Paris und Berlin fassen Militäreinsatz im Irak ins Auge
Von Peter Schwarz
23. Januar 2004
Die Regierungen Frankreichs und Deutschlands, die sich im vergangenen Frühjahr noch deutlich gegen den Irakkrieg ausgesprochen hatten, haben in jüngster Zeit unverkennbare Annäherungssignale in Richtung Washington ausgesandt. Auch der Einsatz eigener Truppen zur Kontrolle des besetzten Landes wird inzwischen nicht mehr ausgeschlossen.
Die französische Verteidigungsministern Michèle Alliot-Marie, eine enge Vertraute des Staatspräsidenten Jacques Chirac, traf Mitte Januar in Washington erstmals mit ihrem amerikanischen Amtskollegen Donald Rumsfeld und Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice zusammen. Es gebe "den wirklichen Willen, die Spannungen zwischen den USA und Frankreich zu beenden", kommentierte Alliot-Marie anschließend das Treffen.
Aus der Umgebung von Chirac verlautete indessen, man habe in der Irakfrage ein neues Kapitel aufgeschlagen, das schließlich zu einem konsequenteren französischen Engagement führen könnte. Die für den Sommer geplante formelle Übergabe der Souveränität an eine (von Washington ernannte) irakische Übergangsregierung wird in Paris als Gelegenheit wahrgenommen, von der bisherigen Haltung, sich nicht an der militärischen Besetzung des Irak zu beteiligen, abzurücken. Unmittelbar vor der geplanten Machtübergabe im Irak finden im Juni vier internationale Gipfeltreffen statt, auf denen entsprechende Vereinbarungen auf höchster Ebene besiegelt werden könnten - der G8-Gipfel, der USA-EU-Gipfel, der Nato-Gipfel und die Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der alliierten Landung in der Normandie.
Sprecher von Präsident Chirac betonen zwar nach wie vor, man werde sich nicht an der von den USA geführten Kriegskoalition beteiligen, bei der es sich um eine "Besatzungsmacht" handle. Der Einsatz französischer Truppen im Rahmen von Nato-Einheiten, die mit offizieller Billigung der UN in den Irak geschickt werden, gilt dagegen als möglich und wird offen diskutiert. Die Zeitung Le Monde zitiert einen "Vertrauten von Jacques Chirac" mit den Worten: "Ich kann nicht ausschließen, dass sich eine souveräne irakische Regierung eines Tages an die UN wendet und um die Entsendung einer internationalen Stabilitätstruppe ersucht."
Paris schwebt damit eine ähnliche Regelung vor wie in Afghanistan, wo die USA ebenfalls die Initiative zum Krieg und zum Sturz des Regimes ergriffen hatten, während die Nato später das Kommando über die "Internationale Schutztruppe" (Isaf) übernahm und nun für die Sicherheit des US-Marionettenregimes unter Hamid Karzai sorgt.
Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass eine Delegation des irakischen Übergangsrates, die im Dezember Europa besuchte, in Paris auf höchster Ebene, d.h. vom Präsidenten persönlich, empfangen wurde. Dies, obwohl der Übergangsrat seine Autorität ausschließlich den USA verdankt und in der irakischen Bevölkerung über keinerlei Unterstützung verfügt. "Wir haben uns gesagt, dass die Mitglieder der Delegation in den kommenden Monaten wichtige Akteure sein werden", begründete ein Ratgeber des Präsidenten diese Vorzugsbehandlung gegenüber Le Monde. Man habe mit der Delegation in dem Wunsch übereingestimmt, "dass die UN im Übergangsprozess eine wichtigere Rolle spielen" sollten.
Die versöhnliche Haltung Frankreichs hatte sich bereits im Dezember abgezeichnet, als der ehemalige US-Außenminister James Baker im Auftrag von Präsident Bush Europa bereiste und in Paris die Zusage erhielt, man werde die Schulden des Irak reduzieren. Eine endgültige Regelung der Schuldenfrage soll Anfang Februar von den Finanzministern der sieben führenden Industriestaaten in Florida getroffen werden.
Auch Deutschland, das seine Außenpolitik in der Irakfrage eng mit Frankreich abstimmt, hat eine Reduzierung der Schulden zugesagt. Und auch in Berlin hat eine Diskussion über ein mögliches militärisches Engagement im Irak begonnen. Wie in Paris wird auch hier betont, man halte die ursprüngliche Ablehnung des Krieges weiterhin für richtig und sei nicht bereit, sich militärisch im Irak zu engagieren. Gleichzeitig wird aber eine stärkere Rolle der UN gefordert, der Einsatz der Nato unter einem UN-Mandat befürwortet und humanitäre Hilfe durch die Bundeswehr versprochen - was im Endeffekt doch auf einen militärischen Einsatz hinausläuft.
Laut einem Bericht der Zeitung Die Welt erklärte Bundeskanzler Gerhard Schröder Mitte Januar vor dem Auswärtigen Ausschuss des Bundestages, er werde "die Nato nicht daran hindern", falls diese einen Irak-Einsatz beschließen sollte. Militärexperten sind sich einig, dass dies fast automatisch den Einsatz deutscher Offiziere nach sich ziehen würde, die in die Nato-Stäbe eingebunden sind.
Außerdem berichtete Schröder dem Ausschuss, man werde das fliegende Bundeswehrlazarett Med-Evac im Irak einsetzen. In einem anschließenden Interview mit der "Tagesschau" sagte er, Deutschland werde sich einem Hilfsgesuch der provisorischen irakischen Regierung "nicht verweigern können, soweit es um den Transport von Verletzten, etwa Opfern von Terrorangriffen geht".
Mit der Entsendung von Sanitätseinheiten wären nicht nur deutsche Soldaten im Irak aktiv, sondern auch der Vorwand zur Entsendung weiterer Truppen geschaffen. "Ein fliegendes Hospital ohne militärischen Schutz ist undenkbar. Das kann sich keine Regierung leisten", zitiert die Welt einen hohen Vertreter der Nato. Die Zeitung fasst die Einschätzung von Militärkreisen mit den Worten zusammen: "In der Kanzlerofferte sieht man den kleinen Finger - die ganze Hand folgt."
Bereits in der Vergangenheit waren größere Auslandseinsätze der Bundeswehr durch derartige "humanitäre" Missionen vorbereitet worden. Den Sanitätern folgten bewaffnete Einheiten zu ihrem "Schutz", bis sich die Öffentlichkeit schließlich an den Einsatz gewöhnt hatte und alle Schranken fielen.
Motive der Irakpolitik
Die Überlegungen zur Entsendung eigener Truppen werfen ein grelles Licht auf die Motive der deutschen und der französischen Irakpolitik. Im Gegensatz zu den Millionen Demonstranten, die im vergangenen Frühjahr in ganz Europa, den USA und anderen Ländern aus tiefer Überzeugung gegen den Krieg protestierten, ging es Schröder und Chirac von vornherein um die Wahrung der eigenen wirtschaftlichen und politischen Interessen im Nahen Osten. Ihre Opposition gegen den Krieg war rein taktischer Natur.
Die Entschlossenheit der Bush-Regierung, den Irak unter Bruch des Völkerrechts und unter Umgehung internationaler Institutionen gewaltsam zu erobern, hatte in Paris und Berlin Entsetzen ausgelöst. Man fürchtete zu Recht, die USA würden die umfangreichsten Ölreserven der Welt einseitig unter ihre Kontrolle bringen, die Europäer aus einer Region verdrängen, in der sie traditionell eigene Interessen verfolgen, und den instabilen Nahen Osten endgültig ins Chaos stürzen. Daher der Versuch, eine Koalition gegen die USA zu schmieden und den Krieg zu verhindern.
Dieser Versuch war von vornherein halbherzig, wollte man es sich doch nicht völlig mit Washington verderben. So wandte sich die deutsche Regierung zwar im UN-Sicherheitsrat gegen den Krieg, sperrte aber nicht den deutschen Luftraum und die amerikanischen Basen auf deutschem Boden, was die Kriegsvorbereitungen ernsthaft beeinträchtigt hätte. Auf keinen Fall wollte sie sich mit der Antikriegsbewegung identifizieren, die breite Schichten der Bevölkerung erfasste und leicht in eine Bewegung gegen ihre eigene Sozialpolitik hätte umschlagen können. Deshalb nannte sie weder die wahren Kriegsgründe (Öl und Macht) noch den wirklichen Charakter des Krieges (ein völkerrechtwidriger Angriffskrieg) beim Namen.
Kaum war Bagdad gefallen, gaben Paris und Berlin ihren Widerstand auf und stimmten für eine UN-Resolution, die die militärische Besetzung des Landes sanktionierte. Nachdem es ihnen nicht gelungen war, den Krieg durch diplomatische Manöver zu verhindern, und Washington seinen Einfluss in Europa nutzte, um sie außenpolitisch zu isolieren, zogen sie es vor, sich mit Bush zu arrangieren.
Die Anpassung an die amerikanische Politik bedeutet allerdings nicht, dass die Spannungen, die im Vorfeld des Irakkriegs aufbrachen, beseitigt sind. Der Kampf um eine Neuaufteilung der Welt, um die Kontrolle von Rohstoffen, Absatzmärkten und strategischem Einfluss, der mit dem Irakkrieg eröffnet wurde, bringt unweigerlich neue und schärfere Konflikte mit sich. Sowohl Deutschland wie Frankreich haben auf den Irakkrieg mit einer heftigen militärischen Aufrüstung und Reisediplomatie reagiert.
Die deutsche Bundeswehr, zur Zeit der Wiedervereinigung noch eine reine Verteidigungsarmee, hat mittlerweile rund 7.000 Mann außerhalb des Nato-Gebietes im Einsatz. Die jüngste, von Verteidigungsminister Peter Struck angekündigte Bundeswehrreform sieht vor, dass zukünftig 100.000 der 250.000 Mann starken Armee für derartige Aufgaben zur Verfügung stehen. Sie sollen als "Eingreif- und Stabilisierungskräfte" kurzfristig in alle Welt abmarschbereit sein.
Ihr Einsatzgebiet soll unter anderem Afrika sein, für das Kanzler Schröder und Außenminister Joschka Fischer in jüngster Zeit ein auffallendes Interesse zeigen. "Afrika geht uns Europäer, geht uns Deutsche unmittelbar an", zitiert die jüngste Ausgabe des Spiegel das Kanzleramt, dessen Chef sich zur Zeit auf einer Rundreise durch Äthiopien, Kenia, Südafrika und Ghana befindet. Fischer steuerte die nötige historische Begründung bei. Die Katastrophen auf dem schwarzen Kontinent seien unter anderem eine Folge der britischen und französischen Kolonialpolitik, sagte er laut Spiegel. Jetzt, wo es um das blutige Erbe gehe, müssten die Europäer zusammenstehen, "das kann man nicht allein den beiden Kolonialmächten überlassen".
Der britische Premier Tony Blair und Chirac, die für ein gemeinsames europäisches Eingreifen in Afrika eintreten, haben in Brüssel bereits eine Liste möglicher Eingreifgebiete unterbreitet: Burundi, Elfenbeinküste, Guinea, Sierra Leone, Sudan und Simbabwe.