Der EU-Gipfel von Sevilla und das europäische Migrationsregime
Gastbeitrag von Martin Kreickenbaum
2. Juli 2002
Unter dem Titel "Bekämpfung der illegalen Immigration" hat die EU auf dem Gipfel in Sevilla am 21./22. Juni weit reichende Abkommen zur Vereinheitlichung der Asyl- und Migrationspolitik getroffen. Damit wird ein wesentlicher Pfeiler des im Vertrag von Amsterdam (1997) und auf der EU-Ratssitzung in Tampere (1999) beschlossenen "Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" (RFSR), in dem die bisher nationalstaatlich geregelte Innen- und Justizpolitik vergemeinschaftet werden soll, errichtet.
Schon durch die Wahl des Titels wird deutlich, worum es der EU eigentlich geht: Migranten sind für sie in erster Linie Kriminelle, die möglichst schnell abzuschieben sind, bzw. erst gar nicht Zugang zum EU-Territorium erhalten dürfen.
Auf der Grundlage eines von der Kommission im November 2001 vorgelegten Aktionsplanes zur Bekämpfung illegaler Immigration (1), der vom Rat Justiz und Inneres im Februar 2002 angenommen wurde, und eines Grünbuches der Kommission zur Rücknahmepolitik (2) wurden einschneidende Maßnahmen beschlossen, die die Verhinderung der Migration in die EU, die permanenten Kontrolle der Migranten in der EU und die rasche Abschiebung von Migranten aus der EU weiter optimieren sollen.
Zum Ziele der Migrationsverhinderung werden gemeinsame Standards der Grenzüberwachung eingeführt, die durch einheitliche Curricula und gemeinsame Schulungsmaßnahmen von Grenzbeamten und durch den Einsatz gemeinsamer Grenzpatrouillen und Verbindungsbeamten durchgesetzt werden sollen. Bei diesem Aufbau einer einheitlichen europäischen Grenzpolizei ist zu befürchten, dass diese dann mit wesentlich mehr Rechten und Befugnissen ausgestattet wird, als den bislang mit der hoheitlichen Aufgabe der Grenzsicherung betrauten nationalen Grenzsicherungsbehörden zustanden.
Dazu gehört auch die gemeinsame Überwachung der Seegrenzen, gerade im Bereich der Adria und der spanischen Südküste. Wie eine solche Überwachung aussehen könnte, hat der italienische Ministerpräsident Berlusconi bereits 2000 deutlich gemacht. Er forderte, damals noch als Oppositionspolitiker, dass die Küstenwache auf verdächtige Flüchtlingsschiffe auch das Feuer eröffnen dürfe (3). In die selbe Richtung weist auch der Vorschlag Tony Blairs, die Kriegsmarine ins Mittelmeer zum Aufgreifen von Flüchtlingsbooten zu entsenden.
Daneben wird die Vorverlagerung der EU-Außengrenzen über die EU-Anrainerstaaten hinaus fortgeschrieben. Durch finanzielle, technische und personelle Mittel werden Drittstaaten bei der Sicherung der Grenzen gegenüber Migranten "unterstützt", um diese gar nicht erst in die Nähe der EU gelangen zu lassen. Des Weiteren werden in potentiellen Emigrationsländern Beamte eingesetzt, um Informationen zu sammeln, zu analysieren und Expertisen zu erstellen, um möglichst frühzeitig vor "Migrationsströmen" in Richtung EU zu warnen.
Im Bereich des Asyls wird die Politik der sicheren Dritt- und Herkunftsstaaten sowie das Prinzip des "ersten Asyllandes", die bisher nur auf bilateraler Ebene und durch das Schengen-Abkommen gedeckt war, auf Gemeinschaftsebene festgeschrieben.
Zudem wird es durch die Vereinheitlichung der Visabestimmungen für Ausländer, die aus einem der 130 Länder der "schwarzen" Liste stammen, für die die Visumspflicht gilt, zunehmend schwieriger, Zugang zum EU-Territorium zu erhalten. Durch Einführung einer einheitlich auf gemeinsamen Richtlinien basierenden Visavergabepraxis und der Ermöglichung des Datenabgleichs wirkt eine einmalige Visaverweigerung durch ein EU-Mitgliedsstaat wie ein Totaleinreiseverbot für die ganze EU.
Dass die Verweigerung des Visas weiterhin ohne Angabe von Gründen erfolgt und dadurch eine Visabewilligung die Gestalt eines willkürlichen Gnadenaktes annimmt, widerspricht den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit, denen sich die EU verpflichtet hat.
Die Kontrolle der Migranten wird durch gleich drei Datenbanken ermöglicht, die von der Grenzpolizei und den zuständigen Behörden nutzbar sind. Die Kontrolle der durch Visa eingereisten Personen wird durch ein neu zu schaffendes Visa-Identifizierungssystem ermöglicht, das nicht nur persönliche Daten sondern ggf. auch Fingerabdrücke und, sobald technisch möglich, weitere biometrische Daten enthalten soll.
Zweitens wird das Schengeninformationssystem (SIS), das bald aufgrund von Kapazitätsproblemen durch das verbesserte SIS II abgelöst werden soll, auf die gesamte EU ausgedehnt. Dadurch wird in der ganzen EU der Zugriff auf Daten von Personen möglich, denen die Einreise verweigert werden soll, die abzuschieben sind und die in der EU einen Asylantrag gestellt haben.
Daneben können aber auch Datensätze von Unionsbürgern angelegt werden, wenn dies "zur Abwehr einer von dem Betroffenen ausgehenden erheblichen Gefahr oder anderer erheblicher Gefahren [die dann nicht vom Betroffenen ausgehen?] erforderlich ist." (4) Allerdings erfahren die Betroffenen davon nichts, da Zielpersonen keine Auskunft über ihre Registrierung erhalten, ebenso wenig wie eine gerichtliche Überprüfung der Datenspeicherung möglich ist.
Schließlich wird durch EURODAC, einer Datenbank zur Speicherung von Fingerabdrücken von Asylbewerbern und aufgegriffenen, sich illegal aufhaltenden Immigranten, die Kriminalisierung von Migranten durch die EU manifest, wobei insbesondere der kollektive und vorbeugende Betrugsverdacht gegenüber Asylbewerbern mit rechtsstaatlichen Prinzipien nur noch wenig zu tun hat.
Die Beschleunigung der Abschiebung abgelehnter Asylbewerber und illegal sich aufhaltender Personen soll durch Rücknahme- und Transitabkommen sichergestellt werden. Daneben wird die Kooperation bei der Verhinderung von Migration und der zwangsweisen Abschiebung standardmäßig als Klausel in jedem zukünftigen Vertrag und Abkommen zwischen der EU und Drittstaaten aufgenommen. Der Europäische Rat hat dabei zwar auf Kürzung der Entwicklungshilfe als Sanktionen gegenüber kooperationsunwilligen Staaten verzichtet, die EU behält sich aber andere "Maßnahmen und Standpunkte" (5) vor, wovon insbesondere Wirtschafts- und Handelsbeziehungen sowie Assoziationsabkommen zwischen der EU und den Drittstaaten betroffen sein werden.
Des Weiteren gehen sog. "carrier sanctions" in Gemeinschaftsrecht über, durch die Transportunternehmen für den illegalen Grenzübertritt haftbar gemacht werden können und neben Bußgeldern u.U. auch die Kosten der Rückführung übernehmen müssen. Die Anwendung dieser Sanktionen führt dazu, dass beispielsweise das Personal von Fluggesellschaften über die Passkontrolle hinaus Personen nach Kleidung, Aussehen und Herkunft einschätzt, um migrations- oder fluchtverdächtige Personen auszusondern. Fluggesellschaften werden so dazu angehalten, Personen daran zu hindern, um Asyl zu ersuchen.
Die beschlossenen Maßnahmen in allen Feldern der Migrations- und Asylpolitik sind dabei nicht wirklich neu. Zum Teil stammen sie aus dem Schengendurchführungsübereinkommen (SDÜ) von 1990, z.T. handelt es sich um von einzelnen Staaten bereits etablierte Praxis, die aufgrund des Amsterdamer Vertrages vergemeinschaftet werden musste.
Von Schengen nach Sevilla - der Weg der europäischen Migrationspolitik
Die Vereinheitlichung der Asyl- und Migrationspolitik nimmt mit dem Schengen-Abkommen zwischen Frankreich, der BRD und den Beneluxstaaten von 1985 ihren Ausgang. Ursprünglich gepriesen als Vertragswerk, das den freien Personen- und Warenverkehr zwischen diesen Staaten erlauben werde, da die Grenzkontrollen an den Binnengrenzen wegfallen sollten, spielte diese Freizügigkeit im 1990 erzielten Schengendurchführungsübereinkommen praktisch keine Rolle mehr. Stattdessen beinhaltet das SDÜ Maßnahmen, die ein plötzlich bemerktes drohendes "Sicherheitsdefizit" durch Wegfall der Binnengrenzkontrollen kompensieren sollen: Vereinheitlichung der Außengrenzkontrollen und der Asyl- und Visabestimmungen, gegenseitige Rechtshilfe und vertiefte Polizeizusammenarbeit und schließlich die Errichtung des Schengener Informationssystems (SIS).
Die im SDÜ enthaltenen Bestimmungen, auch als Schengen-Besitzstand oder Schengen acquis bezeichnet, galten zunächst nur für die Schengen-Mitgliedsstaaten. Mit dem Vertrag von Maastricht (1993) wurde der Schengen-Besitzstand in die neu geschaffene dritte Säule "zwischenstaatliche Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Rechts und der inneren Sicherheit" des EU-Vertragswerks aufgenommen. Als nicht bindender Text (sog. "soft-law") konnten dadurch auf bilateraler Ebene innerhalb der EU an allen demokratischen Kontrollen vorbei die Angleichung der Visa- und Asylbestimmungen und die Einführung der sicheren Drittstaatenregelung vorgenommen werden.
Mit dem am 1. Mai 1999 in Kraft getretenen Vertrag von Amsterdam wurde schließlich ein Teil des Schengen-Besitzstandes in die erste Säule unter dem Titel "Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr" übertragen. Zur Integration des Schengen-Besitzstandes in bindendes Gemeinschaftsrecht und zur Vereinheitlichung der Asyl- und Migrationspolitik mussten damit aber bisherige Ratsentschließungen und Maßnahmen zur Wiedervorlage kommen, wie jetzt u.a. auf dem Gipfel von Sevilla geschehen.
Dabei billigte der Vertrag von Amsterdam eine fünfjährige Übergangsfrist zu, in der weiterhin nur die Kommission und die Mitgliedsstaaten Vorschlagsrecht für Gesetzesinitiativen haben. Das Europäische Parlament ist nur anzuhören, eine juristische Kontrolle der getroffenen Vereinbarungen ist nur eingeschränkt möglich. Da sich zudem die nationalen Regierungen auf europäischer Ebene als Legislative betätigen und die Beschlüsse auf nationaler Ebene als Exekutive umsetzen, ist die Gewaltenteilung völlig außer Kraft gesetzt.
Dem Schengen-Besitzstand und damit auch dem SDÜ kommt mittlerweile in der gesamten EU Gültigkeit zu (für die Nicht-Schengen-Staaten Irland und Großbritannien sowie Dänemark gelten gesonderte Assoziationsabkommen), so dass ein genauerer Blick auf die darin enthaltenen Bestimmungen lohnenswert ist. Bedeutsam sind hierbei vor allem drei Aspekte:
Erstens enthielt das SDÜ ursprünglich neben sehr präzisen und rechtlich bindenden Bestimmungen auch viele vage und dehnbare Zielvorstellungen, die schrittweise weiterentwickelt werden sollten und wurden. Dazu war dann aber keine Änderung des Übereinkommens mehr notwendig, so dass außerhalb jeder parlamentarischen Kontrolle der Exekutivausschuss, i.e. der Rat der Schengenminister, Änderungen beschloss und in den jeweiligen Nationalstaaten durchsetzte.
Mit dem im SDÜ festgehaltenen Prinzip des "ersten Asyllandes", durch welches Asylanträge nur noch in einem Land (zumeist dem Mitgliedsstaat, über den der Asylbewerber in das Schengen-Territorium eingereist ist) gestellt werden können, wurde zweitens die Möglichkeit, in einem Land freier Wahl Asyl zu beantragen, drastisch eingeschränkt. Dadurch gab es auch keine Möglichkeit mehr, nach Ablehnung des Asylantrages in einem Schengenstaat in einem weiteren Mitgliedsstaat Schutz zu suchen. Mit dem Prinzip des ersten Asyllandes wurden innerhalb der damaligen Europäischen Gemeinschaft die Weichen gestellt, das Genfer Flüchtlingsabkommen zu unterlaufen.
Drittens wurden mit der Errichtung des Schengener Informationssystems (SIS) nationale Datenschutzbestimmungen mehr oder weniger ausgehebelt. Zugang zu den gespeicherten Informationen haben polizeiliche Dienststellen, Zoll, Grenzschutz, Botschaften und Konsulate und Ausländerbehörden. Die Struktur des SIS basiert auf nationalen Komponenten, N-SIS, und der in Strassburg ansässigen zentralen Einheit C-SIS. Informationsübermittlung sieht das SDÜ nur zwischen den einzelnen N-SIS und dem C-SIS vor. Eine Übermittlung zwischen den einzelnen N-SIS Datenbanken ist technisch und rechtlich nicht möglich.
Beinhaltet das SDÜ zudem noch relativ restriktive Datenschutzbestimmungen, da "nur" formalisierte Daten gespeichert werden und diese nach festgesetzten Fristen gelöscht werden müssen, werden diese Bestimmungen durch das gleichzeitig eingeführte SIRENE-Netzwerk unterlaufen.
SIRENE ("Supplementary Information Request on the National Entry") besteht aus nationalen SIRENE-Büros in den Schengen-Mitgliedsstaaten und einem gemeinsamen elektronischen Kommunikationsnetzwerk. Letzteres ermöglicht die permanente Datenübermittlung zwischen den nationalen SIRENE-Büros, die mit dem SIS weder vorgesehen noch möglich ist, und enthält zudem viel weitreichendere Datensätze, da neben den formalisierten Einträgen des SIS auch frei redigierte Texte und sensible Personendaten, die im SIS nicht gespeichert werden dürfen, den jeweiligen Behörden zugänglich werden.
Das Schengener Informationssystems (SIS) stellt somit eher ein "Adressbuch" dar, über das durch SIRENE vielfältigere Informationen abrufbar werden. Bezeichnenderweise gibt es weder innerhalb des SDÜ Bestimmungen, die SIRENE auf eine gesetzliche Grundlage stellen würden (SIRENE wird noch nicht einmal erwähnt!), noch geschah dies in den einzelnen Mitgliedsstaaten. Einschlägig ist alleine das als geheim eingestufte und nicht frei zugängliche SIRENE-Handbuch, in dem festgelegt ist, dass übermittelte Informationen gemäß den nationalen Datenschutzbestimmungen behandelt werden müssen. Eine andauernde Speicherung von Datensätzen, die im SIS bereits gelöscht sind, ist allerdings nicht zwingend verboten.
Aufgrund der Beschränkung des SIS auf 18 teilnehmende Staaten und der veralteten DV-Technik, arbeitet die EU an der Errichtung eines SIS II. Infolge der "Terroristenbekämpfung" nach dem 11. September 2001 ist dabei eine qualitative Ausweitung der gespeicherten Daten vorgesehen, sowie die Einbeziehung zusätzlicher Behörden (insbes. Europol und Eurojust), die Zugang zu den gespeicherten Informationen erhalten sollen. Zugleich ist eine engere Verzahnung mit weiteren Datenbanken auf EU-Ebene, EURODAC und dem neu zu errichtenden Visa-Informationssystem, angedacht. (6)
Das SIRENE-Netzwerk wurde nach Auflösung des Vertrages mit der Betreiberfirma am 23. August 2001 durch SISNET ersetzt, wobei allerdings nicht davon ausgegangen werden kann, dass dadurch eine datenschutzrechtliche Verbesserung eingeführt wurde.
Volle Wirksamkeit erhielt das SIS aber erst dadurch, dass die Aufhebung der Binnengrenzkontrollen in den Schengen-Mitgliedsstaaten durch eine verstärkte Kontrolle des öffentlichen Raumes im Landesinneren kompensiert wurde. Innerhalb einer 30-km-Grenzzone, auf Autobahnen, in Zügen und S-Bahnen sind jederzeit verdachtsunabhängige Personenkontrollen möglich, so dass die Grenzen nicht abgeschafft, sondern eher verlagert und vervielfältigt wurden.
Weitere Bestimmungen
Außerhalb der mit dem Schengen-Abkommen verbundenen Verschärfungen und Harmonisierungen der Asyl- und Migrationspolitik der EU wurden seit den 80er Jahren aber noch weitere Bestimmungen durchgesetzt, die zur sukzessiven Abschottung der EU führten.
Eingeleitet wurden diese Maßnahmen durch die Einsetzung einer "ad hoc Gruppe Immigration", eines informell und geheim tagenden Beamtenausschusses, der Vorschläge für eine restriktivere Asyl- und Migrationspolitik erarbeitete, die dann angesichts des Balkankonfliktes und den daraus sich entwickelnden Flüchtlingsbewegungen aktuell wurden. Auf dem Ratstreffen in London im Dezember 1992 wurden daher Maßnahmen beschlossen, die eine Asylgewährung in der EU nahezu unmöglich machten und ganze Bevölkerungsgruppen vom Asylverfahren ausschlossen.
Dazu gehörten erstens die Aufnahme des Begriffes des "offensichtlich unbegründeten" Asylgesuches in den EU-Sprachgebrauch, der auf Personen Anwendung fand, die aus einem "sicheren" Herkunftsland stammten oder über einen "sicheren Drittstaat" einreisten. Allerdings blieb es dabei den einzelnen Mitgliedsstaaten überlassen, welche Staaten als sichere Drittstaaten bzw. Herkunftsstaaten angesehen wurden. So kam es, dass es keineswegs bedeutungslos war, in welchem Staat ein Asylverfahren angestrebt wurde, gleichzeitig diese Wahl aber, z.B. wegen des SDÜ (s.o.), eingeschränkt wurde. Die Londoner Beschlüsse stehen somit ganz im Zeichen der 1992 beschlossenen de facto Abschaffung des Asylrechts in der BRD.
Als nicht weniger perfide erwies sich die Einführung eines neuen Aufenthaltstitels für Flüchtlinge: das Konzept des "vorübergehenden Schutzes" (temporary residence permit), das vornehmlich auf Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien zielte. Dieser Titel erlaubt es den Aufnahmestaaten, Flüchtlinge jederzeit wieder auszuweisen. Flüchtlinge werden dabei nicht nur in einem ständigen Zustand der Unsicherheit gelassen, es werden auch alle Maßnahmen zur Integration unterlassen.
Das Konzept des vorübergehenden Schutzes verstößt dabei in gleich zweierlei Weise gegen die Genfer Flüchtlingskonvention: Erstens wird den Flüchtlingen das Recht auf zeitlich unbegrenzten Schutz genommen, und zweitens wird ihnen die durch die Genfer Flüchtlingskonvention vorgesehene rechtliche Gleichstellung von Flüchtlingen und Staatsbürgern vorenthalten.
Als Äquivalent zu diesen innenpolitischen Maßnahmen wurde auf außenpolitischer Ebene das Konzept des "Containment" (Eindämmung) verfolgt, durch das Flüchtlingsbewegungen in Richtung EU möglichst frühzeitig unterbunden werden sollten. Das Konzept des Containment basiert einerseits auf Rücknahme- und Transitabkommen mit Drittstaaten und andererseits auf der, auch erzwungenen, Verhinderung der Migration aus den Herkunftsregionen.
Rücknahme- und Transitabkommen wurden zunächst mit den osteuropäischen Beitrittskandidaten und der Türkei abgeschlossen, denen zuvor bereits die Anwendung des SDÜ als Beitrittsbedingung auferlegt wurde. Zur Demonstration der EU-Reife überbieten sich die Beitrittskandidaten dabei mit zuweilen bizarr anmutenden Erfolgsmeldungen bei der Aufgreifung illegaler Migranten, etwa wenn sich Polen rühmt, Russen aufgegriffen zu haben, die sich völlig legal mit gültigem Pass in Polen aufhalten, und erst durch eine mögliche Einreise in die EU zu illegalen Immigranten werden würden. Den Ermahnungen der EU gegenüber der Türkei, Flüchtlingsschiffe verstärkt am Auslaufen zu hindern, kam diese schließlich nach, indem vor wenigen Wochen von der türkischen Küstenwache ein Flüchtlingsschiff beschossen wurde.
Daneben wurde aber 1998 unter dem Eindruck der Anlandung von mehreren Flüchtlingsschiffen mit kurdischen Migranten aus dem Irak an Italiens Küste eine "hochrangige Arbeitsgruppe Asyl und Immigration" eingesetzt, die Aktionspläne für sechs potentielle Herkunftsregionen erarbeiten sollte (Irak/Türkei, Albanien, Somalia, Marokko, Sri Lanka und Afghanistan/Pakistan). Der zunächst ausgearbeitete Aktionsplan Irak sah u.a. vor, dass die Türkei in einem bilateralen Abkommen auch zwangsweise aus der EU abzuschiebende irakische Kurden aufnimmt, um diese dann in den Irak weiter abzuschieben. Auch bzgl. der anderen Herkunftsregionen sahen die Aktionspläne v.a. Rücknahmeabkommen, Transitvereinbarungen und die Zerschlagung von Flüchtlingsrouten vor.
Durch Rücknahmeabkommen werden Drittstaaten seit einigen Jahren systematisch unter dem ökonomischen Druck der EU in die europäische Abschiebungspraxis eingebunden, da bereits seit 1999 Rücknahmeklauseln standardmäßig in bilaterale Wirtschafts- und Assoziationsabkommen aufgenommen werden, wobei Sanktionen gegenüber kooperationsunwilligen Staaten frühzeitig mit angedacht waren. (7)
Wie zynisch diese Politik sein kann, zeigte sich bei einem Gipfel zwischen der EU und China in Peking im Oktober 2000, bei dem die EU deutlich machte, dass eine positive Bewertung des Aufnahmeantrags Chinas in die WTO von einer Eindämmung der irregulären Emigration aus China abhängig gemacht werde. Bezichtigt die EU China regelmäßig der gröbsten Menschenrechtsverletzungen, will sie gleichzeitig die Flucht aus China verhindern!
Richtig systematisch angewandt wurde die Containment-Politik jedoch erst während des Jugoslawien-Krieges 1999. Durch die Militärpräsenz in Albanien und Mazedonien gelang es der NATO, und damit indirekt der EU, die durch die Bombardierungen zumindest mittelbar ausgelösten Flüchtlingsströme aus dem Kosovo in der Region, d.h. in Nähe der Grenze zwischen Kosovo und Albanien, in hastig errichteten Sammellagern zu halten und die Einwanderung auf das EU-Territorium zu verhindern.
Durch die Präsenz von NATO-Soldaten im Verein mit Grenzsoldaten aus Italien auf albanischem Territorium konnte eine Emigration in Richtung EU wirkungsvoll verhindert werden, während gleichzeitig die NATO-Kriegsmarine in der Adria den Seeweg kontrollieren half. Da die EU die Balkan-Route als einen wesentlichen Migrationsweg ausgemacht hat, dient die andauernde Militärpräsenz in den Balkanstaaten nicht zuletzt der exterritorialen Sicherung der EU-Außengrenzen.
Auch die militärische Präsenz einiger EU-Staaten in Afghanistan dient z.T. der Eindämmungspolitik, denn schon 1998 hat die EU in einem Strategiepapier militärische Interventionen zur Verhinderung von Migrationen und Beschleunigung von Abschiebungen nicht ausgeschlossen: "Was den Schutz von Flüchtligen betrifft, so ist es auch wichtig, eine konsequente Herangehensweise an die Reintegration von Vertriebenen und Flüchtlingen in ihre Ursprungsländer zu entwickeln. Das erfordert mehr, als individuelle Hilfe für Rückkehrer und größere Anreize zur freiwilligen Heimkehr: wichtiger ist die aktive Bewahrung der Repatriierungsmöglichkeiten, wenn notwendig unter Anwendung derselben Gewaltmaßnahmen, welche die internationale Gemeinschaft einsetzt, um den Frieden zu bewahren und Konflikte zu beenden." (8)
Insgesamt zeigt sich eine sukzessive Verstärkung der Restriktionen gegenüber der Einwanderung nach Europa. Durch Einbindung von Drittstaaten strahlt das Migrationsregime der EU auf die sie umgebenden Regionen aus, wobei durch die Unterwerfung von Drittstaaten mittels einer Verklammerung von Rücknahme- und Transitabkommen mit Wirtschafts- und Handelsverträgen die neue aggressive Außenpolitik der EU deutlich zu Tage tritt.
Die Aufweichung internationaler Abkommen, insbesondere der Genfer Flüchtlingskonvention, die Aushöhlung nationaler Datenschutzbestimmungen durch EU-Verordnungen und die Aushebelung der demokratischen Kontrolle bei den einzelnen Beschlussfassungen, um Migrationen zu verhindern und Abschiebungen zu beschleunigen, zeigen ebenso deutlich die interessengeleitete Politik der EU, die mit den Beschlüssen von Sevilla ihren vorläufigen Abschluss fand.
Anzumerken ist schließlich, dass es in den letzen Jahren auch auf offizieller Ebene nicht nur zu einer semantischen Verschiebung vom "Wirtschaftsflüchtling" über "Asylmissbraucher" hin zum "illegalen Immigranten" gekommen ist, sondern die Kriminalisierung von Migranten forciert wurde. Bereits vor dem Sevilla-Gipfel wurde dies durch Zahlen von Europol unterstützt (jährlich 500.000 illegale Immigranten), die jeder Grundlage entbehren, da irreguläre Immigration sich der Natur der Sache nach jeder statistischen Erfassung entzieht und zudem die gleichzeitig stattfindende, freiwillige Abwanderung ebenso wenig mit einberechnet wurde wie die ca. 380.000 zwangsweise vollstreckten Abschiebungen, die jährlich von der EU durchgeführt werden.
Sinn machen die Veröffentlichungen der Europol-Zahlen und die Kriminalisierung von Migranten nur vor dem Hintergrund, dass die europäischen Regierungen verstärkt auf die nationale Karte setzen, um ihre Macht gegenüber den erstarkenden rechtspopulistischen und faschistischen Parteien zu erhalten. Dass dabei auf dem Rücken von Migranten genau die Politik durchgesetzt wird, die von den Rechtsextremen gefordert wird, spielt anscheinend keine Rolle.
Anmerkungen
1) KOM (2001) 672 endg., "Mitteilung der Kommission an den Rat und das europäische Parlament über eine gemeinsame Politik auf dem Gebiet der illegalen Einwanderung"
2) KOM (2002) 175 endg., "Grünbuch über eine Gemeinschaftspolitik zur Rückkehr illegal aufhältiger Personen"
3) New York Times, 25. Dezember 2000
4) Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) von 1990, Artikel 99
5) Presidency Conclusions, Seville, 21 and 22 June 2002, §36 (eigene Übersetzung)
6) KOM (2001) 720 endg., "Mitteilung der Kommission an den Rat und das europäische Parlament. Die Entwicklung des Informationssystems Schengen II"
7) vgl. Arbeitsgruppe Migration: Strategy on migration and asylum policy, (1999) 6097/99, MIGR 18, 12. April 1999
8) Ratspräsident "Strategy Paper on Immigration and Asylum Policy", (1998) 9809/98, CK4 27, ASIM 170; § 131 (eigene Übersetzung)