EU-Gipfel in Barcelona
Schweigen über Kriegspläne gegen den Irak
Von Peter Schwarz
21. März 2002
Die Gipfeltreffen der europäischen Staats- und Regierungschefs, die mindestens jedes halbe Jahr stattfinden, gelten als Marksteine auf dem Entwicklungsweg der Europäischen Union. Trotz den zahlreichen Institutionen und dem riesigen Behördenapparat, über welche die EU mittlerweile verfügt, liegt die eigentliche Entscheidungsgewalt nach wie vor bei den Regierungen der 15 Mitgliedsstaaten. Nur die Gipfeltreffen können daher wegweisende politische Entscheidungen treffen.
Es gibt Gipfel, deren Austragungsort zum Synonym für solche Entscheidungen geworden sind, allen voran derjenige von Maastricht, der 1992 die Weichen zur Europäischen Währungsunion stellte und weitreichende Pläne für eine politische Union ins Auge fasste. Andere, wie der Gipfel von Nizza im Dezember 2000, wurden zum Sinnbild für die Blockade der EU aufgrund der Rivalitäten zwischen ihren mächtigsten Mitgliedern, in diesem Fall zwischen Deutschland und Frankreich. Wieder andere erstickten in kleinlichen Streitereien und gerieten in Vergessenheit, sobald die Delegationen abgereist waren.
Selten jedoch gab es einen EU-Gipfel, auf dem das Missverhältnis zwischen dem, was von den Teilnehmen diskutiert und beschlossen wurde, und den tatsächlichen Problemen, mit denen sie konfrontiert sind, so krass war wie auf dem Treffen, das am vergangenen Wochenende in Barcelona stattfand. Misst man die Zukunftsaussichten der Europäischen Union an ihrer Fähigkeit, den politischen Schlüsselfragen ins Auge zu blicken und sie zu beantworten, dann befindet sie sich in einem Zustand fortgeschrittener Paralyse.
Die Frage, die die europäische Politik in jüngster Zeit wie kein andere beschäftigte, die Kriegsvorbereitungen der US-Regierung gegen den Irak, blieb in Barcelona tabu. Der spanische Ministerpräsident Jose Maria Aznar, der als Gastgeber die Konferenz leitete, unterband jeden Versuch, das Thema auf die Tagesordnung zu setzen. Als der belgische Premier Guy Verhofstadt es während eines offiziellen Essens zur Sprache bringen wollte, wurde ihm dies höflich aber bestimmt verweigert. Laut Angaben aus Diplomatenkreisen fürchtete Aznar, dass unüberbrückbare Gegensätze zwischen London einerseits sowie Brüssel und den neutralen EU-Mitgliedern andererseits den Gipfel spalten könnten.
Die Haltung der europäischen Regierungen gegenüber den amerikanischen Kriegsplänen könnte in der Tat unterschiedlicher nicht sein. Bisher hat sich nur der britische Regierungschef Tony Blair mehr oder weniger offen für einen Militärschlag gegen den Irak ausgesprochen. Aus allen anderen europäischen Hauptstädten waren dagegen deutliche Vorbehalte zu vernehmen, wobei einem offenen Konflikt mit Washington nach Möglichkeit aus dem Weg gegangen wird.
In Berlin und Paris wird befürchtet, dass eine Neuauflage des Golfkriegs den gesamten Nahen Osten destabilisieren könnte - mit unabsehbaren Folgen für die wirtschaftliche und politische Stabilität der Welt. Mit Schrecken erinnert man sich an den Ölpreisschock von 1973, der zu einer der tiefsten Rezessionen der Nachkriegszeit beitrug.
Trotz Nato-Bündnis und ständigen engen Kontakten wissen die europäischen Regierungen (mit der möglichen Ausnahme Englands) zudem nicht, was die Regierung Bush tatsächlich vorhat. "Wenn es um die Irak-Politik der USA und ihre Konsequenzen für die Deutschen geht," bemerkte kürzlich eine deutsche Tageszeitung, "stochern sie im Nebel. Vom Kanzler bis hinunter zum kleinsten Abgeordneten wird mehr mit Vermutungen als mit sicherem Wissen operiert."
Während die - laut einem EU-Beamten - "zwei dringendsten außenpolitischen Fragen, vor denen Europa steht, die transatlantische Beziehung und die Aussicht auf ein amerikanisches Vorgehen gegen den Irak," in Barcelona offiziell tabu blieben, wurden sie während der Sitzungspausen in den Korridoren um so eifriger diskutiert.
Wie es scheint, gewöhnt man sich langsam an den Gedanken, dass sich die Regierung Bush durch europäische Vorbehalte nicht von ihren Vorhaben abbringen lässt. Gegen Ende des Gipfels lief sogar das Gerücht um, man sei in Anpassung an das Unvermeidliche übereingekommen, einen "begrenzten und gezielten" Militärschlag Washingtons zu billigen. Aus den Delegationen kleinerer EU-Länder wurde die Vermutung geäußert, die "Großen" (also Deutschland, Frankreich und Großbritannien) hätten sich entsprechend geeinigt, um im Falle einer erfolggekrönten US-Militäraktion ihre ablehnende Haltung nicht schmachvoll widerrufen zu müssen.
Dies wurde umgehend dementiert. "Die Möglichkeit eines militärischen Eingriffs haben wir nicht diskutiert," sagte der französische Präsident Jacques Chirac, und Bundeskanzler Schröder fügte hinzu: "Niemand hat sich auf welche Linie auch immer bringen lassen". Der britische Premier Blair war weniger kategorisch: Der Irak sei "natürlich am Rande ein Thema gewesen", nur treffe Europa "zu diesem Zeitpunkt keine Entscheidung".
Die deutsche Regierung hatte allerdings schon in der Woche vor dem Gipfel deutlich gemacht, dass sie einen offenen Zwist mit der US-Regierung unbedingt vermeiden will. Kanzler Schröder lehnte in einer Unterrichtung der Fraktionschefs den Rückzug deutscher Spürpanzer aus Kuwait mit der Begründung ab, niemand könne die Konsequenzen verantworten, die ein solcher Schritt für das deutsch-amerikanische Verhältnis in den nächsten Jahrzehnten habe.
Die Fuchs-Panzer der Bundeswehr, die zur Zeit in der Nähe der irakischen Grenze stehen, sind auf das Aufspüren chemischer und biologischer Kampfstoffe spezialisiert. Im Falle einer amerikanischen Offensive gegen den Irak würden sie fast automatisch in die Kampfhandlungen mit einbezogen und Deutschland damit Kriegspartei.
Um den amerikanischen Kriegseifer zu bremsen, setzt die deutsche Außenpolitik jetzt vor allem auf die UNO. "Politische Vorstöße in EU oder UN, um den Erwartungsdruck auf eine politische Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts zu erhöhen, gelten in Berlin jetzt als Königsweg zur Dämpfung der Kriegsgefahr," berichtet die Frankfurter Rundschau. Eine entsprechende Linie sei bei Kofi Anans Berlin-Besuch Ende Februar verabredet worden. So solle Zeit für politische Initiativen gewonnen werden.
Europäisches Dilemma
Die Unfähigkeit des EU-Gipfels, eine gemeinsame Antwort auf die amerikanischen Kriegsvorbereitungen gegen den Irak zu geben, ist Ausdruck eines umfassenderen Dilemmas. Die Ereignisse seit dem 11. September haben den hochfliegenden Europaplänen der neunziger Jahre die Grundlage entzogen.
Durch die Einführung einer gemeinsamen Währung und den Abbau von Handelsschranken sollte der "größte Binnenmarkt der Welt" geschaffen und die USA in wirtschaftlicher Hinsicht nicht nur eingeholt, sondern gleich überholt werden. Noch 1999 hatte der EU-Gipfel in Lissabon das Ziel formuliert, die EU bis 2010 zum "wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt" zu machen. Dieses Ziel ist jetzt in Barcelona bekräftigt worden - was angesichts der zunehmenden Probleme fast schon wie Hohn klingt.
Zum einen hat sich die Hoffnung, die negativen sozialen Folgen der wirtschaftlichen Liberalisierung könnten durch ein erhöhtes Wirtschaftswachstum abgefedert werden, als Illusion entpuppt. Diese Hoffnung war insbesondere von den sozialdemokratischen Parteien geschürt worden, die im Laufe der neunziger Jahre fast überall in Europa an die Regierung gelangten. So war Gerhard Schröder 1998 mit der Parole "Innovation und Gerechtigkeit" zur Wahl angetreten, was die Vereinbarkeit von ökonomischer Liberalisierung und sozialer Gerechtigkeit suggerieren sollte.
Mittlerweile sind die Ausgaben für Gesundheit, Renten, Soziales und öffentliche Dienste überall in Europa kräftig reduziert worden, aber dies hat nicht zu einer wirtschaftlichen Belebung, sondern zu einer weiteren Erhöhung der Arbeitslosigkeit geführt. Jeder weitere Einschnitt stößt auf wachsenden Widerstand und ruft soziale Proteste hervor. So protestierten in Barcelona mehrere Hunderttausend Demonstranten gegen den Gipfel und in Rom werden am kommenden Samstag über eine Million zu einer Kundgebung gegen die Sozialpolitik der Regierung Berlusconi erwartet.
Zum anderen wächst der wirtschaftliche Druck der USA auf Europa. Spätestens seit dem 11. September hält sich die US-Regierung immer weniger an die von ihr selbst proklamierten Regeln des freien Wettbewerbs. An seine Stelle treten Handelskriegsmaßnahmen und Einschüchterung durch militärische Gewalt. Die Milliardensubventionen für die amerikanische Luftfahrtindustrie, die gewaltige Steigerung der Militärausgaben, die im Nebeneffekt einer Subventionierung der Rüstungsindustrie gleichkommen, und die jüngst verhängten Strafzölle gegen Stahlimporte machen deutlich, dass die Regierung Bush auch in der Wirtschaftspolitik nach dem Motto America first handelt.
Der sogenannte "Krieg gegen den Terrorismus" richtet sich zudem immer deutlicher gegen die wirtschaftlichen Konkurrenten der USA. Mit dem Iran und dem Irak werden nicht nur zwei wichtige Handelspartner Europas bedroht, als eigentliches Ziel des gegenwärtigen Kriegs schält sich mehr und mehr die militärische Kontrolle der Ölquellen in Zentralasien und am Golf heraus, auf die auch die europäische Wirtschaft auf Gedeih und Verderb angewiesen ist.
Unter dem wachsenden wirtschaftlichen und militärischen Druck der USA entwickelt Europa deutliche zentrifugale Tendenzen. Die nationalen Interessen nehmen wieder überhand. Inzwischen sind in vier europäischen Ländern sozialdemokratische durch rechte Regierungen abgelöst worden, die sich auf rechtspopulistische oder neofaschistische Koalitionspartner stützen und einen stark nationalistischen, zum Teil offen europafeindlichen Kurs vertreten. Das begann in Österreich und setze sich fort in Italien, in Dänemark und - während des Barcelona-Gipfels - in Portugal, wo die Sozialisten am Wochenende die Wahl verloren und die Macht an eine Koalition aus Liberal-Konservativen und Rechtspopulisten abtreten werden.
Am deutlichsten zeigt sich die Wiederbelebung nationaler Egoismen aber im Auftreten von Gerhard Schröder in Barcelona selbst. Der deutsche Bundeskanzler forderte lautstark die "Wahrung deutscher Interessen" ein und warf der EU-Kommission vor, sie berücksichtige die "besonderen Bedingungen des Industriestandortes Deutschland nicht ausreichend". Mehrere europäische Regierungen reagierten mit Unbehagen und zeigten sich irritiert.
Selbst die deutsche Presse war beunruhigt. Die Welt meinte: "Bei der Formulierung deutscher Interessen' schießt Schröder gehörig über das Ziel hinaus." Die Frankfurter Rundschau sprach von einer "Botschaft des neuen deutschen Selbstbewusstseins" und die Süddeutsche Zeitung warf dem Kanzler "pubertäre Züge", "halbstarke Gebärden" und "Brachial-Rhetorik" vor, gelangte aber zum Schluss, dass "künftig jeder Kanzler auf eine Neuverteilung von Macht und Last, von Einfluss und Nettotransfer bestehen" werde.
Unter diesen Umständen ist es für die europäischen Regierungen doppelt riskant, sich mit Washington anzulegen.
Zum einen fürchten sie, dass sie aufgrund der inneren Zerstrittenheit der EU und ihrer militärischen Unterlegenheit in einem Streit mit den USA den Kürzeren ziehen und unter noch größeren Druck geraten werden. Zum anderen haben sie Angst, dass ein offener Konflikt mit den USA ihre Stellung im eigenen Land unterhöhlen könnte.
Letztlich verdanken sie die relative politische Stabilität der vergangenen fünfzig Jahre dem engen Bündnis mit den USA. Gerade in Deutschland hat noch nie ein Staat - weder das wilhelminische Kaiserreich, noch die Weimarer Republik, das Dritte Reich oder die DDR - so lange gedauert wie die Bundesrepublik, und das verdankt sie nicht zuletzt der Schutzmacht USA. Ein offener Bruch des transatlantischen Bündnisses erscheint daher als höchst riskantes Unterfangen, obwohl die zunehmenden Interessengegensätze immer stärker in diese Richtung drängen.
Was die europäischen Regierungen mit der amerikanischen verbindet, ist ein gemeinsames Klasseninteresse, die Furcht vor der wachsenden sozialen und politischen Opposition. Bei aller Kritik, die sie hinter vorgehaltener Hand an Bushs Außenpolitik äußern, haben sie keine Sekunde gezögert, seine Innenpolitik zu kopieren und auch in Europa Antiterrorgesetze einzuführen, die grundlegende Bürgerrechte beseitigen.