Geschichte der Linken Opposition gegen den Stalinismus
"Weltrevolution und Weltkrieg" - ein neuer Band von Wadim Rogowin in deutscher Sprache
15. Oktober 2002
Zur diesjährigen Frankfurter Buchmesse hat der Arbeiterpresse Verlag das Buch "Weltrevolution und Weltkrieg" des russischen Historikers Wadim S. Rogowin herausgebracht. Es handelt sich um den sechsten Band der Reihe "Gab es eine Alternative?", einer detaillierten Geschichte der linken Opposition gegen den Stalinismus. Von den insgesamt sieben Bänden liegen nun vier, die die Jahre 1934 bis 1939 umfassen, in deutscher Sprache vor.
Im Mittelpunkt von "Weltrevolution und Weltkrieg" steht der Hitler-Stalin-Pakt, der dem Nazi-Regime den Weg zum Zweiten Weltkrieg ebnete. Rogowin stützt sich auf neu erschlossenes sowjetisches Archivmaterial sowie die Schriften Leo Trotzkis. Er weist anschaulich nach, dass der Vertrag nur nach dem Großen Terror möglich war. Bevor Stalin mit Hitler paktieren konnte, musste er die Kommunisten ausrotten, die der Tradition der Oktoberrevolution verbunden waren. Dieser Vernichtungsfeldzug erstreckte sich über die sowjetischen Grenzen hinaus. 1938 war die Vierte Internationale gegründet worden und Stalin fürchtete den Einfluss Trotzkis. Rogowin zeigt auf, wie Stalins Schergen in Spanien Oppositionelle jagten und schließlich den Plan zur Ermordung Trotzkis in die Tat umsetzten, um die Weltrevolution zu enthaupten.
Wir dokumentieren im folgenden die Einleitung des Autors:
"Weltrevolution und Weltkrieg" - Einführung
In diesem Buch werden politische Ereignisse beleuchtet, die am Vorabend des Zweiten Weltkriegs in der UdSSR und weltweit stattfanden.
Der erste Teil des Buches analysiert die wirtschaftlichen, sozialen, politischen und geistig-ideologischen Prozesse in der UdSSR unmittelbar nach der großen Säuberung von 1936-1938, d.h. zu einem Zeitpunkt, als sich endgültig jene Gesellschaftsordnung herausgebildet hatte, die gewöhnlich als Stalinismus bezeichnet wird. Wir betrachten die Hauptbereiche des sozioökonomischen und des gesellschaftlich-politischen Lebens der UdSSR in den Vorkriegsjahren, erhalten so die Möglichkeit, die soziale Anatomie des stalinistischen Regimes aufzuzeigen, und können die Merkmale, die mit Stalins Tod verschwanden, von jenen abgrenzen, die in etwas modifizierter Form in den darauf folgenden Jahrzehnten erhalten blieben und letztlich den Zerfall der UdSSR sowie die Restauration des Kapitalismus in den einstigen Unionsrepubliken bedingten.
Im zweiten Teil des Buches werden die internationalen politischen Ereignisse in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre untersucht. Ich möchte, ohne Wertungen dieser Ereignisse vorwegzunehmen, lediglich einige Gedanken über den Abschluss des sowjetisch-deutschen Vertrags äußern - ein Ereignis, das den weiteren Verlauf der Weltgeschichte für immer geprägt hat.
Bekanntermaßen gab es in der UdSSR bis zum Ende der achtziger Jahre ein strenges Tabu für jeden Versuch, die stalinistischen Wertungen des "Molotow-Ribbentrop-Paktes", der eine grundlegende Wende in der sowjetischen Außenpolitik und der internationalen kommunistischen Bewegung bedeutete, zu revidieren. Die Situation schien sich 1989 zu ändern, als der I. Kongress der Volksdeputierten der UdSSR eine Kommission unter dem Vorsitz von Alexander Jakowlew bildete und diese beauftragte, eine politische und rechtliche Einschätzung des von Molotow und Ribbentrop am 23. August 1939 unterzeichneten Paktes vorzunehmen. Ein halbes Jahr später legte Jakowlew auf dem II. Kongress der Volksdeputierten die Ergebnisse der Kommission vor.
Wie in den vorangegangenen Bänden des Zyklus "Gab es eine Alternative zum Stalinismus in der UdSSR und der internationalen kommunistischen Bewegung?" polemisiere ich auch im vorliegenden Buch nicht direkt gegen die historischen Versionen und Mythen, die von früheren und heutigen Geschichtsfälschern konstruiert wurden. Eine Ausnahme mache ich bei dem genannten Vortrag Jakowlews, da es sich hier um ein gewissermaßen staatliches Dokument (die Hauptschlussfolgerungen wurden in einen vom damaligen höchsten Machtorgan der UdSSR gefassten Beschluss aufgenommen) und zugleich um das letzte Wort der sowjetischen Geschichtsschreibung handelte, noch dazu vom Hauptideologen der "Perestroika".
Bei der Darlegung werden die gravierendsten Fehler, Erfindungen und Verfälschungen aus Jakowlews Vortrag aufgezeigt. An dieser Stelle sei nur ein Beispiel genannt, das die "Methodologie" seiner Arbeit betrifft. Ohne eine klassenbezogene Analyse und soziale Wertung der wichtigsten historischen Ereignisse äußerte Jakowlew lediglich, bei der Unterzeichnung des Paktes seien "bestimmte Elemente tief im Innern des demokratischen Weltempfindens insgesamt" verletzt worden. Diese Verletzungen sah er im Zusammenhang damit, dass sich "die Vorkriegsereignisse in einem anderen Koordinatensystem (als heute - W. R.) entwickelten. Damals begriffen sich die Länder noch nicht als ein einheitlicher Menschheitsstrom; weder die gesamteuropäischen noch die weltweiten Ideale der Gerechtigkeit und des Humanismus hatten sich einen Weg in das gesellschaftliche und staatliche Bewusstsein gebahnt... Die Geschicke der Welt wurden durch separate Gruppen von Politikern und Politikastern entschieden, die ihre eigenen Ambitionen durchsetzen wollten und von den Massen isoliert waren."
All diese schwülstigen Phrasen sollten den Eindruck erwecken, dass die genannten negativen Tendenzen in den internationalen Beziehungen überwunden seien oder dass man zumindest dabei sei, sie im Zuge des von Gorbatschow und Jakowlew angestoßenen "neuen Denkens" zu überwinden. Heute können wir aufgrund der historischen Erfahrungen der neunziger Jahre mit Recht die folgenden Fragen aufwerfen: Von wem werden in unseren Tagen die "Geschicke der Welt" entschieden? Von welchen globalen oder regionalen "Idealen" wurden Fehdekriege wie im Kaukasus, in Tadschikistan oder in den nach dem Zerfall Jugoslawiens entstandenen Ländern inspiriert? Welches "Koordinatensystem" lag dem tschetschenischen Gemetzel zugrunde oder den Schüssen auf das russische Parlament, die von den führenden Repräsentanten der für "Demokratie" und einen "Rechtsstaat" eintretenden kapitalistischen Welt gebilligt wurden?
Unter Berücksichtigung aller historischen Erfahrungen unseres Jahrhunderts wird besonders deutlich, dass der Abschluss des sowjetisch-deutschen Paktes von 1939 eines der schlimmsten Verbrechen Stalins und ein perfides politisches Komplott darstellte, das von zwei totalitären Diktaturen langfristig vorbereitet wurde. Im zweiten Teil des Buches zeige ich auf, wie die Pläne Stalins und Hitlers bei den der Unterzeichnung des Paktes vorausgehenden Geheimverhandlungen immer konkretere Konturen annahmen und wie die Verhandlungspartner nach und nach ihre Karten aufdeckten, indem sie von allgemeinen Formulierungen wie "Klärung der Beziehungen" zu einer offenen Darlegung ihrer Expansionspläne übergingen.
Die Vorbereitung des Paktes und sein Inhalt widerlegen anschaulich den Mythos von einer "ideologisierten" Außenpolitik Stalins, die angeblich den bolschewistischen Kurs auf eine internationale sozialistische Revolution fortsetzen würde. In Wirklichkeit ließ sich Stalin nicht von irgendwelchen ideologischen Motiven leiten, die sowieso niemals eine wesentliche Rolle in seiner Innen- und Außenpolitik spielten, sondern von rein geopolitischen Erwägungen. "Ideologisch" motiviert wurden die Verhandlungen, wie sich der Leser des vorliegenden Buches überzeugen kann, von nationalsozialistischen Politikern und Diplomaten, die mehrfach zu ihren sowjetischen Partnern sagten, dass Deutschland und die UdSSR als Staaten, die ihrem Geiste nach den westlichen Demokratien feindlich gegenüberstanden, "gemeinsame" Interessen hätten. Diese politische Demagogie verfolgte das Ziel, die Ähnlichkeit totalitärer Regime im Gegensatz zu "plutokratischen" Staaten zu betonen.
Eine sowjetisch-deutsche "Annäherung" war Stalins Ziel von dem Augenblick an, als Hitler an die Macht gelangte. Hitler fasste, seinen eigenen Worten zufolge, den "Entschluss, mit Stalin zu gehen", im Herbst 1938. Nicht unwichtig dafür war, dass er für die Persönlichkeit Stalins Begeisterung (siehe 18. Kapitel) und für die Oberhäupter der bürgerlich-demokratischen Staaten Verachtung empfand. "Die armseligen Würmer Daladier und Chamberlain habe ich in München erlebt. Sie werden zu feige sein anzugreifen", sagte er am 22. August 1939 zu seinen Generälen.
Natürlich war nicht nur der Wille zweier totalitärer Diktatoren ausschlaggebend für die Gruppierung der politischen Kräfte zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. Das sowjetisch-deutsche Bündnis war möglich, weil im Mittelpunkt der damaligen Weltpolitik nicht die Widersprüche zwischen der UdSSR und ihrem kapitalistischen Umfeld standen, sondern die Widersprüche zwischen den kapitalistischen Hauptmächten, die durch die tiefe Krise des internationalen Kapitalismus in den dreißiger Jahren hervorgebracht worden waren. Die imperialistischen Widersprüche waren derart zugespitzt, dass sie die Bildung eines einheitlichen antisowjetischen Blocks der größten kapitalistischen Staaten ausschlossen.
Wie zahlreiche historische Dokumente belegen, drohte 1939, als Stalin seine endgültige Wahl zugunsten einer sowjetisch-deutschen Allianz getroffen und dadurch, nach Meinung von Historikern wie Jakowlew und Wolkogonow, den Überfall Deutschlands auf die UdSSR hinausgezögert hatte, der Sowjetunion keine unmittelbare Kriegsgefahr von deutscher Seite. Die politische und militärische Führung Deutschlands fühlte sich nicht auf einen Krieg gegen die UdSSR vorbereitet und hatte zu jener Zeit nicht einmal Pläne für einen solchen Krieg ausgearbeitet.
Die meisten in der Sowjetunion und im Ausland veröffentlichten Arbeiten über die Ursachen des Zweiten Weltkriegs konzentrieren sich auf die Pläne und Taten eines engen Kreises von Politikern und Diplomaten. Die Ereignisse in der internationalen kommunistischen und Arbeiterbewegung der dreißiger Jahre werden quasi ausgeklammert. Die Untersuchungen bürgerlicher Historiker ignorieren in der Regel die Arbeiten Trotzkis, in denen Gedanken über den sozialen Inhalt des heraufgezogenen und inzwischen begonnenen Krieges enthalten waren. Genauso wenig lassen sich in der bürgerlichen und erst recht in der sowjetischen Geschichtsschreibung Arbeiten finden, in denen bei der Analyse der politischen Ereignisse jener Jahre der permanente Kampf zwischen Stalin und der stalinisierten Komintern einerseits sowie Trotzki und der trotzkistischen Bewegung andererseits berücksichtigt wird. Im dritten Teil des vorliegenden Buches habe ich mir die Aufgabe gestellt, diese Lücke zu füllen und die enge Verbindung zwischen der stalinschen Innenpolitik, den in der diplomatischen Arena ablaufenden Ereignissen und dem in allen Teilen der Welt stattfindenden Kampf zwischen Stalinismus und Trotzkismus aufzuzeigen.
Ein nachdenkender und unvoreingenommener Leser, der das vorliegende Buch aufmerksam durchgearbeitet hat, wird die Bedeutung der im Titel benannten globalen historischen Alternative sicherlich richtig einschätzen können.