Fall Stephan Neisius:
Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Polizeimisshandlung mit Todesfolgen nur wegen Körperverletzung im Amt
Von Elisabeth Zimmermann
24. Juli 2002
Obwohl der 31-jährige Stephan Neisius am 24. Mai dieses Jahres an den Folgen der schweren Verletzungen starb, die ihm zwei Wochen zuvor in Köln bei einem Polizeieinsatz zugefügt worden waren, ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen die verantwortlichen Polizeibeamten nur wegen des relativ geringen Vergehens der Körperverletzung im Amt. Dies gaben die Staatsanwaltschaft und Polizei Köln am 26. Juni in einer gemeinsamen Presseerklärung bekannt.
Sie begründeten dies mit einem rechtsmedizinischen Gutachten, das sie als Entlastung der beschuldigten Polizeibeamten werteten. "Die von den beschuldigten Polizeibeamten gegen Stephan N. gerichteten Gewaltanwendungen haben keine tödlichen Verletzungen hervorgerufen," heißt es in der Presseerklärung. Stattdessen wird der psychische Erregungszustand von Stephan N., der sich vor dem Eintreffen der Polizisten in seiner Wohnung heftig mit seiner Mutter gestritten hatte, als Hauptgrund für das plötzliche Herz- und Kreisverlaufversagen mit Todesfolge angeführt.
Laut der Erklärung von Polizei und Staatsanwaltschaft war der spätere Todeseintritt nicht vorhersehbar, auch wenn nicht auszuschließen sei, "dass dieser Anspannungs- und Stresszustand durch die Handlungsweisen der Polizeibeamten verstärkt und aufrechterhalten worden sein könnte". Da der spätere Todeseintritt angeblich nicht vorhersehbar war, sei er auch nicht fahrlässig herbeigeführt worden.
Diese Interpretation des rechtsmedizinischen Gutachtens wurde inzwischen von mehreren Seiten in Frage gestellt.
Der Redaktion des ARD-Fernsehmagazins Monitor lag das Gutachten vor, sie durfte daraus allerdings aus rechtlichen Gründen nicht zitieren. Sie legte es aber einem Experten zur Begutachtung vor, der zu einer ganz anderen Bewertung als die Kölner Staatsanwaltschaft und Polizei kam.
Klaus Bernsmann, Professor für Strafrecht, erklärte in der Monitor-Sendung vom 4. Juli: "Aus dem Gutachten geht meines Erachtens hervor, dass es ein Zusammenwirken von drei Ursachen war, die den Tod des Opfers herbeigeführt haben. Erstens, die psychische Verfassung des Opfers insgesamt, der möglicherweise sich in einem psychotischen Schub befand. Zweitens, die Art und Weise des Vorgehens der Polizei, die diese Erregung, die bestand, noch vergrößert hat. Das heißt, man hat das Opfer geschlagen, getreten und auch ansonsten nicht sonderlich freundlich behandelt. Und drittens, die Art des Transports des Opfers. Das heißt, seine Fixierung auf dem Bauch liegend und damit die Atmung erheblich erschwerend, weil Polizeibeamte offensichtlich auf seinem Rücken gesessen, gelegen und auch sonst auf ihn eingewirkt haben. Und damit die Atmung zusätzlich erschwert haben. Das hat offenbar zu dem eingetretenen Erstickungstod geführt."
Weiter erklärte Professor Bernsmann in der Sendung: "Ich entnehme dem Gutachten, dass jedenfalls der rechtsmedizinische Sachverständige durchaus von der Vorhersehbarkeit ausgeht. Die Art der Fixierung ist für ihn genügender Grund anzunehmen, dass auch ein Erstickungstod vorhersehbar war."
Auch der Freundeskreis von Stephan Neisius um die Theatergruppe Gebäude 9 in Köln, bei deren Aufbau er mitgearbeitet hatte, nahm auf seiner Internetseite zu den Problemen des gerichtsmedizinischen Gutachtens Stellung. (siehe: http://www.gebaeude9.de/neisius.html)
Dort wird hervorgehoben, dass die Polizeibeamten sehr wohl über den problematischen Gesundheitszustand von Stephans Neisius informiert waren. Dessen Mutter hatte sie ausdrücklich auf seine gesundheitlichen Probleme aufmerksam gemacht. Durch das weitere Vorgehen der Polizeibeamten sei der Tod von Stephan Neisius zumindest fahrlässig in Kauf genommen worden.
Auch die von der Familie eingeschalteten Anwälte stellten die Einschätzung des Gutachtens durch Polizei und Staatsanwaltschaft Köln in Frage und luden zu einer eigenen Pressekonferenz am 18. Juli in Köln ein. Sie erklärten, dass sie "diese Schlussfolgerung und Bewertung für rechtlich und tatsächlich falsch erachten" und "dass die gemeinsame Öffentlichkeitsarbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft den Verdacht einer befangenen Ermittlung entstehen lässt".
Der Tod von Stephan Neisius hatte weit über Köln hinaus Aufmerksamkeit erregt.
Der 31-Jährige war festgenommen worden, nachdem Nachbarn aufgrund eines lauten Streits mit seiner Mutter die Polizei gerufen hatten. Sowohl während der Verhaftung als auch anschließend in der Kölner Innenstadtwache Eigelstein wurde er durch Polizeibeamte schwer misshandelt. Nachdem er bereits an Händen und Füßen gefesselt war, traten und schlugen fünf bis sechs Beamte auf den hilflos am Boden liegenden Mann ein. Dann wurde er - noch immer in gefesseltem Zustand - zur zwangsweisen Blutabnahme ins Marienhospital gebracht. Dabei fiel er ins Koma, aus dem er nicht wieder erwachte.
Eine Polizistin und ein Polizist, die in der betreffenden Nacht in der Eigelstein-Wache Dienst hatten, vertrauten sich am nächsten Tag ihrem Vorgesetzten an und berichteten über die Vorkommnisse, die zu den schweren inneren und äußeren Verletzungen mit tödlichen Folgen geführt hatten. Regionale und überregionale Zeitungen und Fernsehsender berichteten über den Fall.
Einen Tag nach dem Tod von Stephan führten Freunde und Unterstützer vor der Polizeiwache Eigelstein eine Protestkundgebung durch und forderten eine vollständige Aufklärung. Amnesty international wandte sich an den Justiz- und Innenminister von Nordrhein-Westfalen Fritz Behrens (SPD) und forderte eine schnelle, sorgfältige und unparteiische Untersuchung sowie eine Kopie des Autopsieberichts. Des weiteren verlangte die Menschenrechtsorganisation, über die Erkenntnisse der polizeiinternen Untersuchungskommission und der Staatsanwaltschaft auf dem Laufenden gehalten zu werden.
Um die Empörung zu dämpfen, versprachen Polizei und Staatsanwaltschaft eine rückhaltlose Aufklärung. Gegen die an der Verhaftungsaktion beteiligten Polizisten wurden Ermittlungen wegen Körperverletzung mit Todesfolge eingeleitet. Beim rechtsmedizinischen Institut der Kölner Universität wurde ein Gutachten in Auftrag gegeben, um die Todesursache festzustellen.
Doch nun droht das Verfahren denselben Lauf zu nehmen wie zahlreiche frühere gegen Polizisten, denen in Köln - aber auch in anderen Großstädten und sozialen Brennpunkten - Misshandlungen vorgeworfen wurden.
Das Fernsehmagazin Monitor berichtete in der Sendung vom 4. Juli, dass die Kölner Staatsanwaltschaft im letzten Jahr 270 Mal gegen Polizisten wegen Körperverletzung im Amt ermittelt hat. Bis heute kam es in keinem Fall zur Anklage. Allein auf der Polizeiwache Eigelstein hat es in den letzten Jahren 37 Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte gegeben. Sie wurden aber alle wieder eingestellt, weil die Opfer keine Beweise oder Zeugen für ihre Misshandlungen beibringen konnten, oder weil beschuldigte Polizisten durch ihre Kollegen und Vorgesetzten gedeckt wurden.
Ein Termin für die Eröffnung des Prozesses gegen die an den Misshandlungen von Stephan Neisius beteiligten Polizeibeamten, bei dem die Familie des Opfers als Nebenkläger auftritt, steht noch nicht fest.