Vierzig Jahre nach dem Frankfurter Auschwitzprozess
Teil 1 - Späte Ermittlungen
Von Sybille Fuchs
26. März 2004
Richter: | Was sahen Sie vom Lager |
Zeuge2: | Nichts Ich war froh, dass ich wieder wegkam |
Richter: | Sahen Sie die Schornsteine am Ende der Rampe und den Feuerschein |
Zeuge2: | Ja Ich sah Rauch |
Richter: | Was dachten Sie sich dabei |
Zeuge2: | Ich dachte mir das sind die Bäckereien Ich hatte gehört, da würde Tag und Nacht Brot gebacken Es war ja ein großes Lager |
Am 27. März wird im Haus Gallus in Frankfurt am Main eine Ausstellung zum 40. Jahrestag des Auschwitzprozesses eröffnet. (1) Erstellt wurde die Ausstellung vom Fritz-Bauer-Institut. Sie soll das "Verfahren gegen Mulka und andere" dokumentieren. In diesem Verfahren mussten - fast zwanzig Jahre nach Kriegsende und den Nürnberger Prozessen, in denen die Führungselite Hitlers verurteilt wurde - zum erstem Mal in der Bundesrepublik Deutschland einige der persönlich und unmittelbar an der Vernichtungsmaschinerie des Nationalsozialismus Beteiligten vor Gericht erscheinen. Zusätzlich werden die Verhandlungsprotokolle jetzt als DVD-Edition erscheinen.
Das Verfahren wurde am 23. Dezember 1963 im Frankfurter Rathaus, dem Römer, eröffnet und endete am 19. August 1965, zwanzig Jahre nach den Ereignissen, um die es sich drehte.
Bekanntlich ist die gerichtliche Aufarbeitung des Naziregimes und seiner ungeheuerlichen Verbrechen alles andere als ein Ruhmesblatt der bundesdeutschen Justiz. Die Widerstände gegen derartige Prozesse waren innerhalb der Justiz und unter der politischen Elite der fünfziger und sechziger Jahre erheblich.
Von den drei führenden KZ-Kommandanten von Auschwitz lebte zu Prozessbeginn keiner mehr. Rudolf Höss und Arthur Liebehenschel waren 1947, entsprechend einer Absprache unter den Alliierten, in Polen verurteilt und hingerichtet worden. Andere Hauptverantwortliche, wie der berüchtigte KZ-Arzt Mengele, konnten fliehen und in Südamerika untertauchen. Richard Baer, der letzte Lagerkommandant von Auschwitz, weigerte sich während der Voruntersuchung zum Frankfurter Prozess, irgendeine Aussage zu machen. Er starb bereits in der Untersuchungshaft, daher kam es gegen ihn nicht mehr zur Anklage. In Frankfurt ging es deshalb nur um einige wenige Mitarbeiter dieser Kommandanten.
Aber vielleicht gerade, weil es nicht nur um die führenden SS-Leute, sondern um die "Handlanger" ging, führte dieser Prozess und die ausführliche Berichterstattung in der Presse der bundesdeutschen Gesellschaft erstmals ein umfassendes Bild des scheinbar banalen Tagesablaufs der grauenvollen Vernichtungsmaschinerie von Auschwitz vor Augen. Der Prozess trug daher nicht unwesentlich zur Politisierung der jüngeren Generation bei.
Dass sich die Ereignisse von Auschwitz so plötzlich in den Alltag der Bundesrepublik Deutschland drängten, war vor allem den Aussagen der 359 Zeugen aus 19 Ländern - darunter 211 Überlebende des Konzentrations- und Vernichtungslagers - zu verdanken, die sich teilweise unter größten Qualen an die furchtbaren Ereignisse erinnern und über sie mit einer vom Strafprozess verlangten Präzision berichten mussten, die ihre Kräfte oft überstieg. Die Angeklagten, die flankiert von Ihren Verteidigern auf den Bänken der Stadtverordneten Platz genommen hatten, saßen meist betont teilnahmslos dabei.
Hinter ihnen hingen vor den hohen Fenstern zwei große Schautafeln mit Skizzen des Konzentrationslagers Auschwitz I (Stammlager) und des Lagers Auschwitz II (Vernichtungslager Birkenau). Auf den Plätzen des Magistrats saß das Schwurgericht, damals noch mit drei Berufsrichtern und sechs Laienrichtern als Geschworenen. Den Vorsitz führte der Richter Hans Hofmeyer.
Der Prozess sollte zwanzig Monate dauern. Der Saal im Römer war damals der einzige in Frankfurt, der alle Prozessbeteiligten fassen konnte. Im Frühjahr 1964 zog das Gericht dann in das inzwischen eigens zu diesen Zweck umgebaute Bürgerhaus Gallus um, in dem das Verfahren zuende geführt wurde. Rund 20.000 Zuschauer verfolgten im Laufe der Monate das Verfahren.
Am Ende wurden sechs Angeklagte wegen Mordes oder gemeinschaftlichen Mordes zu lebenslangen Zuchthausstrafen, elf zu Zuchthausstrafen von maximal 14 Jahren verurteilt, während drei Angeklagte aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurden, zwei schieden vorzeitig wegen Tod oder Krankheit aus dem Verfahren aus. Für die Richter bestand die Schwierigkeit darin, dass jedem einzeln seine Tatbeteiligung zweifelsfrei nachgewiesen werden musste. Das war auch der Grund für die relativ milden Urteile, die viele der überlebenden Opfer des Nationalsozialismus als unangemessen empfanden.
Von den mehr als 6.000 (andere Quellen gehen von 8.000 aus) ehemaligen SS-Angehörigen, die in der Zeit von 1940 bis 1945 die Lager in Auschwitz bewacht hatten, standen nur 22 in Frankfurt vor Gericht, darunter ein ehemaliger Funktionshäftling, ein sogenannter Kapo. In den zwanzig Monaten, die der Prozess dauerte, zeigten die Angeklagten keinerlei Einsicht oder Reue.
Die Strafen standen in keinem Verhältnis zu den Verbrechen, an denen die Täter schuldig oder mitschuldig waren. Mindestens drei Millionen Juden und etwa ebenso viele politische Häftlinge, Sinti, Roma oder Homosexuelle waren in Auschwitz ins Gas geschickt worden oder durch schwerste Arbeit bei Hunger und Kälte, durch Misshandlungen und bestialische medizinische Versuche, willkürliche Schläge oder Erschießungen zu Tode gekommen. Die Lager hatten eine solche Größe erreicht, dass zum Schluss allein im Vernichtungslager Birkenau 100.000 Häftlinge untergebracht werden konnten.
Wie es zum Prozess kam
Dass es überhaupt zu diesem Prozess kam, war zwei mehr oder weniger zufälligen Ereignissen zu verdanken, die nicht unmittelbar miteinander zusammenhingen. Wie der Mitarbeiter des Fritz-Bauer-Instituts in einem Essay schreibt, hätte nicht viel gefehlt und "es wäre zum großen Auschwitzprozess vor vierzig Jahren überhaupt nicht gekommen". (2)
Adolf Rögner, ein ehemaliger Auschwitz-Häftling und Kapo, saß (wegen "Meineids und uneidlicher Falschaussage") in Bruchsal ein. Er erstattete mit einem Brief vom 1. März 1958 an die Staatsanwaltschaft Stuttgart Strafanzeige gegen Wilhelm Boger, vormals Angehöriger der Auschwitzer Lagergestapo. Darin beschuldigte er diesen wegen seiner in Auschwitz verübten Verbrechen und nannte seinen Wohnsitz und Arbeitsplatz.
Die Behörden zögerten jedoch zunächst, der Sache nachzugehen. Erst zwei Monate später, auf Drängen von Hermann Langbein, dem Generalsekretär des Internationalen Auschwitz-Komitees, den Rögner ebenfalls informiert hatte, begannen die Ermittlungen und Befragungen Rögners. Dieser nannte dann noch weitere Namen von Auschwitzer SS-Personal, und Langbein benannte weitere Zeugen. Schließlich wurde ein Haftbefehl gegen Wilhelm Boger ausgestellt, der aber erst sieben Monate nach der Anzeigeerstattung, am 8. Oktober 1958, an seinem Arbeitsplatz verhaftet wurde. Die von Rögner ebenfalls beschuldigten Stark, Broad und Dylewski kamen im April 1959 in Untersuchungshaft.
Unabhängig davon schickte ein Reporter der Frankfurter Rundschau, Thomas Gnielka, Mitte Januar 1959 Dokumente an den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Er hatte diese von einem anderen KZ-Überlebenden, dem in Frankfurt wohnhaften Emil Wulkan, erhalten. Wulkan hatte diese Papiere im Mai 1945 in Breslau gefunden. Er hatte dort Akten, die aus einem brennenden SS-Gericht geflogen waren, mitgenommen, ohne sie einordnen zu können. Als er sich im Dezember 1958 um einen Antrag auf Wiedergutmachung bemühte, zeigte er die Papiere dem Journalisten, der sie als Erschießungsakten aus dem KZ Auschwitz identifizierte und dem hessischen Generalstaatsanwalt übergab.
In den Dokumenten, Schreiben der Kommandantur des Konzentrationslagers Auschwitz und des SS- und Polizeigerichts XV Breslau aus dem Jahre 1942, kamen Namen von angeblich auf der Flucht erschossenen Häftlingen sowie 37 Namen von an den Erschießungen beteiligten SS-Männern vor, u.a. der des späteren Angeklagten Stefan Baretzki. Um den Anschein der Rechtmäßigkeit dieser Morde zu wahren, waren die Opfer ordnungsgemäß schuldig und die SS-Mörder selbstverständlich freigesprochen worden.
Diese Dokumente benutzte der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, um beim Bundesgerichtshof die Zuständigkeit des Landgerichts Frankfurt am Main für den Auschwitz-Komplex zu erwirken, was er im April 1959 auch erreichte. Erst jetzt konnte er systematisch die Bedingungen schaffen, um Klage gegen Auschwitztäter zu erheben, sie zu inhaftieren und die Voruntersuchungen einzuleiten.
Fritz Bauer, ein aus dem Exil zurückgekehrter Sozialdemokrat, der wegen seiner jüdischen Abstammung und aus politischen Gründen hatte fliehen müssen, gehörte zu den wenigen Juristen der frühen Bundesrepublik, die sich um eine juristische Verfolgung der Naziverbrechen verdient gemacht haben. Oft genug war er dabei auf Betonwände gestoßen. Jetzt ergriff er die Gelegenheit und setzte durch, dass der Prozess endlich beginnen konnte.
Bauer wollte die von den Nationalsozialisten in Auschwitz in die Tat umgesetzte "Endlösung der Judenfrage" zum Gegenstand des Verfahrens machen. Er bemühte sich daher auch, historische Sachverständigengutachten des Instituts für Zeitgeschichte in München in den Prozess einzubringen. Denn es ging ihm nicht in erster Linie um die Verurteilung der einzelnen Täter, sondern vor allem darum, geschichtliche Aufklärungsarbeit zu leisten. Im Nachhinein betrachtet, hatte er damit Erfolg, auch wenn in den vierzig Jahren nach dem Prozess immer wieder gefordert wurde, die alten Geschichten ruhen zu lassen und einen "Schlussstrich" unter die Nazivergangenheit zu ziehen. Auch die immer wieder von Rechtsextremen vorgebrachten Behauptungen, in Auschwitz seien nie Menschen vergast worden, sind durch den Prozess von Frankfurt ein für alle Mal als übelste Geschichtsfälschungen entlarvt worden.
Ein junger Landtagsabgeordneter der CDU aus Mainz, namens Helmut Kohl, der sich später die "Gnade der späten Geburt" zu gute halten sollte, hielt Bauer entgegen, der zeitliche Abstand zum sogenannten Dritten Reich sei noch viel zu kurz, um ein abschließendes Urteil "über den Nationalsozialismus" fällen zu können. Er drückte damit eine in politischen Kreisen der Bundesrepublik durchaus weit verbreitete Ansicht aus.
Anmerkung
1. 28. März - 23. Mai 2004, Haus Gallus, Frankenallee 111, Frankfurt am Main
(Di-So 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr, Eintritt 5,-, ermäßigt 3,-Euro)
2. Werner Renz: 40 Jahre Auschwitz-Prozess: Ein unerwünschtes Verfahren. www.fritz-bauer-institut.de/texte/essay/12-03_renz.htm