oder anderen drakonischen Strafen verurteilten, saßen jemals vor Gericht.

Viele Richter, die willig im Interesse der Nazidiktatur Recht gesprochen hatten, waren wieder in Amt und Würden oder genossen in Frieden ihren Ruhestand. Nach der Wiederbewaffnung wurden die Offiziere von Hitlers Wehrmacht zum Aufbau der Bundeswehr herangezogen, ohne ihre Vergangenheit näher zu untersuchen.

Eine systematische Strafverfolgung von Naziverbrechern hat in der Bundesrepublik nie stattgefunden, genauso wenig wie eine angemessene Entschädigung ihrer Opfer. Bis heute weigern sich Profiteure von Auschwitz wie die Flick-Erben, sich an der Entschädigung der Zwangsarbeiter zu beteiligen. Ebenso wenig zur Verantwortung gezogen wurden die Wirtschaftsführer der IG Farben. Zu ihnen gehörte Heinrich Bütefisch, den die Bundesregierung sogar mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet hatte, obwohl er von einem alliierten Gericht in Nürnberg verurteilt worden war.

Bütefisch gehörte als Direktor der IG-Farben zu den Mitverantwortlichen für die Ausbeutung der Auschwitzhäftlinge als Zwangsarbeiter. Darüber hinaus gehörte er dem exklusiven "Freundeskreis des Reichsführers SS" an und stand im Rang eines SS-Obersturmführers. Als dies bekannt wurde, ordnete Bundespräsident Heinrich Lübke die Rückgabe des Ordenszeichens an.

Erst 1958 wurde die Ludwigsburger Zentralstelle zur Erfassung dieser Verbrechen eingerichtet. Von einer systematischen Verfolgung der Naziverbrecher konnte aber auch danach nicht die Rede sein. Insgesamt wurden weniger als 500 Personen wegen ihrer Beteiligung an der organisierten Judenvernichtung bestraft.

Nur 100 der 4.500 Personen, die zwischen 1945 und 1949 wegen NS-Delikten vor deutschen Gerichten standen, waren wegen Tötungsverbrechen angeklagt worden (Die Zeit 51/2003). Von den Richtern des für seine skandalöse Rechtsbeugung berüchtigten Volksgerichtshofs wurde nie einer juristisch belangt. Erst in den neunziger Jahren stellte der Bundesgerichtshof fest, dass diese Verschonung der NS-Richter einen "Rechtsfehler" darstelle und dass eine Bestrafung wegen Rechtsbeugung notwendig gewesen wäre.

In der 1949 gerade gegründeten Bundesrepublik wurde als eines der ersten Gesetze das sogenannte Straffreiheitsgesetz verabschiedet, das alle vor dem 15. September dieses Jahres begangenen Taten, die mit Gefängnis bis zu sechs Monaten beziehungsweise bis zu einem Jahr auf Bewährung geahndet werden konnten, amnestierte. 1950 empfahl der Bundestag, die Entnazifizierung zu beenden. In den fünfziger Jahren folgte dann Gesetz auf Gesetz, meist mit ausdrücklicher Billigung der Alliierten, durch die Naziverbrecher in immer weiterem Umfang straffrei gestellt wurden. Das Wirtschaftswunder, der Kalte Krieg und die Bekämpfung des Feindes im Osten beherrschten Politik und Medien der Bundesrepublik.

Fast die gesamte mittlere und höhere Führungsebene des nationalsozialistischen Vernichtungsapparats war nach der halbherzig durchgeführten "Entnazifizierung" durch die Besatzungsmächte wieder in Justiz und Verwaltung eingegliedert worden und wurde nie wieder zur Rechenschaft gezogen.

1960 ließ der Bundestag sämtliche Naziverbrechen, sämtliche Tötungsdelikte außer Mord verjähren, nachdem er bereits in den 50er Jahren alle dagegen gerichteten Alliiertenverordnungen aufgehoben hatte. Fritz Bauer bemerkte damals, es sei verständlich, dass Staatsanwaltschaften und Gerichte aus solchen politischen Beschlüssen glaubten, "den Schluss ziehen zu können, nach Auffassung von Gesetzgebung und Exekutive sei die juristische Bewältigung der Vergangenheit abgeschlossen." (4)

Die generelle Unwilligkeit zu Verfolgung der Naziverbrechen wirkte sich bis in die Ermittlungen zum Auschwitzprozess aus. Der Untersuchungsrichter Hans Düx führt folgenden Vorfall an: "So wurde ein auf dem Dienstweg zu versendendes eiliges Schreiben an die sowjetische Botschaft in Bonn im Justizministerium in Wiesbaden tagelang angehalten, weil in dem Schreiben die Bezeichnung DDR gebraucht worden war. Das Ministerium bestand darauf, es solle die Bezeichnung ‚Sowjetische Besatzungszone (SBZ)' verwendet werden." (5)

Erst durch den Auschwitzprozess wurde die skandalöse Debatte um die Aufhebung der Verjährungsfrist für Mord in Gang gebracht, die sich quälend viele Jahre hinzog. Endgültig wurde durch Bundestagsbeschluss die Verjährung für Mord und Völkermord erst am 16. Juli 1979 aufgehoben. Aber absurderweise konnte der erst 1954 ins Strafgesetzbuch eingeführte Paragraph gegen Völkermord auf die Naziverbrechen nicht im Nachhinein angewendet werden. Die Aufhebung der Verjährung galt daher nur für künftige Völkermorde. (6)

Auch wenn die rechtlichen Folgen des Auschwitzprozesses bei weitem nicht den Hoffnungen entsprachen, die viele Opfer und die Initiatoren des Prozesses sich gemacht hatten, hatte er doch das geistige Klima der Bundesrepublik entscheidend verändert. Die ungeschminkte Wahrheit über die Vernichtungslager, die durch ihn ans Licht kam, brachte viele, vor allem junge Menschen dazu, immer wieder nachzufragen, wie es zu diesem ungeheuerlichen Verbrechen kommen konnte. Was waren die wirklichen Ursachen für den Nationalsozialismus? Weshalb konnte er siegen?

Warum war der Widerstand gegen ihn so schwach? Weshalb hat die bürgerliche Demokratie der Weimarer Republik so kläglich versagt? Warum hat die Arbeiterklasse, die über mächtige Organisationen, die Gewerkschaften, die Sozialdemokratische und die Kommunistische Partei verfügte, Hitler an die Macht kommen lassen? Was waren die Ursachen für die Spaltung der Arbeiterbewegung? Warum kam es nicht zu einem gemeinsamen Kampf gegen den Nationalsozialismus?

Fragen, die heute noch von derselben Aktualität sind wie vor vierzig Jahren und sich nur beantworten lassen, durch ein genaues Studium der Geschichte. Die einzig schlüssigen Antworten auf diese Fragen fanden einige von uns damals in den Analysen und Artikeln Leo Trotzkis, die inzwischen von der Geschichte in allen Punkten bestätigt wurden. Auschwitz wäre ohne den Aufstieg des Stalinismus und seine Vorherrschaft über die Kommunistische Internationale nicht möglich gewesen.

Die Erinnerung an den Auschwitzprozess ist eine gute Gelegenheit diese Fragen erneut zu studieren.

Ende

Anmerkungen

1. vergl. Ingo Müller: Furchtbare Juristen, München 1987, S. 242ff

2. ebd., S. 244

3. Theodor Oberländer war Vertriebenenminister im Kabinett Adenauer und Vertriebenenfunktionär. Er hatte im Dritten Reich zur akademischen Elite der Nationalsozialisten gehört und sich als Vertreter des Amtes Ausland/Abwehr federführend an der Besetzung Osteuropas beteiligt. Nachdem er in Ostberlin wegen Kriegsverbrechens zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, musste er 1960 das die Regierung verlassen.

4. Ingo Müller a.a.O.: S. 244

5. Hans Düx: Zufallsprodukt Auschwitzprozess. (http://www.rav.de/infobrief90/duex.htm=

6. ebd., S. 249f

Siehe auch:
Teil 1 - Späte Ermittlungen
(26. März 2004)
Teil 2 - Die Angeklagten: Handlanger im Befehlsnotstand
( 27. März 2004)