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Vierzig Jahre nach dem Frankfurter Auschwitzprozess

Teil 2 - Die Angeklagten: Handlanger im Befehlsnotstand

Von Sybille Fuchs
27. März 2004

Richter: Angeklagter Boger, war Ihnen als
Kriminalkommissar nicht bekannt
dass ein Mensch
der einem solchen Verhör unterzogen wird
alles sagt, was man von ihm hören will
 
Angeklagter 2: Da bin ich ganz anderer Auffassung
und zwar mit ausdrücklichem Bezug auf unsere
Amtsstelle
Bei der Verstocktheit der Gefangenen
half nur Gewalt zur Herbeiführung von
Geständnissen
 
Zeuge 8: Dann wurde ich in den Block Elf
gebracht und auf dem Dachboden
an den nach hinten gebundenen Händen
aufgehängt
Das hieß Pfahlhängen
Man hing so hoch
dass die Fußspitzen gerade den Boden berührten
Boger stieß mich hin und her
und trat mir gegen den Bauch.....
 
Angeklagter 2: Der Zweck der verschärften
Vernehmung war erreicht
Wenn das Blut durch die Hosen lief...
 
Im übrigen bin ich der Meinung, dass auch heute
noch die Prügelstrafe angebracht wäre
zum Beispiel im Jugendstrafrecht
Um Herr zu werden über manche Fälle von
Verrohung
 

(Peter Weiss: Die Ermittlung, Frankfurt 1965)

Während die Verteidigung den Auschwitzprozess als "Schauprozess" zu diffamieren versuchte, der durch eine Art Verschwörung ehemaliger kommunistischer Häftlinge zustande gekommen sei, hüllten sich die Angeklagten, die einen Querschnitt durch das Lagerpersonal darstellten, weitgehend in Schweigen, leugneten entweder jede Tatbeteiligung oder suchten sich als reine Befehlsempfänger dazustellen, die nur untergeordnete Funktionen innehatten. Das Gericht ließ die Behauptung, sie hätte sich im Befehlsnotstand befunden, jedoch nicht gelten und wies nach, dass niemandem, der sich solchen Verbrechen widersetzt hatte, ein erheblicher Nachteil entstanden sei. Das haben Zeugenaussagen zweifelsfrei erwiesen.

Der Untersuchungsrichter Hans Düx, der an der Prozessvorbereitung mitarbeitete, berichtet über den Angeklagten Oswald Kaduk, dem zahlreiche Einzeltötungen und eigenmächtige Selektionen nachgewiesen wurden:

"Sein Auftreten war zwanghaft militaristisch. Bei jeder an ihn gerichteten Frage sprang er auf, nahm Haltung an (Hackenschlag, Hände an die Hosennaht) und gab mit abgehackter Stimme eine Erklärung ab. Als ich ihn belehrte, dass er nicht immer Haltung annehmend aufspringen müsse, schoss er wieder hoch und antwortete schneidig: ‘Jawohl!' Den Militarismus hatte er offenbar so verinnerlicht, dass er in einem anderen Zusammenhang sogar antwortete: ‘Jawohl, Herr Obersturmführer.' [Als ihm diese Anrede entfahren war, stutzte er kurz und erklärte dann, das sei aus alter Gewohnheit geschehen. Wenn er mit Amtspersonen spreche, reagiere er häufig so, wie es bei der SS üblich gewesen sei und wie er es früher tausendfach getan habe. Ich hatte in der Tat den Eindruck, dass er die Anrede nicht aus Gründen der Provokation gewählt hatte, sondern dass aufgrund der Vernehmungssituation das tief verinnerlichte Verhaltensmuster unbewusst zutage trat.]

Die Erklärungen Kaduks zu den ihm vorgeworfenen Beschuldigungen waren wesentlich instruktiver als die seiner meistens ausweichend um die Geschehnisse herumredenden Mittäter. Seine Verteidigung war darauf gerichtet, sich als SS-Unterführer in einer untergeordneten Handlangerfunktion darzustellen. Die Todesselektionen hätten SS-Ärzte und höhere SS-Führer vorgenommen. Seine Aufgabe sei es nur gewesen, wie ein Luchs aufzupassen, dass keiner der Todeskandidaten zur Gruppe der Arbeitsfähigen hätte überwechseln können. Ankommende Kinder seien, sofern sie nicht von den SS-Ärzten für medizinische Experimente ausgesucht worden seien, sofort vergast worden. Auch arbeitsfähige Mütter, die sich nicht von ihren für die Vergasung vorgesehenen Kindern hätten trennen wollen, seien mit in die Gaskammer geschickt worden.

Die Judentransporte ‘kamen an wie warme Brötchen', erklärte Kaduk wörtlich. Mit anderen SS-Männern habe er die von den Ärzten und höheren SS-Führern ausgesuchten Todeskandidaten mit Lastwagen von der Ankunftsrampe zur Gaskammer transportiert. ‘Ich habe niemals mit Bewusstsein getötet, nur manchmal jemanden geschlagen, wenn er sich vor der Arbeit drücken wollte', resümierte Kaduk. ‘Ein scharfer Hund‘ sei er schon gewesen. In Bezug auf den in den sechziger Jahren amtierenden polnischen Ministerpräsidenten Józef Cyrankiewicz, der Häftling in Auschwitz gewesen war, meinte er: ‘Wenn ich damals die Möglichkeit gehabt hätte, hätte ich ihn um die Ecke gebracht.' Diese Offenbarung stand im offensichtlichen Widerspruch zu seiner Einlassung, einen Tötungsvorsatz habe er nie gehabt, sondern nur durch Schläge für Disziplin sorgen wollen. Seine Verharmlosungsversuche wurden durch vielfältige Zeugenaussagen widerlegt. Das Schwurgericht verurteilte ihn wegen Mordes an insgesamt 1.012 Menschen zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe." (1)

Zu den Angeklagten gehörte Robert Mulka. Er hatte als Adjutant der Lagerleitung die Befehle zur "Abwicklung" der Transporte gegeben. Der Apotheker Victor Capesius, ein ehemaliger Mitarbeiter der IG Farben und Leiter der SS-Apotheke, war an den Selektionen an der Rampe beteiligt.

Der Angeklagte und SS-Unterscharführer Wihelm Boger von der politischen Abteilung der Lager-SS war an Folterungen, sogenannten "Bunkerentleerungen und Erschießungen" beteiligt. Ein Prozessbeobachter berichtete: "Die Zuhörer saßen wie gelähmt und blickten mit schreckgeweiteten Augen auf die Frau im Zeugenstuhl. Soeben hatte sie noch mit beherrschter Stimme die Folterung von Häftlingen auf der berüchtigten Boger-Schaukel geschildert, nun fehlten ihr plötzlich die Worte. Stockend berichtete sie, wie eines Tages auf einem Lastkraftwagen fünfzig Kinder im Alter von etwa fünf bis zehn Jahren ins Lager gebracht wurden. ‘Ich erinnere mich an ein vierjähriges Mädchen...' Da bricht ihre Stimme ab, die Schultern beginnen zu zucken, die Zeugin bricht in verzweifeltes Weinen aus. Lähmendes Entsetzen macht sich breit..." (2)

Im Laufe des Prozesses wurden zahlreiche bestialische Verbrechen Bogers enthüllt, darunter die Erschießung der Lili Tofler, die einem Mitgefangenen einen Brief zugesteckt hatte. Boger hatte sie zuvor vier Tage lang jeden Morgen eine Stunde lang in den Waschraum gestellt und ihr seine Pistole an die Schläfe gehalten. Boger hatte auch ein berüchtigtes Folterinstrument erfunden, die sogenannte Bogerschaukel, den darin aufgehängten Häftlingen wurden die Hoden zerschlagen.

Zu den Angeklagten gehörte auch der Anthropologe Dr. Bruno Beger. Er war ein höherer SS-Offizier und arbeitete zusammen mit dem während des Zweiten Weltkrieges an der Universität Straßburg tätig gewesenen Professor Hirt, der bei Kriegsende Selbstmord beging. Sie wollten eine Schädelsammlung von "jüdisch-bolschewistischen Kommissaren" anlegen. Da in Auschwitz viele sowjetische Kriegsgefangene inhaftiert waren, wurden die Opfer dort ausgesucht, getötet, skelettiert und die Köpfe in der Universität Straßburg verwahrt.. "Der auf ‚jüdisch-bolschewistische Schädel' spezialisierte ‚Wissenschaftler' versuchte trotz eindeutiger Beweise in der Voruntersuchung mit ausweichenden Erklärungen zu reagieren. Im Hauptverfahren wurde er zu einer mehrjährigen Freiheitsentziehung verurteilt." (3)

Hans Stark war wegen Mitwirkung bei Selektionen, Vergasungen und Erschießungen angeklagt, seine Kollegen Pery Broad und Klaus Dylewski ebenfalls wegen Beteiligung an Selektionen und Exekutionen. Max Lustig, der Chef der Gestapo der Stadt Auschwitz, hatte Standgerichtsverhandlungen in Auschwitz durchgeführt. Die Sanitätsgrade Josef Klehr, Hans Nierwicki und Emil Hantl waren sowohl an Selektionen beteiligt, als auch an Tötungen durch Phenolinjektionen. Die Funktionshäftlinge Emil Bednarek und Alois Staller hatten Mitgefangene getötet.

Vom Frühjahr 1942 an rollten die Todeszüge mit Juden in das Vernichtungslager. Allein in diesem Jahr kamen 166 Transporte mit ungefähr 180.000 Deportierten dort an, 1943 waren es 174 mit etwa 220.000, und 1944 beförderte die Reichsbahn ungefähr 300.000 Opfer in 300 Zügen. Es handelte sich um Viehwaggons.

Der Auschwitz-Forscher Werner Renz schildert die mörderische Praxis des KZ-Personals wie folgt:

"Ein eingespielter Vernichtungsapparat führte die ‘Abwicklung' der Transporte durch. Fernschreiben und Funksprüche kündigten der Kommandantur des Lagers die Ankunft eines Transportes an, die ihrerseits Anweisungen an die Schutzhaftlagerführung, die Politische Abteilung, die Dienststelle SS-Standortarzt, die Fahrbereitschaft, den Wachsturmbann und die Abt. Arbeitseinsatz gab. In jeder mit der ‚Abwicklung' eines Transports befassten Abteilung gab es einen Dienstplan für den 'Einsatz' bei 'Sonderaktionen' auf der Rampe. Die zum Rampendienst eingeteilten SS-Führer, SS-Unterführer und SS-Männer hatten festgelegte Aufgaben: Sie beaufsichtigten die Selektionen auf der Rampe, nahmen von Transportführern die Transportpapiere entgegen, teilten die Deportierten in Männer, Frauen und ‘Arbeitsunfähige' (Alte, Kranke, Kinder) ein, formierten die verschreckten, orientierungslosen Menschen in Fünferreihen und selektierten sie, bestätigten die Übernahme des Todeszuges unter Angabe der ‘Transportstärke', befehligten das Aufräumungskommando auf die Rampe zum Raub der Habseligkeiten der angekommenen Juden, transportierten die zum Tode Verurteilten mit Lastwagen zu den Gaskammern oder führten die Opfer in Kolonnen dorthin, gaben Anweisungen, sich zum ‘Duschen' zu entkleiden, täuschten die arg- und wehrlosen Opfer mit lügnerischen Reden, führten sie in die Gaskammern, verriegelten die Türen, brachten mit einem Sanitätskraftwagen das Tötungsmittel Zyklon B zu den Todesfabriken, warfen das Gas ein, beobachteten den Vergasungsvorgang und den Todeskampf der Opfer durch ein Guckloch, stellten den Tod der Menschen fest, ordneten die Verbrennung der Leichen in den Krematorien an, kontrollierten das Ausreißen von Goldzähnen, das Abscheren von Frauenhaaren, überwachten den Raub von Wertgegenständen, vermeldeten per Fernschreiben an die im Reichssicherheitshauptamt sitzenden Buchhalter des Massenmordes die Gesamtzahl der Deportierten, reportierten die Anzahl der ins Lager verbrachten Häftlinge sowie die Zahl der mit Gas Ermordeten, wiesen die ‘arbeitsfähigen' Männer und Frauen ins Lager ein, ließen sie scheren und einkleiden, karteimäßig erfassen und nummerieren, zwangen sie zu meist mörderischen Arbeiten, durch die die Häftlinge vernichtet wurden. Kranke und geschwächte Lagerinsassen ermordeten sie mit Phenolinjektionen ins Herz, selektierten die nicht mehr ‚brauch- und verwertbaren' Arbeitssklaven und vergasten sie, erschossen Tausende an der Schwarzen Wand.

In etwa 900 Tagen kamen über 600 Todeszüge mit über einer Million Juden und ca. 20.000 Sinti und Roma in Auschwitz an. Tag für Tag, Tag und Nacht, waren die SS-Leute an der Massenvernichtung beteiligt." (4)

Wenn es dem Gericht nicht gelungen wäre, mit Hilfe der Zeugenaussagen den Angeklagten ihre individuelle Beteiligung an den Morden und Folterungen nachzuweisen, hätten sie allenfalls wegen Beihilfe belangt werden können.

Die Verteidigung versuchte denn auch alles, um die Zeugen zu verunsichern, die durch ihre grauenvollen Erlebnisse schwer traumatisiert waren und oft nur in der Lage waren zu überleben, weil sie vieles verdrängt hatten, was jetzt gewaltsam wieder ins Bewusstsein gerückt werden musste.

So wurde zum Beispiel der Mord an 119 Jungen im Alter von 13 bis 17 Jahren verhandelt. Die Jugendlichen aus dem Gebiet von Zamosc in Polen wurden am Nachmittag des 23. Februar 1943 mit Phenolinjektionen ins Herz getötet, nachdem sie am Vormittag noch auf dem Hof des Krankenhauses von Auschwitz Ball spielen durften. Einer der Täter war der SS-Unterscharführer und Sanitätsdienstgrad Emil Hantl, der nur zu dreieinhalb Jahren verurteilt wurde und den Gerichtssaal als freier Mann verlassen konnte.

Ein Häftling war zusammen mit 38 anderen in eine "Hungerzelle" gesperrt worden, die nur drei mal zweieinhalb Meter groß war. Luft bekamen sie nur aus einem handtellergroßen Loch in der Decke. Am Morgen waren über 20 der Insassen erstickt oder im Todeskampf von den anderen totgetreten worden.

Auch die grausamen Details der Vernichtung in den Gaskammern wurden durch die Schilderungen der Zeugen erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.

Wenn die Türen 20 Minuten nach dem Einfüllen von Zyklon B geöffnet wurden, fanden die Häftlinge, die zu ihrer Räumung abkommandiert wurden, bis zu 2.000 ineinander verkeilte nackte Leichen. Säuglinge, Kinder und Kranke, totgetreten auf dem Boden; dort breitete sich das Gas zuerst aus. Darüber lagen die Frauen, ganz oben die kräftigsten Männer. Um Geld zu sparen, wurde meist nicht genug Zyklon B eingeworfen, so dass die Tötung bis zu fünf Minuten dauern konnte und die schwächsten Opfer in ihrem Todeskampf unten blieben. Für 2.000 Menschen pro Kammer wurden 16 Büchsen à 500 Gramm benutzt, der Preis je Büchse betrug 5 Reichsmark. Etwa 865.000 Juden wurden in den Gaskammern von Auschwitz ermordet.

Mit großer Eindringlichkeit hat Peter Weiss in seinem Drama Die Ermittlung die wesentlichen Aussagen der Zeugen und der Angeklagten des Prozesses konzentriert. Er nennt es ein Oratorium in 11 Gesängen in Anspielung an Dantes Göttliche Komödie und die darin enthaltene Darstellung der Hölle. Auch wenn die kunstvolle Komposition eine gewollte Distanz beim Zuschauer und beim Leser erzeugt, nimmt ihn die Bilderabfolge von der Rampe bis in die Todeskammern doch in einer Weise gefangen, dass er sich dem Geschehen nicht entziehen kann. Es wäre zu wünschen, dass die Erinnerung an den Prozess einige Theater dazu bringt, dieses Stück erneut aufzuführen.

Wird fortgesetzt

Anmerkungen

1. Hans Düx: Zufallsprodukt Auschwitzprozess. (http://www.rav.de/infobrief90/duex.htm)

2. Conrad Talers Berichte vom Auschwitz-Prozess, zitiert nach Junge Welt: http://www.jungewelt.de/2003/12-20/032.php

3. Düx: a.a.O

4. Werner Renz: Völkermord als Strafsache. http://www.fritz-bauer-institut.de/texte/essay/08-00_renz.htm

Siehe auch:
Teil 1 - Späte Ermittlungen
(26. März 2004)