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Cohn-Bendit greift Günter Grass wegen seiner Kritik am Afghanistankrieg an

Von Stefan Steinberg
18. Dezember 2001

Auf einer Konferenz zur Würdigung des Werks der Philosophin und Schriftstellerin Hannah Arendt Anfang des Monats in Berlin schlug der führende Grünenpolitiker Daniel Cohn-Bendit auf deutsche Intellektuelle ein, die sich gegen den Krieg unter Führung der Vereinigten Staaten in Afghanistan ausgesprochen haben. Er nahm sich besonders den Schriftsteller und Nobelpreisträger Günter Grass vor, den Autor der Blechtrommel. Cohn-Bendit verglich die Position von Grass und anderen mit der Haltung, die Großbritannien und Frankreich 1938 eingenommen hatten, d.h. mit der Appeasementpolitik gegenüber dem Faschismus.

Grass hat eine Reihe von Kommentaren veröffentlicht und Interviews gegeben, in denen er den Krieg der Bush-Regierung gegen Afghanistan kritisiert. Grass erklärte, dass "Rache" kein berechtigtes Motiv sei, um einen Krieg zu beginnen, und er wies auf den "religiös-fundamentalistischen Hintergrund" des amerikanischen Präsidenten hin. Der Krieg in Afghanistan gefährdet, nach Grass Ansicht, viele normale Afghanen, die mit dem Konflikt nichts zu tun haben. Außerdem würde der Krieg nur noch mehr Hass schüren und zu weiteren terroristischen Aktionen führen. Er warnte zudem vor der Gefahr für die demokratischen Rechte, die von den jüngst von Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) durchgesetzten Sicherheitsgesetzen ausgeht.

In einem Interview mit der Märkischen Allgemeinen warf Schily Grass Antiamerikanismus vor und bezeichnete dessen Kritik an der amerikanischen Kriegsführung als eine "wirklich schlimme Entgleisung, die leider in gewissen intellektuellen Kreisen gegenwärtig zu hören ist".

Grass antwortete darauf mit einer Rede auf einem Treffen der Berliner Kunstakademie, in der er sein "großes Mitgefühl" mit den Opfern der Terroranschläge auf das World Trade Center betonte, aber hinzufügte, niemand könne von ihm verlangen, "mit der amerikanischen Regierung Mitgefühl zu haben". Präsident George W. Bush habe auf unverantwortliche Weise die Welt in Gut und Böse eingeteilt. Damit begebe er sich, wie alle, die so urteilten, auf das Niveau der Fundamentalisten. Schily antwortete, indem er Grass‘ Kommentare als "Torheit" bezeichnete.

Der führende Vertreter der grünen Partei im Europaparlament Daniel Cohn-Bendit, einer der engsten Vertrauten des deutschen Außenministers Joschka Fischer (ebenfalls Mitglied der Grünen), hat sich in die Auseinandersetzung eingemischt. Er stellte sich natürlich auf die Seite Schilys, der selbst ein Gründungsmitglied der Grünen war, bis er zur Sozialdemokratischen Partei überwechselte.

Cohn-Bendit wurde erstmals bekannt durch seine führende Rolle in der Pariser Studentenrevolte im Mai/Juni 1968. Als Veteran der radikalen Studentenpolitik schrieb er im reifen Alter von 23 Jahren das Buch Linksradikalismus - Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus, das von seinen Erfahrungen handelt, die er in den Ereignissen von 1968 gemacht hat. In seinem Buch beschreibt er die katastrophale und verräterische Politik der Kommunistischen Partei Frankreichs, macht aber gleichzeitig deutlich, dass seine Version des "Linksradikalismus" jede Art des wirklichen Sozialismus ausschließt. In Linksradikalismus - Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus prügelt Cohn-Bendit auch auf die Russische Revolution und Lenins bolschewistische Partei ein - und erklärt zu Unrecht, dass letzterer die Verantwortung für den Stalinismus trage: "In unseren Augen besteht zwischen bolschewistischer Ideologie und stalinistischer Bürokratie kein Unterschied" (S: 260).

Selbst 1968, als sein Buch erschien, wandte sich Cohn-Bendit gegen die revolutionäre Bedeutung von Leo Trotzkis gegen die stalinistische Bürokratie gerichteten Kampf für einen wirklichen Sozialismus. Er schrieb: "Im Gegensatz zur Geschichtsdarstellung Trotzkis müssen wir festhalten, dass die Russische Revolution nicht durch einzelne Ereignisse von 1927, 1923 oder 1920 entartet ist, sondern schon seit 1918 und unter der Führung Lenins und Trotzkis. Weil Trotzki der Organisator dieser Entartung war, hat er sie niemals verstehen oder ihren Beginn datieren können." (S. 263)

Cohn-Bendits Suche nach einer "linken Alternative" führte ihn nach Frankfurt, wo er zusammen mit Fischer eine Studentengruppe namens "Revolutionärer Kampf" gründete. Beide Männer widmeten sich der Sponti -Politik (abgeleitet vom Wort "spontan"). Während sie eklektisch Bestandteile des Anarchismus und Maoismus übernahmen, favorisierte die Gruppe eine "Politik aus dem Bauch heraus" und stand weiterreichenden theoretischen Überlegungen feindlich gegenüber.

Da sie die Arbeiterklasse nicht als Kraft für gesellschaftliche Veränderung und den Klassenkampf nicht als Grundlage für ein Verständnis der Gesellschaft anerkannten, wetterten die Anhänger des "Revolutionären Kampfes" vehement gegen oberflächliche Aspekte der kapitalistischen Gesellschaft wie ein gereiztes Kind, das gegen die Eltern aufbegehrt. Die Hauptaktivität der Gruppe bestand darin, leerstehende Häuser zu besetzen, die sie dann in Straßenschlachten gegen die Polizei verteidigten.

Als führender Sponti war Cohn-Bendit, der in Paris bereits zum Liebling der Medien geworden war, für den jüngeren Joschka Fischer so etwas wie ein geistiger Patenonkel. Die Fischer-Biografin Sibylle Krause-Burger beschreibt dieses Verhältnis folgendermaßen: "Den Kleinbürgersohn Fischer faszinierte nicht zuletzt das Großbürgerliche an Cohn-Bendit, dessen Sinn für eine gute Küche, für französisches Savoir-vivre, die Erfahrung von Welt... So zu leben wie Dany lebte, das bedeutete für Joschka also in einem noch viel weiter gefassten Rahmen die Überwindung seiner Herkunft. Das Ausbrechen wurde abermals geadelt."

Nachdem er eine Weile in einem alternativen Kindergarten und im Karl-Marx-Buchladen in Frankfurt gearbeitet hatte, schloss sich Cohn-Bendit, der von seinen Versuchen zur Entwicklung einer neuen Lebensart im "Revolutionären Kampf" offensichtlich enttäuscht war, 1984 den Grünen an.

Cohn-Bendits Unterstützung für imperialistische Kriege ist nicht neu. Er war einer der Ersten unter den deutschen Grünen, der sich dafür einsetzte, die traditionelle Bindung der Organisation an den Pazifismus über Bord zu werfen. Bereits im Juli 1992 forderte er die Entsendung einer Militärtruppe nach Bosnien, um gegen die Serben zu kämpfen, und unterstützte in vollem Umfang die erste Intervention von deutschen Soldaten in einem europäischen Konflikt seit dem Zweiten Weltkrieg.

Seitdem hat Cohn-Bendit seinen Platz im bellizistischen Flügel der Grünen gefunden, eine führende Rolle bei der Neuorientierung der Partei gespielt und sich als Vorkämpfer bei ihrer Unterstützung des imperialistischen Militarismus profiliert. Cohn-Bendit argumentiert ähnlich wie Fischer und beschwört regelmäßig das Gespenst des Faschismus und die Verbrechen von Auschwitz, um für eine umfassende Militärintervention zu werben. In einer Rede auf der Hannah-Arendt-Konferenz im Jahre 1995, zu einer Zeit als die meisten deutschen Politiker sich für ein begrenztes und kurzes Militärengagement in Jugoslawien aussprachen, plädierte Cohn-Bendit für eine Stationierung von Soldaten in Bosnien über eine Zeitspanne von "10, 20, 30 Jahren".

In Bezug auf den Krieg unter US-Führung in Afghanistan hat Cohn-Bendit seine Ansichten in der Taz deutlich gemacht. Er erklärte, er bevorzuge eine erweiterte Militäroperation unter Führung der Vereinten Nationen, um die "faschistoide, frauenfeindliche Taliban-Regierung" abzusetzen, wobei der "Befreiungskampf der afghanischen Opposition mit Flugzeugen, Waffen und Soldaten" unterstützt werden solle.

Auf dem jüngsten Parteitag der Grünen, der den Krieg in Afghanistan mit großer Mehrheit unterstützt hat, schaffte es Cohn-Bendit sogar noch weiter rechts zu stehen als die Parteiführung. Zusammen mit Ralf Fücks brachte er einen Antrag ein, der noch viel weiter ging als das, was Fischer und die Mehrheit der grünen Parlamentsfraktion befürwortete. Um eine Spaltung mit der kleiner werdenden Pazifistenfraktion in der Partei zu vermeiden, war Fischer gezwungen, sich gegen den Antrag von Cohn-Bendit und Fücks zu stellen, in dem die uneingeschränkte Unterstützung für die Militärinterventionen gefordert wurde.

Cohn-Bendits Eintreten für militärische Interventionen scheint allerdings kein Hindernis für seine Teilnahme an der Anti-Globalisierungsbewegung und der angeblich pazifistischen Organisation Attac zu sein. Seit vier Jahren ist er Mitglied von Attac und hat auf einer Reihe von Veranstaltungen und Konferenzen dieser Organisation gesprochen.

Aus dieser kurzen Skizze des Werdegangs von Daniel Cohn-Bendit sollte klar hervorgegangen sein, dass wir es mit einem Mann zu tun haben, der der historischen Wahrheit oder der Entwicklung einer fundierten Argumentation kaum Beachtung schenkt. Seine Behauptung, dass die Kritik deutscher Intellektueller am derzeitigen Krieg in Afghanistan gleichzusetzen sei mit der Haltung von Großbritannien und Frankreich im Jahre 1938, ist einfach absurd. Obwohl ihre politischen Einwände beschränkt sind, sind solche Leute wie Grass doch ernsthaft besorgt über die Kriegstreiberei und die Einschränkung demokratischer Rechte in Amerika wie in Deutschland, einem Land, das die Hauptverantwortung für zwei Weltkriege und den Aufstieg des Faschismus im 20. Jahrhundert trägt.

Cohn-Bendits Beweggrund, das Gespenst der Appeasementpolitik zu beschwören, entspringt einem vollkommen entgegengesetzten Standpunkt. Er redet demagogisch von Faschismus und "Totalitarismus", um leicht zu beeinflussende kleinbürgerliche Schichten zur Unterstützung neuer Kriege und Angriffe auf demokratische Rechte zu treiben und es dem deutschen Imperialismus zu ermöglichen, seine eigenen Interessen in Europa und auf Weltebene stärker vertreten zu können. Er stellt sich gern als guten Europäer dar, aber es wäre richtiger, ihn als Eurochauvinisten zu bezeichnen. Seine Unterstützung für den derzeitigen Krieg unter amerikanischer Führung rührt aus der Erkenntnis, dass die Verfolgung deutscher Interessen (vor allem jener in Europa) angesichts der derzeitigen militärischen und wirtschaftlichen Überlegenheit Amerikas einstweilen nur unter den Fittichen Washingtons möglich ist. Er macht allerdings auch deutlich, dass die langfristigen Interessen des deutschen und europäischen Imperialismus denen der Vereinigten Staaten diametral entgegengesetzt sind.

In einem Interview, das er kürzlich der Taz gab und das die Überschrift "Mit einer neuen EU gegen die USA" trug, skizzierte Cohn-Bendit seine eigenen Sicht der europäischen Entwicklungen: "Dieses Europa könnte eine Alternative zu den USA sein. Im Grunde genommen ist das neoliberale Projekt geschichtlich durch die USA vertreten, mit einem trojanischen Pferd in der EU, das ist England. Wir müssen die Institutionen so stärken, damit wir mit diesem trojanischen Pferd fertig werden können und uns gleichzeitig als Gegengewicht zu Amerika definieren."

Auf eine Frage des Taz -Interviewers erklärte er, was unter einem "guten" Europäer und einer Kritik an der Globalisierung versteht: "Er muss ein radikaler Europäer sein. Ich will, dass wir uns als Europäer politisch und kulturell auch als Gegenmacht zu den USA verstehen."

In einem Interview mit dem Spiegel enthüllte Cohn-Bendit, dass sein Modell von Europa und der Welt eines ist, in dem deutsche Interessen die entscheidende Rolle spielen. Er sagte, nachdem die deutsche Rolle auf dem Balkan und auch in Nahost anerkannt worden sei, müsse sich die deutsche Außenpolitik nun der Herausforderung stellen, "die Globalisierung zu gestalten."

Günter Grass hat in Bezug auf die Frage des deutschen Militarismus eine uneinheitliche Vergangenheit. 1995 unterstützte er die Intervention deutscher Soldaten auf dem Balkan. Nach seinen jüngsten kritischen Bemerkungen zum Afghanistankrieg wurde Grass zusammen mit ein paar prominenten Intellektuellen zum Abendessen mit Kanzler Gerhard Schröder geladen. Seither hat Grass zwar seine Kritik am Krieg beibehalten, aber gleichzeitig in einem Kommentar in der Zeit seine Loyalität zur SPD bekräftigt. Dies ist Cohn-Bendit nicht genug. Mit seiner wilden Attacke auf Grass versucht er nicht nur bestimmte Intellektuelle einzuschüchtern, die Zweifel am derzeitigen Kriegsverlauf äußern, sondern er will auch einer weitverbreiteten Opposition in der Bevölkerung zuvorkommen.

Aufgrund der Möglichkeit, an der Großmachtpolitik teilzuhaben, und als Vertreter einer bestimmten Sicht grüner Parteipolitiker mit Hang zu hysterischer Demagogie und unberechenbarem Opportunismus hat Cohn-Bendit seine "jugendlichen Differenzen" schon lange abgelegt und sich mit seinen Eltern versöhnt. Nachdem er seine Kindergartenkleidung und seine Sponti-Politik weggeworfen hat, legt er nun die Tracht eines brutalen preußischen Militärs an.

Siehe auch:
Artikel zum Krieg gegen Afghanistan