Cheneys Aufruf zum Krieg: Lügen und historische Fälschungen
Von David Walsh und Barry Grey
6. September 2002
aus dem Amerikanischen (02. September 2002)
Der amerikanische Vizepräsident Dick Cheney hat letzte Woche zwei Reden gehalten, mit denen er eine politische Offensive der Bush-Regierung für einen Krieg gegen den Irak eröffnete. Die beiden Reden, die praktisch identisch waren, sollten weniger die amerikanische Öffentlichkeit überzeugen, als vielmehr in den herrschenden Schichten Unterstützung für die Kriegspläne der Regierung gewinnen.
Seit Wochen tobt innerhalb der politischen Elite, einschließlich der Bush-Regierung selbst, ein wütender Konflikt über die Pläne, Saddam Hussein schon in den nächsten Wochen durch einen US-Militärangriff zu stürzen und durch ein Marionettenregime zu ersetzen.
Prominente Vertreter der ersten Bush-Regierung (1989-93) haben sich öffentlich gegen die Pläne der jetzigen Regierung für ein unilaterales Vorgehen ausgesprochen. Brent Scowcroft, ein früherer Nationaler Sicherheitsberater, wies Anfang des Monats darauf hin, dass ein Konflikt mit dem Irak zum jetzigen Zeitpunkt die Region destabilisieren und den "Krieg gegen den Terrorismus" unterminieren könne. Weiter meinte er, eine internationale Koalition zur Unterstützung eines neuen Krieges werde nicht zustande kommen, weil es keine Beweise gebe, dass das Regime in Bagdad eine unmittelbare Bedrohung darstelle.
Der frühere Außenminister James Baker, der vor zwei Jahren als Mitglied von Bushs Wahlmannschaft die Auszählung aller Stimmen in Florida verhindert hatte, schrieb am 25. August einen Gastkommentar in der New York Times, in dem er warnte, dass die gegenwärtige Regierung hinsichtlich des "Regimewechsels im Irak" nicht "richtig vorgehe". Baker drängte Bush, beim UNO-Sicherheitsrat eine Resolution zu erwirken, die den Irak verpflichtet, "detaillierte Inspektionen zu jeder Zeit, an jedem Ort und ohne Ausnahme" zuzulassen. Wenn der Irak sich einer solchen Resolution verweigern würde, wären die USA "moralisch im Vorteil" und könnten mit internationaler Unterstützung in den Krieg ziehen.
Cheney ging in seinen Reden direkt auf diese Kritiker ein. Er spricht für die rücksichtsloseste und kriegslüsternste Fraktion im politischen Establishment, die bedenkenlos auf die militärische Überlegenheit der USA setzt, um eine gewaltsame Neuaufteilung der Welt zu erzwingen und den USA die globale Vorherrschaft zu sichern.
Dass es Cheney an Stelle von Präsident Bush überlassen blieb, für einen Präventivkrieg gegen den Irak zu werben, macht die wirklichen Kräfteverhältnisse in der Regierung deutlich. Es ist Cheney, der den Ton angibt. Bush ist kaum mehr als die Galionsfigur, und er wird sogar von Leuten mit verdienter Verachtung behandelt, die nominell unter ihm stehen.
Die Kritiker, gegen die sich Cheney wendet, lehnen eine US-Aggression gegen den Irak nicht prinzipiell ab. Sie treten vielmehr für ein behutsameres Vorgehen bei der Ausdehnung der US-Herrschaft über die Gebiete und Rohstoffen des Mittleren Osten ein. Diese Elemente befürchten, dass die Cheney-Fraktion die USA leichtfertig in einen Krieg treibt, der militärisch und diplomatisch schlecht vorbereitet ist. Die öffentliche Meinung in den USA sei noch nicht darauf eingestimmt, Europa werde ohne Not vor den Kopf gestoßen, die arabischen Regime könnten unterhöhlt und die internationalen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen destabilisiert werden.
Es ist nicht unwichtig, in welchem Rahmen Cheney seine Reden gehalten hat: Es war die nationale Zusammenkunft der Kriegsveteranen in Nashville/Tennessee am 26. August und eine Versammlung von Veteranen des Koreakrieges in San Antonio/Texas drei Tage später. Es ging nicht nur darum, ein dankbares Publikum zu finden. Die Auswahl von Veteranenorganisationen zeigt die Strategie der Regierung, zuerst im Militär den Widerstand gegen einen bevorstehenden Angriff zu überwinden, der erhebliche Verluste und eine längere militärische Besetzung des Irak mit sich bringen könnte.
Darüber hinaus entspricht es ganz dem Wesen dieser Regierung, eine PR-Kampagne beim Militär zu beginnen. Cheney appelliert recht bewusst an das Militär als Gegengewicht zu Kritikern im Kongress, dem Außenministerium und dem außenpolitischen Establishment - einschließlich der eigenen Partei - und in Bushs Kabinett, die einem unilateralen Krieg am Golf skeptisch gegenüberstehen.
Die Reden wurden von den Medien im großen und ganzen gelobt, auch im ehemals liberalen Lager. Sie wurden als ernsthafte Beiträge zu einer politischen Debatte behandelt. So bezeichnete etwa ein Leitartikel in der Washington Post vom 27. August Cheneys erste Rede als "die ausführlichste und eindringlichste Erklärung der Bush-Regierung über die Gefahr, die vom Regime Saddam Husseins ausgeht, und die Notwendigkeit präventiver Maßnahmen", und beschrieb Cheneys Kriegshetze als "leidenschaftlich und überzeugend".
In Wirklichkeit waren Cheneys Bemerkungen eine Mischung von unbegründeten Behauptungen, historischen Fälschungen und Lügen.
Cheney betonte zunächst, dass der Afghanistankrieg und die angekündigte Invasion im Irak nur der Auftakt zu einem Konflikt seien, dessen Ende nicht abzusehen sei. Gegenüber seinen Zuhörern in Nashville erklärte er: "Aber wie Verteidigungsminister Rumsfeld gesagt hat, stehen wir dem Anfang dieses Krieges immer noch näher als seinem Ende. Die Vereinigten Staaten sind in einen jahrelangen Kampf eingetreten - in eine neue Art von Krieg gegen eine neue Art Feind." Dann beschrieb er die militärische Überlegenheit der USA, die "in künftigen Feldzügen noch wichtiger werden wird".
Zu den geographischen Grenzen des Konflikts bemerkte Cheney: "Da draußen gibt es eine terroristische Unterwelt, die sich auf mehr als 60 Länder erstreckt." Die UNO hat 189 Mitgliedsstaaten. Laut Cheney beheimatet also fast ein Drittel der Welt die "terroristische Unterwelt" und ist daher ein legitimes Ziel einer US-Intervention.
Cheneys Botschaft war unmissverständlich: das amerikanische Volk müsse sich auf einen jahrzehntelangen Krieg vorbereiten.
Um diese blutrünstige Perspektive zu rechtfertigen, griff Cheney zu der von der Bush-Regierung seit dem 11. September bevorzugten Taktik, absichtlich Angst und Panik in der Bevölkerung zu verbreiten. Er erklärte: "Der 11. September hat dieser Nation die Gefahr klargemacht, ihr die wirklichen Absichten des weltweiten Terror-Netzwerkes und die Tatsache vor Augen geführt, dass entschlossene Feinde nach Massenvernichtungswaffen suchen und nicht zögern werden, sie gegen uns einzusetzen."
Eine solche Darstellung zielt darauf ab, im amerikanischen Volk einen ständigen Zustand der Angst zu schaffen. Das hat mehrere Gründe. Regierung, Militär und Geheimdienst sollen als einziger Schutz der Bevölkerung gegen eine drohende Vernichtung dargestellt und so die Abschaffung demokratischer Rechte und die Einführung autoritärer Maßnahmen gerechtfertigt werden.
Darüber hinaus zielt die hetzerische Sprache darauf ab, jede rationale Auseinandersetzung mit den Angriffen vom 11. September und ihre ernsthafte Untersuchung zu verhindern. Die Bush-Regierung hat bisher eine Untersuchung der Terrorangriffe kategorisch abgelehnt, weil sie eine Menge zu verbergen hat. Eine ernsthafte Untersuchung würde zeigen, dass die Regierung im besten Fall kriminell nachlässig gehandelt hat und wahrscheinlich für das bewusste Wegschauen der Geheimdienste verantwortlich ist. Sie würde enthüllen, dass die Bush-Regierung die Ereignisse vom 11. September benutzt hat, um Kriegspläne durchzuführen, die sie schon lange vorher ausgearbeitet hatte.
In den Reden der letzten Woche erreichte die Panikmache Cheneys absurde neue Höhen. Er warnte vor einem neuen Pearl Harbor und verglich den zerstörten und verarmten Irak mit dem kaiserlichen Japan und Nazi-Deutschland.
Im Kern stützte sich Cheneys Aufruf zum Krieg gegen den Irak auf eine Reihe von Voraussetzungen, von denen keine einzige einer Untersuchung standhält.
Präventivkrieg statt "Eindämmung"
Gemäß der Linie, die Bush im Juni in einer Rede in West Point ausgegeben hatte, vertrat Cheney die Auffassung, dass angesichts der neuen Weltsituation die "alte Sicherheitsdoktrin nicht mehr anwendbar" sei. "In den Tagen des Kalten Krieges", so der Vizepräsident, "waren wir in der Lage, der Bedrohung mit Strategien von Abschreckung und Eindämmung Herr zu werden. Es ist aber viel schwieriger, Feinde abzuwehren, die kein Land zu verteidigen haben, und Eindämmung ist nicht möglich, wenn Diktatoren Massenvernichtungswaffen erlangen und bereit sind, sie Terroristen zu überlassen, die uns katastrophale Verluste zufügen wollen."
Lässt man die unbewiesenen und apokalyptischen Behauptungen einmal beiseite, bestehen die Argumente Cheneys aus einer Reihe von Ungereimtheiten. Dass die USA von der hochgerüsteten Sowjetunion - die damals mit Tausenden, auf jede größere amerikanische Stadt gerichteten Atomraketen bewaffnet war - weniger bedroht gewesen sein soll, als heute von den Guerillagruppen, schlägt jeder Logik und dem gesundem Menschenverstand ins Gesicht.
Außerdem ist die Behauptung, der Präventivkrieg sei eine neue Doktrin, die durch eine neue Weltsituation bedingt sei, ebenso falsch wie der Versuch, ihn als Verteidigungsmaßnahme hinzustellen. In Wirklichkeit wird mit der "Bush-Doktrin" die Strategie des "roll-back" wiederbelebt, die im Kalten Krieg vom rechtesten und aggressivsten Flügel der amerikanischen Elite vertreten wurde. Die Vertreter des "roll-back" lehnten die Politik der "Eindämmung" der Sowjetunion ab. Sie traten für den aggressiven Einsatz von militärischem Druck und wirtschaftlicher wie politischer Subversion ein, um pro-sowjetische Regime zu stürzen und die UdSSR zu isolieren und zu destabilisieren. Heute sind die ideologischen Erben der "roll-back"-Falken zur herrschenden Kraft im politischen und militärischen Establishment aufgestiegen.
Auch ist ein "präventiver" Krieg der USA gegen den Irak oder irgend ein anderes Land nicht durch ein Anwachsen des Terrorismus notwendig worden, ein Phänomen, das kaum neu in der Welt ist. Vielmehr hat das amerikanische Establishment den Zusammenbruch der Sowjetunion als "einmalige Gelegenheit" begriffen, ihre militärische Überlegenheit zur Eroberung von Ölreserven und anderen lebenswichtigen Ressourcen einzusetzen und die amerikanische Vorherrschaft auf den ganzen Planeten auszudehnen.
Irak und "Massenvernichtungswaffen"
In seiner Rede versicherte der Vizepräsident, dass das Hussein-Regime im Irak ein Arsenal von chemischen und biologischen Waffen besitze und kurz davor stehe, eine Atombombe zu entwickeln.
Cheney erklärte: "Einfach gesagt gibt es keinen Zweifel, dass Saddam Hussein jetzt Massenvernichtungswaffen hat, es gibt keinen Zweifel dass er sie gegen unsere Freunde und Verbündeten einsetzen will, und gegen uns. Und es gibt keinen Zweifel, dass seine aggressiven regionalen Ambitionen ihn in Zukunft in Auseinandersetzungen mit seinen Nachbarn führen werden..."
Cheney benutzt einen rhetorischen Trick und wiederholt die Phrase "es gibt keinen Zweifel", um die Tatsache zu verschleiern, dass er massive Beschuldigungen ohne irgendeine faktische Begründung erhebt. Woran es allerdings keinen Zweifel gibt, ist, dass keine Beweise für diese Beschuldigungen existieren - zumindest hat die US-Regierung bisher keine vorgelegt.
Das "eine Beispiel" irakischer Irreführung, von dem Cheney in seiner Rede in Nashville sprach, stellte sich bald als falsch heraus. "Im Frühjahr 1995", so der Vizepräsident, "standen die [UNSCOM Waffen-]Inspektoren kurz davor, zu erklären, sämtliche Programme Saddams zur Entwicklung chemischer Waffen und Langstreckenraketen seien kontrolliert und beendet worden. Dann lief plötzlich Saddams Schwiegersohn über und begann zu reden. Ein paar Tage später wurden die Inspektoren zu einer irakischen Hühnerfarm geführt. Dort waren Kisten mit Dokumenten und jeder Menge Beweise über die geheimsten Waffenprogramme des Irak versteckt."
Zwei Tage nach dieser Rede wies der Chef der UNO-Waffeninspektoren, Scott Ritter, in einer Nachrichtensendung des Public Broadcasting System (PBS) Cheneys Darstellung der Ereignisse zurück und beschuldigte ihn, "die Geschichte umzuschreiben". Ritter sagte einem Journalisten der PBS: "Was Vizepräsident Cheney dem amerikanischen Volk erzählt hat, kommt einer Lüge gleich. Die CIA weiß, dass Hussein Kamal, der Schwiegersohn von Saddam Hussein nach seinem Überlaufen klar erklärt hat, dass alle Waffenprogramme auf seine Anweisungen hin eliminiert wurden. Das ist Tatsache. Er hat uns zu keinem Dokument geführt. Das hat die irakische Regierung getan."
Bei seiner Rede am folgenden Tag in San Antonio ließ Cheney die Anekdote mit der Hühnerfarm weg. In den Medien hatte es niemand bemerkt oder bemerken wollen. Die Lüge hatte ihren Zweck erfüllt.
Saddam Hussein und die chemischen Waffen
Wie bei Regierungsvertretern der USA üblich, versuchte Cheney in seiner Rede Saddam Hussein als Dämon darzustellen und verschwieg, dass der irakische Führer in den 80er Jahren ein Verbündeter der USA war, und dass Washington den Irak in seinem Krieg gegen Iran (1980-88) unterstützt hatte.
Hussein ist einer von vielen früheren Verbündeten oder CIA-Söldnern, die US-Interessen in die Quere kamen und deshalb in internationale Parias verwandelt wurden. Auf dieser Liste befinden sich Panamas Manuel Noriega, Serbiens Slobodan Milosevic, Somalias Mohammed Farah Aidid und Osama bin Laden, einer der islamischen Fundamentalisten, die von den USA bewaffnet und finanziert worden waren, als sie in den 80er Jahren im Krieg der Mujaheddin gegen die sowjetischen Truppen in Afghanistan kämpften.
Als Saddam Hussein chemische Waffen gegen iranische Truppen und irakische Kurden einsetzte, tat er das mit dem Wissen und der stillschweigenden Billigung der USA. In einem kürzlich erschienenen Artikel der New York Times (18. August) hieß es: "Amerikanische Geheimdienste wussten, dass irakische Kommandeure in den entscheidenden Schlachten des iranisch-irakischen Krieges chemische Waffen einsetzen würden", und sie hätten nichts getan, um sie daran zu hindern. Ein hoher Offizier des Militärgeheimdienstes zu jener Zeit, Oberst Walter P. Lang, sagte der Times, die Geheimdienstbeamten "wollten auf jeden Fall sichergehen, dass der Irak nicht verliert". Lang kommentierte: "Dass die Iraker Giftgas einsetzten, war kein Anlass zu tiefer Besorgnis."
Die USA unterstützten Hussein und den Irak in seinem Krieg gegen den Iran, weil die amerikanische herrschende Klasse das radikale islamische Regime im Iran als die größere Bedrohung betrachtete. Sobald der Krieg dann vorbei und der Iran geschwächt war, befürchtete Washington, dass das säkulare nationalistische Regime zu einer Regionalmacht in der ölreichen Golfregion aufsteigen könnte. Amerikanische Regierungsvertreter bemühten sich, einen Vorwand für einen Krieg gegen den Irak zu schaffen, den sie dann in der irakischen Invasion Kuwaits am 2. August 1990 fanden.
Später kam heraus, dass die US-Botschafterin im Irak, April Glaspie, bei einer Unterredung mit Hussein am 25. Juli 1990 dem irakischen Vorgehen diplomatisch verbrämt grünes Licht gegeben hatte, als sie erklärte: "Wir haben keinen Standpunkt zu innerarabischen Konflikten." Außerdem hatte General Norman Schwarzkopf auf Befehl des damaligen Chefs des Generalstabs Colin Powell schon Monate vor der Invasion in Kuwait Pläne für eine massive US-Militärintervention im Irak ausgearbeitet. Im Juni 1990 spielte Schwarzkopf bereits Kriegsszenarien durch, in denen Hunderttausende US-Truppen gegen irakische Panzerdivisionen kämpften.
Es gibt zudem Hinweise, dass die USA Saddam Hussein geholfen haben, Anthrax als biologische Waffe zu entwickeln. Die konservative französische Zeitung Le Figaro berichtete 1998, dass sowohl die USA als auch Frankreich den Irak Mitte der 80er Jahre mit Kulturen von Anthrax-Bakterien belieferten, nachdem das Hussein-Regime Anfang 1985 ein geheimes Biowaffen-Programm begonnen hatte. Entwickler in der "American Type Culture Collection" in Rockville (Maryland) bestätigten diesen Bericht.
Die "Befreiung" Afghanistans durch die USA
Cheney führte den Krieg der USA in Afghanistan als angeblichen Beweis dafür an, dass Amerikas Motive bei einer Invasion im Irak selbstlos und human sein würden. "Heute kann die Welt in Afghanistan sehen", erklärte er, "dass Amerika nicht erobert, sondern befreit."
Eine solche Behauptung wäre lächerlich, hätte sie nicht solch bedrohliche Implikationen. Als Cheney sprach, erschienen immer noch Film- und Presseberichte, die furchtbare Kriegsverbrechen in Afghanistan dokumentierten. Amerikanische Militärs und politische Führer sind in das Abschlachten Hunderter, wenn nicht Tausender gefangener Talibankämpfer verwickelt. Hunderte weitere sind entgegen der Genfer Konvention auf unbestimmte Zeit von den USA eingesperrt worden. Die viele Tausend afghanischen Zivilisten, die von amerikanischen Bomben und Raketen getötet worden sind, sind dabei noch gar nicht berücksichtigt.
Die US-Intervention hat das Land in einen noch schlimmeren Zustand von Armut und Anarchie gestürzt, während sie an der Herrschaft rivalisierender Kriegsherren nichts geändert hat. Das Marionettenregime von Hamid Karzai ist so verhasst, dass seine führenden Vertreter von US-Truppen beschützt werden müssen. Sie können sich kaum aus Kabul heraustrauen, ohne ihre eigene Liquidierung befürchten zu müssen.
Cheney weiß außerdem ganz genau, dass die Kriegspläne der USA gegen den Irak Flächenbombardierungen aller wichtigen städtischen Zentren vorsehen, und dass amerikanische Militärplaner davon ausgehen, dass ein neuer Krieg noch viel mehr zivile irakische Opfer fordern wird als der letzte Golfkrieg.
Vom unmittelbaren politischen Standpunkt aus war der vielleicht wichtigste Aspekt von Cheneys Rede seine Ablehnung der Forderungen von James Baker und anderen, auch vieler europäischer Regierungschefs, dass die Bush-Regierung sich erst ein juristisches Feigenblatt bei der UNO besorgen müsse, bevor sie gegen den Irak in den Krieg zieht. Die taktische Frage - ob oder ob nicht die UNO-Waffeninspekteure als Kriegsvorwand benutzt werden sollten - spaltet laut verschiedenen Presseberichten die Bush-Regierung nach wie vor.
Zu dieser Frage äußerte sich Cheney mit unverhohlener Verachtung für Bakers Rat: "Eine Rückkehr der Inspektoren" erklärte er, "würde eine Umsetzung der UNO-Resolutionen nicht garantieren."
Die Fraktion der Bush-Regierung um Cheney und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld lehnt das Manöver mit der UNO ab, weil sie das Prinzip durchsetzen will, dass die USA bei ihren militärischen Aktionen und ihrer Diplomatie nicht durch irgendwelche internationalen Organisationen oder rechtlichen Regelungen behindert werden dürften.
Cheneys Rede ist von den US-Medien als Beitrag zu einer öffentlichen "Debatte" über den Krieg gegen den Irak dargestellt worden. Wer einer solchen demagogischen Rede einen positiven Gehalt zuschreibt oder behauptet, sie sei Teil eines demokratischen "Dialogs" zwischen Regierung und Volk, beleidigt die amerikanische Bevölkerung. In Wirklichkeit wird das amerikanische Volk überhaupt nicht gefragt. Ein Krieg mit dem Irak wird der Bevölkerung von einer politischen Clique aufgezwungen, die engste Beziehungen zum Militär und zur extremen Rechten hat - einer Clique, die durch antidemokratische und betrügerische Mittel an die Macht gekommen ist. Diese weiß, dass sie von der Demokratischen Partei oder dem, was als liberales Establishment gilt, keine ernsthafte Opposition zu erwarten hat.
Die Kriegshysterie speist sich aus zwei grundlegenden Quellen. Erstens versuchen die USA, sich die Kontrolle über einige der wichtigsten Öl- und Gasreserven der Welt zu sichern; das betrifft den Irak und den ganzen Mittleren Osten. Krieg mit dem Irak wird nur der erste Schritt zu einem faktischen Protektorat der USA in der Region sein.
Gleichzeitig ist der Ausbruch des US-Militarismus eine Antwort der herrschenden Elite auf ihre tiefe soziale und politische Krise zu Hause - eine Krise, für die sie keine Lösung hat. Der "Krieg gegen den Terrorismus" dient dazu, von den Auswirkungen der wirtschaftlichen Rezession abzulenken, die mit kriminellen Aktivitäten der Konzernvorstände von unglaublichem Ausmaß einhergeht. Die extremen Widersprüche der amerikanischen Gesellschaft, v.a. die tiefe Kluft, die die reiche Elite von den breiten Schichten der Bevölkerung trennt, geben dem Kriegskurs Auftrieb und verleihen ihm einen besonders gewalttätigen Charakter.