Der verdrängte Völkermord an den Armeniern - seine Ursachen und Folgen
Teil 2: Die nationale Frage im Osmanischen Reich und der Völkermord an den Armeniern
Von Alexander Boulerian
31. Mai 2001
Schätzungsweise 1,5 Millionen Armenier wurden in den Jahren 1915/16 im damaligen Osmanischen Reich gezielt ermordet. Den Plan zur Vernichtung der armenischen Minderheit hatte das nationalistische Jungtürken-Regime bereits lange zuvor beschlossen. Rund die Hälfte der Opfer wurden an ihren Wohnorten ermordet, der andere Teil auf Deportationszügen zu Tode geschunden. Hitler war fasziniert von dem Genozid - weil schon bald niemand mehr davon sprach. Der türkische Staat will bis heute nicht an den Völkermord erinnert werden.
Der erste Teil befasste sich mit der aktuellen Debatte um die Anerkennung des Völkermords. Dieser zweite und der dritte Teil setzen sich mit den historische Ereignissen auseinander.
Als ein Militärputsch im Juli 1908 das autokratische Regime des Sultans Abdülhamits II. beendete, schien auch für die armenische Minderheit im Osmanischen Reich eine neue Ära anzubrechen. Nicht nur in Konstantinopel kam es zu spontanen Verbrüderungsszenen zwischen Türken und Armeniern.
Unter Überfällen kurdischer Nomaden hatten die Armenier bereits vor Abdülhamit zu leiden. Diesem jedoch blieb es vorbehalten, die antichristlichen Ressentiments der moslemischen Bevölkerung systematisch gegen die Armenier einzusetzen. Als "roter" Sultan - rot vom vergossenen Blut Tausender Armenier - ging Abdülhamit in die Geschichtsschreibung ein.
Noch vor dem Römischen Reich erhob Armenien im Jahr 301 das Christentum zur Staatsreligion. Wie auch andere altorientalische Kirchen, insbesondere die für Armenien maßgebliche Kirche von Antiochia ("syrisch-orthodox"), lehnten die Armenier die Konzilsbeschlüsse von Chalcedon 451 ab und befanden sich fortan als "Schismatiker" im Konflikt mit der byzantinischen Reichskirche. Seit dem 17. Jahrhundert standen neun Zehntel des armenischen Siedlungsgebiets ("Armenisches Hochland") unter osmanischer Herrschaft. Wie die übrigen Christen und auch die Juden waren die armenischen Christen rechtlich und steuerlich benachteiligt; als angeblich nicht vertrauenswürdig wurden Nicht-Muslime vom Staat und Militär ausgeschlossen - mussten aber für diesen Ausschluß auch noch eine Sondersteuer zahlen. Als "Glaubensnation" (millet) nach der Definition des islamischen Gewohnheitsrechts (schariat) besaßen sie zwar seit 1864 Autonomie in religiösen und schulischen Angelegenheiten, doch nur insoweit, als nicht Belange des osmanischen Staates oder muslimischer Bürger berührt wurden.
Die angebliche Toleranz der Osmanen bestand darin, den unterworfenen Nichtmuslimen die innere Verwaltung aufzubürden. Die eroberten Völker sollten Landwirtschaft, Handel und Industrie entwickeln, deren Früchte die Eroberer ernteten. So stellten die Armenier - in ihrer Mehrzahl Bauern - in den Städten nahezu alle Handwerker und beherrschten neben Griechen, Juden und Levantinern Handel und Geldwesen, denn diese Bereiche waren für gläubige Muslime tabu.
Den Türken an Bildung im Durchschnitt weit überlegen, blieben die Armenier im Osmanischen Reich dennoch inferiore Rajahs ("Vieh"), d. h. eroberte Ungläubige und damit Bürger zweiter Klasse, denen der Besitz von Waffen und jeder Anschein von Luxus verboten war. Sie litten nicht nur unter Überfällen und Raubzügen nomadisierender Kurden, deren Lebensraum sich mit den armenischen Siedlungsgebieten im Osten des Osmanischen Reichs überschnitt. Auch in Prozessen hatten sie kaum eine Chance, galt das Zeugnis eines Ungläubigen doch prinzipiell weniger als dasjenige eines Muslim. Zusätzlich zu den üblichen Steuern hatten die Männer eine Kopfsteuer zu entrichten, zu der später noch die Steuer für die Freistellung vom Militärdienst kam, von dem Armenier ausgeschlossen waren. Nach Abzug all dieser Steuern blieb dem armenischen Bauern gerade noch ein Drittel seiner Ernte zum eigenen Überleben.
Die Hamidije - Sturmabteilungen des Sultans
In dieser Situation musste das Eindringen bürgerlich-fortschrittlicher Ideen, vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dazu führen, dass die Forderung nach rechtlicher Gleichstellung und nationaler Selbstbestimmung unter armenischen Intellektuellen laut wurde. Obwohl nur eine Minderheit die Vereinigung Türkisch-Armeniens mit dem russischen Teil Armeniens forderte, wurden die Armenier für den unter Verfolgungswahn leidenden Abdülhamit mehr und mehr zum roten Tuch. Die Niederlage des Osmanischen Reiches im russisch-türkischen Krieg 1877/78 brachte das Fass zum Überlaufen. Der Sultan, der die Überwachung und Bespitzelung seiner Untertanen zur Perfektion trieb, witterte hinter jeder auch noch so schwachen Regung armenischen Freiheitsstrebens Hochverrat, in jedem Armenier sah Abdülhamit einen russischen Agenten. Seine Angst galt dem möglichen Zusammenschluss der russischen und türkischen Armenier in einem eigenen armenischen Staat.
Geschickt nutzte der Sultan die traditionellen Gegensätze zwischen nomadisierenden Kurden und ackerbauenden Armeniern. Mit den von ihm geschaffenen Hamidije-Regimentern, einer nach dem Vorbild russischer Kosakeneinheiten aufgebauten kurdischen Kavallerie, schuf sich Abdülhamit 1891 eine Streitmacht, die vordergründig die türkisch-russische Grenze sichern sollte, deren eigentliche Aufgabe jedoch in der brutalen Unterdrückung und Verfolgung der Armenier bestand. Voll zum Einsatz kamen die Hamidije-Einheiten bei den Armeniermassakern von 1895 und 1896, die von der "Hohen Pforte" zentral organisiert wurden und bei denen über 100.000 Armenier den Tod fanden.
Bereits Jahrzehnte vor den Massakern hatte sich die Situation der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich massiv verschlechtert. Eine im Dezember 1876 zur Beschwichtigung der "europäischen Mächte" mit großem Pomp verkündete liberale Verfassung, die allen Bürgern die Grundrechte und freie Religionsausübung garantierte, setzte der Sultan schon 14 Monate später wieder außer Kraft.
Im Berliner Vertrag, dem Abschlussprotokoll des Berliner Kongresses (13. Juni bis 13. Juli 1878), der den Ausgangspunkt für die weitere Zerstückelung der Türkei und für die Entwicklung des Kampfes um das osmanische Erbe bildete, forderten die europäischen Mächte u. a. im Artikel 61 Reformen in Armenien durchzuführen: "Die hohe Pforte verpflichtet sich, ohne weiteren Zeitverlust die Verbesserungen und Reformen ins Leben zu rufen, welche die örtlichen Bedürfnisse in den von Armeniern bewohnten Provinzen erfordern, und für die Sicherheit derselben gegen die Tscherkessen und Kurden einzustehen. Sie wird in bestimmten Zeiträumen von den zu diesen Zwecke getroffenen Maßregeln der Mächte, welche die Ausführung derselben überwachen werden, Kenntnis geben."
Doch "obwohl sich Europa das Recht vorbehielt, die Einführung dieser Reformen zu überwachen, verschlechterte sich die Lage... mit jedem Jahr mehr und mehr und führte sogar mehrmals zu blutigen Aufständen, da die Durchsetzung der Reformen der Türkei selbst überlassen blieb", bemerkte Trotzki in einem zeitgenössischen Artikel. (1)
Die Intrigen der Großmächte haben entscheidend dazu beigetragen, jene Pogrome, Massaker, Kriege und Vertreibungen zu provozieren, denen im Verlauf von vier Jahrzehnten Millionen Angehörige nationaler Minderheiten - Armenier, Griechen, Serben, Albaner usw. - aber auch Türken zum Opfer fielen. (2) So führt eine direkte Linie von der Konferenz von Konstantinopel (Dez. 1876-Jan. 1877) und dem Londoner Protokoll (31. März 1877) über den russisch-türkischen Friedensvertrag von St. Stefano (3. März 1878), der die vollständige Kapitulation der Türkei bedeutete und dem Berliner Vertrag unmittelbar vorausging, zum Armeniermassaker von 1894-1896. (3) Alle von den Großmächten diktierten Verträge - von St. Stefano und Berlin (1878) bis hin zu Sèvres (1920) und Lausanne (1923) - hatten die imperialistische Unterjochung der Türkei zum Ziel und standen daher einer demokratischen Entwicklung diametral entgegen.
Die jungtürkische Revolution
Die Bewegung der sogenannten Jungtürken entwickelte sich in Opposition gegen die imperialistische Zerstückelung der Türkei und die Unfähigkeit des feudal-klerikalen Sultan-Regimes, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten.
Als die jungtürkischen Revolutionäre 1908 Abdülhamit absetzten und eine Republik nach westlichem Vorbild anstrebten, schien sich auch für die christlichen Nationen des Osmanischen Reiches das Blatt zu wenden, denn unter anderem setzten die neuen Machthaber die Verfassung von 1876 wieder in Kraft. Doch die Opposition gegen den Despoten Abdülhamit und konstitutionalistische Motive erwiesen sich schon bald als unzureichend, um die ideologisch heterogenen Kräfte der Revolution zusammenzuhalten. Innerhalb der konstitutionalistischen revolutionären Bewegung dominierte, nach einem Staatsstreich im Juli 1908, die Gruppe die sogenannten Ittihadisten (die gewöhnlich als Jungtürken bezeichnet werden). Ihre seit 1870 bestehende Bewegung - seit 1889 als illegale Partei "Komitee für Einheit und Fortschritt" (Ittihad ve Terakki) - stützte sich vor allem auf Offiziere, Intellektuelle und Beamte.
Die führende Rolle der Offiziere und Beamten in der jungtürkischen Revolution erklärt sich aus den Eigenheiten des türkischen Staates, der seiner Tradition nach im wesentlichen ein Militärstaat war. Bei all seinem Widerstand gegen den historischen Fortschritt war der Sultanspalast dazu gezwungen, "seine Armee wenigstens bis zu einem gewissen Grade zu europäisieren und Kräften der Intelligenz Zugang zur Armee zu ermöglichen", bemerkt Trotzki in einem zeitgenössischen Artikel. "Diese Kräfte ließen nicht auf sich warten. Die gering entwickelte türkische Industrie und die noch junge städtische Kultur eröffneten der türkischen Intelligenz fast keine andere Laufbahn als die eines Offiziers oder eines Beamten. Somit organisierte der Staat in seinem Schoß die kämpferische Vorhut der sich herausbildenden bürgerlichen Nation: eine denkende, kritisierende und unzufriedene Intelligenz". (4)
Als bürgerliche Partei setzten sich die Ittihadisten für die konstitutionelle Monarchie und für bürgerliche Reformen ein. Außenpolitisch erstrebten sie ein großtürkisches Reich unter Eingemeindung sämtlicher Turkvölker bis Nordchina. Innenpolitisch steuerten sie die Kontrolle der bis dahin von den Islamisten vernachlässigten und verachteten Kapitalwirtschaft an.
Die jungtürkische Revolution hatte in dieser Hinsicht durchaus einen fortschrittlichen, bürgerlich-nationalen Charakter. Lenin wie Trotzki bezeichneten die Machtübernahme der Jungtürken im Jahr 1908 deshalb als "bürgerliche Revolution". (5) In seinem bereits zitierten Artikel analysierte Trotzki: "Ihren Aufgaben nach (wirtschaftliche Selbständigkeit, national-staatliche Einheit und politische Freiheit) ist die türkische Revolution die Selbstbestimmung der bürgerlichen Nation und knüpft in diesem Sinne an die Traditionen von 1789-1848 an. Das ausführende Organ der Nation jedoch war die Armee, die vom Offizierskorps geführt wurde, - und das verlieh den Ereignissen sofort den planmäßigen Charakter von militärischen Manövern. Es wäre allerdings blanker Unsinn... in den türkischen Ereignissen vom Juli des vergangenen Jahres [1908] ein einfaches Pronuntiamento zu sehen... Die Stärke des türkischen Offizierskorps und das Geheimnis seines Erfolgs bestehen nicht in einem genialen Organisationsplan', nicht in einer diabolisch schlauen Konspiration, sondern in einer aktiven Sympathie seitens der fortschrittlichen Klassen: der Kaufleute, der Handwerker, der Arbeiter, eines Teiles der Beamten und der Geistlichen sowie letztlich des Dorfes in Gestalt der Bauernarmee." (6)
Trotzki machte sich allerdings keinerlei Illusionen über die Fähigkeit der Jungtürken, die demokratischen Aufgaben der bürgerlichen Revolution zu lösen. Er sah im selben, 1909 entstandenen Artikel auch schon ihre kommende Rechtsentwicklung voraus: "Aber all diese Klassen bringen außer ihrer Sympathie auch ihre Interessen, Forderungen und Hoffnungen mit. Alle lange unterdrückten sozialen Leidenschaften treten nunmehr offen zutage, da das Parlament für sie ein Zentrum geschaffen hat. Bitter enttäuscht werden diejenigen sein, die denken, die türkische Revolution sei schon zu Ende. Und zu den Enttäuschten wird nicht nur Abdul-Hamid gehören, sondern offenbar auch die Partei der Jungtürken." (7)
Für Trotzki stand außer Frage, dass die Aufgaben der demokratischen Revolution nur gelöst werden konnten, wenn der Unterwerfung der Türkei durch die imperialistischen Mächte Großbritannien, Frankreich, Österreich-Ungarn und Russland, die untereinander bei der Lösung der "orientalischen Frage" rivalisierten, Einhalt geboten wird. Zur Zerstückelung des Osmanischen Reiches durch die imperialistischen Mächte bemerkt Trotzki: "Bei der Aufteilung der Türkei war kein Ende abzusehen. Dabei ist ein ausgedehntes und in wirtschaftlicher Hinsicht einheitliches Territorium eine unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung der Industrie. Das bezieht sich nicht nur auf die Türkei, sondern auch auf den gesamten Balkan. Nicht die nationale Vielfalt, sondern die Zersplitterung in Einzelstaaten hängt über ihm wie ein Fluch. Die Zollgrenzen zerschneiden ihn künstlich in Teile. Die Ränke der kapitalistischen Mächte verflechten sich mit den blutigen Intrigen der Balkandynastien. Werden diese Bedingungen beibehalten, bleibt der Balkan auch weiterhin eine Büchse der Pandora." (8)
Trotzki sah nur eine Möglichkeit, wie der Erhalt "eines in wirtschaftlicher Hinsicht einheitlichen Territoriums" und die Verteidigung der Türkei gegen die räuberischen Bestrebungen der Großmächte mit dem Selbstbestimmungsrecht der im Osmanischen Reich unterdrückten Nationalitäten vereinbart werden konnte: "Nur ein einheitlicher Staat aller Balkannationalitäten auf demokratisch-föderativer Grundlage - nach dem Muster der Schweiz oder der Nordamerikanischen Republik - kann eine innere Beruhigung auf dem Balkan bringen und die Voraussetzungen für eine machtvolle Entwicklung der Produktivkräfte schaffen." (9) Das galt nicht nur für den Balkan, sondern in übertragenem Sinne auch für Anatolien, die arabische Welt und den - zwischen der Türkei und Russland umkämpften - Kaukasus.
Die Jungtürken, die sich aus den oben beschriebenen Gründen hauptsächlich aus dem Offizierskorps rekrutierten und enge Verbindungen zu Großgrundbesitz und Bourgeoisie hatten, waren zu einer solchen Lösung organisch unfähig. Ihr Klassenstandpunkt brachte sie unweigerlich in Gegensatz zu den Bedürfnissen der Massen - der Bauern, Arbeiter und unterdrückten Nationalitäten - und trieb sie zurück in die Arme der Großmächte. Das Jungtürken-Regime - sowohl in seiner ursprünglichen Form unter dem Triumvirat Enver, Talaat und Cemal als auch in seiner späteren Variante unter Kemal "Atatürk" - unterschied sich in dieser Hinsicht nicht grundsätzlich von anderen bürgerlich-nationalistischen Regimen im 20. Jahrhundert, deren Unfähigkeit, die Aufgaben der demokratischen Revolution zu lösen, Trotzki in seiner Theorie der permanenten Revolution verallgemeinert hat.
Als Verfechter eines türkischen Einheitsstaats gerieten die Jungtürken unweigerlich in Gegensatz zu den Autonomiebestrebungen der nationalen Minderheiten. Hier liegt der Grund, weshalb erst Enver und nach anfänglichem Zögern auch Kemal zu den Methoden des Sultans zurückgriffen und die Nationalitätenfrage durch Massaker und Völkermord "lösten". Auch dies hat Trotzki 1909 deutlich vorausgesehen: "Die Jungtürken aber lehnen diesen Weg [eines einheitlichen Staats auf demokratisch-föderativer Grundlage] entschieden ab. Als Vertreter der herrschenden Nationalität, die die Armee hinter sich haben, wollen sie nationalistische Zentralisten sein und bleiben. Ihr rechter Flügel lehnt sogar die Selbstverwaltung in den Provinzen konsequent ab. Der Kampf gegen die mächtigen zentrifugalen Tendenzen macht die Jungtürken zu Verfechtern einer starken Zentralgewalt und drängt sie zu einem Abkommen mit dem Sultan quand même. Das bedeutet, dass sich der rechte Flügel der Jungtürken, sobald im Rahmen des Parlamentarismus das Knäuel der nationalen Gegensätze aufgerollt wird, offen auf die Seite der Konterrevolution stellt." (10)
Vorspiel zum Völkermord
Weil die liberal-reformerischen gegenüber den nationalistischen Zielen bei der Machtübernahme der Jungtürken 1908 zu überwiegen schienen, erhielten viele jungtürkische Führer, als sie nach einem islamisch-fundamentalistischen Gegen-Aufstand im April 1909 fliehen mussten, Unterschlupf bei armenischen Freunden. Die Jungtürken dankten es den Armeniern auf ihre Weise. An die Macht zurückgekehrt, entwickelte sich die Ittihad-Partei mehr und mehr nach rechts. Für Gleichheit im Sinne der Französischen Revolution, für die sich die Jungtürken in Worten begeisterten, war in der pantürkischen Ideologie kein Platz mehr. Autonomie, wie sie die Armenier vor dem Putsch von 1908 gefordert hatten, war für die Jungtürken gleichbedeutend mit Separation - und Separation bedeutete für sie Verrat.
Die ethnische Homogenisierung erschien ihnen als sicherstes Mittel zur Wahrung des osmanischen Besitzstandes: "Das Osmanische Reich muss ausschließlich türkisch sein, die Existenz fremder Elemente bietet einen Vorwand für europäische Interventionen. Diese Elemente müssen mit Waffengewalt türkisiert werden", hatte der jungtürkische Führer Mehmed Nazim bereits im April 1909 kurz nach einem Massaker in Adana, wo unter Beteiligung von Regierungstruppen innerhalb von zwei Tagen 30.000 Armenier getötet worden waren. Im November 1911 wurde Nazims Erklärung Teil des offiziellen Programms des "Komitee für Einheit und Fortschritt". Durch die Gebietsverluste im Balkankrieg 1912/1913 (Verlust Bulgariens, Bosniens, der Herzegowina und Kretas) erhielt dieser pantürkische Nationalismus weitere Nahrung. Nach einem weiteren Putsch 1913 im Besitz der alleinigen Regierungsgewalt, verbot das "Komitee für Einheit und Fortschritt" de facto alle anderen politischen Parteien.
Das brutale Vorgehen der Jungtürken gegen Armenier, Griechen, Kurden und andere nationale Minderheiten, aber auch gegen türkische Bauern, Arbeiter und oppositionelle Strömungen entsprang ihrem Charakter als Vertreter der nationalen Bourgeoisie in einem zurückgebliebenen Land. Sie glichen in dieser Hinsicht der Kuomintang Tschiang Kaischeks und ähnlichen Bewegungen in anderen Ländern. Solche Bewegungen reagieren in der Regel mit äußerster Brutalität auf Druck von unten und verbünden sich dabei nicht selten mit der imperialistischen Reaktion.
Dieselbe bürgerliche Beschränktheit wie die Jungtürken kennzeichnete allerdings auch die Führer der nationalen Minderheiten des Osmanischen Reichs. Keine dieser Bewegungen, einschließlich der armenischen, war in der Lage, die Bauernbevölkerung auf der Grundlage eines demokratischen Programms zu mobilisieren. Sie appellierten deshalb zunehmend hemmungslos an sprachliche und/oder religiöse Unterschiede. Die Armenier, Mazedonier, Bulgaren, Serben etc. forderten die Intervention der Großmächte (zum Teil war sogar von "Kreuzzügen!" die Rede) zu ihren Gunsten. Wie sie auf dem Balkan unter der moslemischen Bevölkerung wüteten, hat Trotzki in seinen Artikeln zu den Balkankriegen beschrieben.
Die Vorwände zum Völkermord
Am 2. August 1914 schlossen der deutsche Botschafter Wangenheim und Großwesir Said Halim in Gegenwart von Kriegsminister Enver und Innenminister Talaat einen Beistandspakt. Mit Envers Einverständnis provozierten die Deutschen Ende Oktober durch Beschuss von russischen Kriegsschiffen und Kriegsanlagen den Kriegseintritt der Türkei, deren Truppen zu diesem Zeitpunkt bereits mobilisiert waren. Ihre Waffenbrüderschaft ließ sich die türkische Regierung vom Deutschen Reich mit der stolzen Summe von 56.255.800 Mark (fast ausschließlich in Gold) teuer bezahlen.
Als die armenischen Führer auf dem 8. Parteitag der sozialrevolutionären Daschnaken-Partei Anfang August 1914 das jungtürkische Ansinnen zurückwiesen, unter ihren Landsleuten im Transkaukasus einen Aufstand gegen die Russen anzuzetteln, sprachen die Jungtürken von "Verrat".
Die 1890 gegründete Partei "Daschnakzutjun" ("Föderation") war ursprünglich eine Partei der armenischen national-revolutionären Bourgeoisie, die den Kampf für die nationale Befreiung und für die armenische Nationalstaatlichkeit auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Sie stellte sich den bewaffneten Aufstand der Armenier zur Aufgabe und forderte u. a., landlosen Bauern Grund und Boden zuzuteilen. Auf ihrem 2. Parteitag 1898 wurde der Terror als eines der wichtigsten Kampfmittel anerkannt. In der Folge schlossen sich Teile der Daschnaken, die Jungdaschnaken, im wesentlichen dem Programm der russischen Sozialrevolutionäre an. Einzelne Arbeiter traten zur RSDAP oder zur relativ einflussreichen armenischen Sozialdemokratischen Partei über oder reihten sich in die Hintschak ein. Seit ihrem 3. Parteitag (1907) forderte die Daschnakzutjun u.a. die Sozialisierung des Bodens, die Bildung einer demokratischen Unionsrepublik im Kaukasus mit einer föderativen Bindung an Russland, das allgemeine Wahlrecht und den 8-Stunden-Tag.
Ein in vielen Punkten ähnliches Programm vertrat die "Armenische Sozialdemokratische Partei Hintschak" ("Glocke"), die 1886 in Genf gegründet wurde. Sie forderte die Bildung eines autonomen Armeniens durch einen revolutionären Aufstand, danach die Zuteilung von Grund und Boden an landlose Bauern u.a. Bei allen armenischen Aufständen spielten die Hintschak eine wichtige Rolle.
Unter dem Einfluss der revolutionären Ereignisse in der Türkei, des Weltkriegs und der russischen Revolution kam es unter den politischen Strömungen der Daschnaken und Hintschaken zu einer raschen politischen Differenzierung. Sowohl Daschnakzutjun wie Hintschak unterstützten anfänglich die jungtürkische Revolution, gerieten dann jedoch in offene Opposition zu den Jungtürken. So riefen die Daschnaken während der Balkankriege die türkischen Soldaten zur Fahnenflucht auf, im Ersten Weltkrieg organisierten sie Partisanengruppen zum Kampf gegen die Türken. Unter dem Kommando der Hintschak wiederum organisierte der Führer der armenischen Aufständischen, Andranik, eine "Abteilung der Rache" und führte im Hinterland der türkischen Armee einen Partisanenkrieg. Während des Ersten Weltkriegs kämpften Abteilungen der Hintschak gegen die Türken im Kaukasus. Nach der Oktoberrevolution spielte die Daschnakzutjun eine offen konterrevolutionäre Rolle. Im ehemals russischen Armenien gelangten sie vorübergehend an die Macht, die sie allerdings im Herbst 1920 infolge eines Arbeiter- und Bauernaufstands wieder verloren. Eine größere politische Rolle spielte die Daschnazutjun erst wieder nach der Auflösung der Sowjetunion. Anders als die Daschnaken erkannten die Hintschaken die Sowjetmacht nach der russischen Revolution zwar verbal an, führten gleichzeitig jedoch in ihrer Emigrantenpresse eine Kampagne gegen Sowjetarmenien.
Die Furcht, dass Armenien zum Einfallstor für Russland nach Anatolien werden könnte, entsprach also keineswegs nur türkischer Phantasie. Schon der Vertrag von St. Stefano hatte ausgerechnet das zaristische Russland mit der Überwachung demokratischer Reformen in Armenien und der Bürgschaft für die Sicherheit der Armenier beauftragt, was wiederum die Briten beunruhigte, die nun ihrerseits versuchten, Armenien zu einer Bastion gegen die russische Expansion auszubauen. (11) (Die armenische Republik entstand schließlich im Mai 1918 als Vorposten der Briten und Franzosen, bevor Teile Armeniens durch türkische und später britische Truppen okkupiert wurden.) Aus der Sicht der Jungtürken hatte der Vorwurf des "Verrats" gegen die um Autonomie bzw. Nationalstaatlichkeit ringende bürgerliche armenische Opposition daher durchaus ihre Berechtigung.
Nach der von Kriegsminister Enver verschuldeten katastrophalen Niederlage gegen die Russen bei Sarikamis im Januar 1915 mehrten sich die gesteuerten Meldungen, wonach sich die Armenier gegen die Türken "verschworen" hätten. Die verheerenden militärischen Niederlagen gegen Russland, tatsächlich das Resultat einer stümperhaften Kriegsführung, dienten dem Triumvirat Talaat, Enver und Cemal schließlich als Anlass, um mit den Armeniern kurzen Prozess zu machen. Vereinzelte Aktionen von Gegenwehr der bis aufs Blut gequälten armenischen Bevölkerung (so in Zeitun und Van im April bzw. Mai 1915) benutzte die Regierung als Vorwand für alle folgenden, längst beschlossenen Maßnahmen. Die wenigen, lokal beschränkten Versuche armenischer Selbstverteidigung fanden als türkische "Dolchstoßlegende" Eingang in die offizielle Geschichtsschreibung.
Von einer direkt dem Zentralkomitee der jungtürkischen Partei unterstellten "Sonderorganisation" zentral gesteuert, setzten im Frühjahr 1915 im gesamten Osmanischen Reich Deportationen ein. Als kriegsbedingte Umsiedlungen getarnt, dienten diese nur einem Zweck: der Ausrottung sämtlicher armenischer Bürger. Innerhalb von nur eineinhalb Jahren wurden 2 der 2,5 Millionen Armenier im Osmanischen Reich aus ihrer Heimat, aus ihren Häusern vertrieben und zu Fußmärschen gezwungen, die so gestaltet waren, dass die Menschen massenhaft an Hunger, Erschöpfung und an Seuchen starben, wenn sie nicht schon am Beginn des Weges massakriert wurden. Schwerverbrecher erhielten Haftverschonung und wurden von der "Sonderorganisation" zu Todesschwadronen (çetes) rekrutiert, um die Deportiertenkonvois und vor allem die armenischen Männer zu dezimieren. Vergewaltigungen und bestialische Morde waren an der Tagesordnung. Ziel des ganzen Unternehmens: Vernichtung des armenischen Volkes - "Verbannung ins Nichts" - wie es der damalige Innenminister und Kopf des regierenden Triumvirats, Talaat Pascha, in einem zeitgenössischen Telegramm formulierte.
Die Etappen der Vernichtung
Am 24./25. April 1915 wurden bei einer Großrazzia in der Hauptstadt Konstantinopel mehr als 600 armenische Intellektuelle festgenommen und ins Landesinnere deportiert, wo man sie in Gefängnissen zu Tode folterte, wenn sie nicht bereits auf dem Transport getötet wurden. Entwaffnet, in Arbeitsdienst-Bataillonen zusammengefasst und nach und nach beseitigt wurden auch die in der Osmanischen Armee dienenden armenischen Soldaten. In Zeitun beginnend, erfassten die Vernichtungsaktionen zunächst den Osten, dann den Westen und schließlich den Süden des Landes.
Ihr Ablauf folgte dabei immer demselben Muster: Ausschaltung der politischen Führer und intellektuellen Elite, Hausdurchsuchungen und die Aufforderung an alle Armenier, ihre Waffen abzuliefern. Darauf folgte der Deportationsbefehl. Die Männer trieb man zusammen und schlachtete sie außerhalb der Wohnorte ab. Die umliegenden Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht. Frauen und Kinder wurden in bewachten Konvois deportiert - die schönsten Frauen und Mädchen an Muslime verkauft und versteigert. Raub, Mord und Vergewaltigung durch Kurden, Gendarmen und vor allem die Angehörigen von Mordbanden schutzlos preisgegeben, wurden die Deportierten über Nebenwege abseits der Hauptstraßen nach Mesopotamien getrieben. Wasser- und Nahrungsmangel taten das Übrige. Überlebende Zeugen berichteten, dass die Hauptrouten der Deportation von Leichen übersät waren.
Aleppo in Nordsyrien war ein zentraler Durchgangsort. Diejenigen, die nackt, zerlumpt und ausgehungert nach Monaten dort ankamen, glichen lebenden Leichen. Zusammen mit den per Bahn abtransportierten Deportierten der westlichen Provinzen wurden sie in außerhalb der Stadt gelegene Lager gepfercht, ehe man sie weitertrieb. Endstation war Deir-es-Zor in der mesopotamischen Wüste.
Anfang 1917 hatten die Jungtürken auf diese Weise den Großteil der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reiches ausgerottet. Nach Schätzungen der deutschen Botschaft in Konstantinopel vom Herbst 1916 fanden hierbei insgesamt 1,5 Millionen Armenier den Tod. Nur die Armenier von Smyrna und Konstantionpel entgingen der Deportation. Am 1. Januar 1917 annullierte die Osmanische Regierung den Berliner Vertrag und seinen Artikel 61, der keinerlei Bedeutung mehr habe, weil das armenische Volk nicht mehr existiere.
Anmerkungen
1) Trotzki, Die Zersetzung der Türkei und die armenische Frage, in Leo Trotzki, Die Balkankriege 1912-13S, S. 267-277, Zitat S.275.
2) Laut Udo Steinbach, Die Türkei im 20. Jahrhundert, S. 121 verloren allein während des Ersten Weltkriegs in Anatolien 2,5 Millionen Muslime, 600.000 bis 800.000 Armenier und 300.000 Griechen das Leben. Die Bevölkerung sank um 20 Prozent.
3) Ausführlich dargestellt ist dies in Leo Trotzki, Die Balkankriege 1912-13, Anmerkung 92, S. 548 ff. Dieses Buch ist überhaupt eine wahre Fundgrube zum Verständnis der betreffenden Fragen. Ein Artikel, "Die Zersetzung der Türkei und die armenische Frage" (S. 267), befasst sich direkt mit dem hier behandelten Thema. Auch die umfangreichen Anmerkungen, die von engen Mitarbeitern und Gesinnungsfreunden Trotzkis erstellt wurden, enthalten zahlreiche wertvolle Hinweise.
4) "Die neue Türkei", in Die Balkankriege 1912-13, S. 28
5) Lenin, Staat und Revolution, Lenin/Werke, Bd. 25, 393-337, Zitat 429.
6) "Die neue Türkei", in Die Balkankriege 1912-13, S. 29
7) ebd. S. 30
8) ebd.
9) "Die neue Türkei", in Die Balkankriege 1912-13, S. 30
10) ebd. S. 30-31
11) Vergl. dazu Die Balkankriege 1912-13,Anmerkung 92, S. 548 ff.