Protest ohne Perspektive
Ein Kommentar zu den jüngsten Anti-Kriegsdemonstrationen
Von Ulrich Rippert
1. November 2002
Die Demonstrationen und Kundgebungen, die am vergangenen Samstag in mehr als achtzig bundesdeutschen Städten stattfanden, waren von politischer Orientierungslosigkeit geprägt. Weder die Organisatoren noch die Redner konnten die Frage beantworten, wie der geplante Krieg gegen den Irak verhindert werden kann.
Stattdessen hatte man sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt: "Kein Krieg!" Doch ohne klare Vorstellung, mit welchen politischen Mitteln der Krieg gestoppt werden kann, bleibt das ein frommer Wunsch. Einige der Organisatoren betrachten diesen Mangel sogar als Tugend, weil die fehlende politische Orientierung die Möglichkeit bietet, die unterschiedlichsten politischen Standpunkte sowie religiösen und humanitären Überzeugungen zu vereinen.
Manche Redner erinnerten an die Friedensbewegung der siebziger Jahre, "an der sich Millionen aus unterschiedlichsten Beweggründen beteiligten", und priesen sie in höchsten Tönen. Es kam ihnen gar nicht in den Sinn, dass die Zunahme kriegerischer Auseinandersetzungen in den letzten Jahren und die gegenwärtige militärische Bedrohung des Irak das Scheitern dieser Bewegung und ihrer pazifistischen Perspektive offenbaren.
Das Fehlen jeder ernsthaften politischen Orientierung macht es den Herrschenden leicht, die Proteste entweder zu ignorieren oder für ihre eigenen Zwecke zu missbrauchen.
Gewerkschaften
Das wurde am vergangenen Samstag deutlich, als auf der Berliner Kundgebung ein Vertreter der Gewerkschaften das Wort ergriff. Der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft ver.di in Berlin, Günter Bodin, verlas eine Entschließung der Bezirkskonferenz seiner Organisation: "Die Bezirkskonferenz unterstützt ausdrücklich die Erklärung von Bundeskanzler Schröder, dass es mit seiner Regierung keine Beteiligung an einem eventuellen Krieg gegen den Irak geben werde, auch keine finanzielle Unterstützung."
"Wir wenden uns entschieden dagegen", zitierte Bodin die Gewerkschaftsresolution weiter, "dass deutsche Soldaten als Hilfstruppen der US-Regierung andere Völker mit Krieg überziehen."
Was hier im Gewande der Ablehnung eines Irakkriegs daher kommt, ist in Wirklichkeit ein Blankoscheck für eine Regierung, die gerade den Arbeitern den Krieg erklärt hat und sich zu den schärfsten Angriffen auf soziale und demokratische Rechte anschickt. Bodin weiß das sehr gut. Die erste Amtshandlung von Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) nach der Wiederwahl bestand darin, den Beschäftigten im Öffentlichen Dienst mit Entlassungen zu drohen, falls sie bei den Tarifverhandlungen keine Nullrunde akzeptieren.
Seitdem vergeht kein Tag, an dem die Bundesregierung nicht schärfere Kürzungen in allen Sozialbereichen ankündigt. So wurde gestern bekannt, dass sie im kommenden Jahr allein bei den Arbeitslosen 6,5 Milliarden Euro einsparen will. Unter anderem sollen durch neue Bemessungsgrundlagen fast ein Drittel der 1,3 Millionen Langzeitarbeitslosen ihre finanzielle Unterstützung verlieren.
Man kann die Regierung nicht in der Außenpolitik unterstützen und in der Sozialpolitik bekämpfen. Das lehrt die gesamte deutsche Geschichte. Als die Gewerkschaftsführer 1914 zu Beginn des Ersten Weltkriegs erklärten: "In der Stunde der Not lassen wir das Vaterland nicht im Stich", schlossen sie als nächstes einen Burgfrieden mit der Regierung und unterdrückten jede soziale Forderung.
Auch wenn sich ver.di heute hinter eine Regierung stellt, die den Kriegsplänen der USA kritisch gegenüber steht, ändert das wenig an den reaktionären Konsequenzen ihrer Politik. Denn der gegenwärtige "Pazifismus" der Regierung Schröder ist lediglich ein Ergebnis ihrer momentanen militärischen Schwäche. Weil sie den USA militärisch (noch) nicht Paroli bieten kann, setzt sie auf Diplomatie. Die Kehrseite davon ist die systematische und intensive Aufrüstung der Bundeswehr. Ein Großteil der gegenwärtigen Einsparungen im Sozialbereich fließt direkt in die Taschen der Militärs.
In den ersten vier Jahren ihrer Amtszeit hat die rot-grüne Regierung mehr dazu beigetragen, Deutschland zur militärisch gerüsteten Großmacht aufzubauen, als ihre konservativen Vorgänger in den sechzehn Jahren davor. Sie hat sich an zwei Kriegen beteiligt - 1999 in Jugoslawien und 2001 in Afghanistan - und deutsche Soldaten zu Einsätzen in 16 verschiedene Staaten und Regionen geschickt - vom Balkan über Afghanistan bis ans Horn von Afrika. Sie hat die Ausgaben für internationale Bundeswehreinsätze verzehnfacht.
Den amerikanischen Kriegsplänen tritt die Regierung Schröder-Fischer nur so weit entgegen, wie sie eigenen imperialistischen Interessen im Wege stehen. Sie fürchtet, dass die deutsche Wirtschaft von den lukrativen Märkten der Ölförderländer ausgeschlossen wird und die USA eine uneingeschränkte Kontrolle über die Ölquellen am Golf errichten. Auch die Angst vor den wirtschaftlichen Folgen steigender Energiepreise und einer Destabilisierung der Region bestimmen ihre Haltung.
Der Versuch der Gewerkschaften, die Opposition gegen den Krieg ins Fahrwasser der Regierung Schröder zu lenken, muss daher entschieden abgelehnt werden. Bodins Lob für Schröder kündigt an, dass die Gewerkschaften eng mit der Regierung zusammenarbeiten werden, um die Last des Kriegs der Bevölkerung aufzubürden.
Ströbele
Eine ähnliche Rolle wie Bodin gegenüber Gewerkschaftsmitgliedern spielt der grüne Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele gegenüber Jugendlichen und anderen Gesellschaftsschichten, wenn es darum geht, die verbreitete Anti-Kriegsstimmung hinter der rot-grünen Regierung zu sammeln.
Ströbele sieht seine politische Aufgabe darin, enttäuschte Pazifisten bei der Stange zu halten und den Eindruck zu vermitteln, Kriegsgegner seien bei den Grünen ebenso gut aufgehoben wie die Kriegsbefürworter an der Spitze der Partei. Er dient als linkes Feigenblatt für die Grünen und tut dies nicht selten in offen zynischer Weise. So stimmte er im vergangenen Jahr im Bundestag gegen den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr, sorgte aber gleichzeitig dafür, dass einige gleichgesinnte grüne Abgeordnete für den Einsatz stimmten, so dass dieser eine Mehrheit bekam.
In einem Gespräch mit der WSWS auf dem Berliner Alexanderplatz betonte Ströbele zu Beginn der Kundgebung, der geplante Irakkrieg sei "eindeutig ein Angriffskrieg und verstößt gegen das internationale Völkerrecht". Man müsse "viel konsequenter gegen diesen Krieg argumentieren". Weder dürfe die Regierung ihre Truppen in Afghanistan verstärken, um amerikanische Truppen zu entlasten, noch dürfe sie Regierung die Nutzung der amerikanischen Basen in Deutschland zulassen, weil die Unterstützung eines Angriffskrieges dem Grundgesetz widerspreche. (Siehe: Ein Interview mit Hans-Christian Ströbele, http://www.wsws.org/de/2002/nov2002/inte-n01.shtml)
Als er wenige Minuten später zur Kundgebung sprach, tauchte nicht eine einzige dieser Forderungen auf. Ströbele vermied jede offene Kritik an der rot-grünen Regierung. Stattdessen versuchte er, die vielfältigen deutschen Militäreinsätze als Einzelfälle darzustellen, die alle unterschiedlich bewertet werden müssten. So habe er dem Einsatz deutscher Soldaten in Mazedonien zugestimmt, weil dort gegenwärtig kein Krieg stattfinde und die Aufgabe der Bundeswehr lediglich darin bestehe, den Schutz der internationalen Beobachter zu garantieren.
Ströbeles Standpunkt zum Mazedonien-Einsatz - er hatte erst dagegen gestimmt, sich dann der Stimme enthalten und zuletzt dafür gestimmt - macht deutlich, dass sich seine Haltung zur Bundeswehr nicht grundsätzlich von jener Joschka Fischers unterscheidet, der als grüner Außenminister die Kriegseinsätze gegen Jugoslawien und Afghanistan gegen den Widerstand in der eigenen Partei durchgesetzt hat.
Wie Fischer betrachtet auch Ströbele die Bundeswehr als politisch neutrales Instrument, das je nach Umständen friedlichen oder kriegerischen Zwecken dienen kann. Die Begründung für seinen Sinneswandel in der Mazedonienfrage - "es findet in Mazedonien im Moment kein Krieg statt" - zeigt, dass er die Frage nach dem Charakter des Regimes, das die Bundeswehr dort stützt und an der Macht hält, überhaupt nicht stellt. Die Installation eines bürgerlich nationalistischen Regimes in Mazedonien und anderen neuentstandenen Balkanstaaten, das politisch und wirtschaftlich völlig von den Großmächten abhängig ist, hält die Balkanfrage am Brodeln und muss unweigerlich zu neuen, gewaltsamen Auseinandersetzungen führen.
Ströbeles Opposition gegen den Kurs der Parteispitze ist völlig unernsthaft. Er begreift sich innerhalb der grünen Partei als eine Art "linker Harlekin". Nachdem die Parteiführung ihn im Sommer auf einen aussichtslosen Listenplatz gesetzt hatte, kandidierte er in Berlin Friedrichshain-Kreuzberg unter der Parole: "Ströbele wählen heißt Fischer quälen!" für ein Direktmandat. Es geht aber nicht darum Fischer zu quälen, sondern seine Politik und den grenzenlosen Opportunismus zurückzuweisen, der die Grünen kennzeichnet.
Im Kampf gegen den drohenden Irakkrieg bedeutet das: Kein Vertrauen in SPD, Grüne und PDS. Letztere spricht nur so lange gegen Aufrüstung und Krieg, wie sie nicht selbst in die Regierung eingebunden ist. Überall dort, wo sie Regierungsverantwortung trägt, hat sich die PDS als verlässliche Stütze der SPD erwiesen.
Die Gegner des imperialistischen Krieges und des Militarismus müssen sich der großen gesellschaftlichen Kraft zuwenden, die von keiner großen politischen Partei mehr vertreten wird - der internationalen Arbeiterklasse. Die Mobilisierung der Arbeiterklasse - unabhängig von den Bundestagsparteien und im Gegensatz zum gesamten System des Klassenprivilegs - muss zur Grundlage werden für die Entwicklung einer internationalen Bewegung gegen Militarismus und imperialistischen Krieg.
Der Kampf gegen den Krieg muss mit einem Programm verbunden werden, das die brennenden sozialen Fragen aufgreift: Arbeitsplätze, Einkommen, Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnungen und der Kampf für die Verteidigung und Ausweitung demokratischer Rechte. Sein Dreh- und Angelpunkt muss der Kampf für soziale Gleichheit sein.